Plastikmüll auf offener See bildet die Heimat für eine neue Form von Lebensgemeinschaften, die man hier eigentlich nicht vermuten würde: Auf dem Kunststoff-Treibgut gedeihen neben verschiedenen Meeresspezies auch Küstenarten, die sich sogar fortpflanzen und so über Jahre überleben können.
Eine Studie im Fachblatt Nature Ecology & Evolution zeichnet nun ein genaueres Bild von der Zusammensetzung dieser Gemeinschaften. Die Forscherinnen fischten über hundert Plastikteile aus einem Müllstrudel im Pazifischen Ozean. Solche Müllstrudel oder Plastikwirbel im offenen Meer entstehen, wenn Oberflächenströmungen die Plastikverschmutzung von den Küsten in Regionen treiben, in denen rotierende Strömungen die schwimmenden Objekte einfangen.
In der Arktis liegt Müll aus aller Welt
Weltweit gibt es mindestens fünf solcher mit Plastik verseuchter Wirbel. Der ausgedehnteste ist der Nordpazifikwirbel zwischen Hawaii und Kalifornien, der auch als Großer Pazifischer Müllstrudel bekannt ist. Auf einer Fläche, die mehr als viermal so groß wie Deutschland ist, sollen einer 2018 veröffentlichten Studie zufolge knapp 80.000 Tonnen Plastik treiben.
Tsunami in Japan 2011 spülte Plastiktrümmer an die Küsten Nordamerikas
Meeresbiologin Linsey Haram vom US-amerikanischen Smithsonian Environmental Research Center (SERC) zeigte schon 2021, dass dieser Plastikmüll überraschende Bewohner beherbergt: So fand die Wissenschaftlerin auf den Kunststoffteilen Krebse, Muscheln und andere Tiere sowie Pflanzen, die eigentlich nur in Küstengebieten vorkommen. Solche Lebewesen finden zwar auch auf natürlichem Treibgut den Weg ins offene Meer – solche Flöße lösen sich anders als Kunststoff allerdings relativ schnell auf oder werden von Meerestieren gefressen, weswegen die Küstenbewohner nur selten die hohe See überqueren.
Als ein Ausnahmeereignis wirkte hier der verheerende Tsunami, der Japan im März 2011 traf: In den sechs Jahren danach wurden Plastiktrümmer an die Küsten Nordamerikas und Hawaiis gespült, auf denen sich über 380 lebende japanische Küstenspezies tummelten. Haram führte nun zwischen November 2018 und Januar 2019 eine erneute Expedition mit dem Ocean Voyages Institute durch, einer gemeinnützigen Organisation, die auf Segelexpeditionen Plastikmüll einsammelt. In deren Verlauf fischte das Team schwimmende Kunststoffstücke aus dem Nordpazifikwirbel, darunter Seile, Kanister, Flaschen, Zahnbürsten und Netze.
Die Analyse des Mülls ergab, dass sich auf über 70 Prozent davon Arten fanden, die eigentlich Küstenregionen bewohnen, unter ihnen viele Moostierchen (Bryozoa), Nesseltiere (Cnidaria), zwei Muschelarten (Bivalvia) und eine Vielzahl unterschiedlicher Seeanemonen-Arten (Actiniaria). Insgesamt identifizierten die Forschenden 484 wirbellose Meeresorganismen auf dem Plastik-Treibgut. Die Zahl der an der Küste lebenden Arten wie Krebstiere und Mollusken, die auf dem Plastik gefunden wurden, war mehr als dreimal so hoch wie die der pelagischen Arten, die normalerweise im offenen Meer leben.
Über Kunststoffe können sich Populationen auf den offenen Ozean ausdehnen
Zudem fanden die Studienautorinnen sowohl bei den Küsten- als auch den Hochseearten Hinweise auf sexuelle Fortpflanzung, so bei Hydrozoen (Hydrozoa), die wie Quallen und Korallen zum Stamm der Nesseltiere gehören, und bei Krebstierarten (Crustacea). Noch dazu würden sich viele Küstenarten ungeschlechtlich vermehren, was ein Überleben auf hoher See erleichtern könnte. Für die Wissenschaftlerinnen entstehen so „neopelagische“ Lebensgemeinschaften, eine Wortschöpfung, bei der „neo“ für „neu“ und „pelagisch“ für den offenen Ozean im Gegensatz zur Küste steht.
Sie fassen zusammen: „Küstenarten mit einer Reihe von biologischen Merkmalen können im offenen Ozean überleben, sich fortpflanzen und komplexe Populations- und Gemeinschaftsstrukturen bilden.“Entsprechend könnte die „Kunststoffsphäre“ diesen Arten neue Möglichkeiten bieten, ihre Populationen auf den offenen Ozean auszudehnen. Denkbar wären in der Folge grundlegende Veränderungen der ozeanischen Ökosystemprozesse. Wie diese Veränderungen aussehen könnten und ob sich ähnliche Beobachtungen auch in anderen Ozeanwirbel-Systemen anstellen lassen, müsse noch erforscht werden.