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Ukraine-Krieg: Leiter der UNO-Flüchtlingshilfe: "Wir sollten nicht nur über, sondern mit Geflüchteten sprechen"

Ukraine-Krieg

Leiter der UNO-Flüchtlingshilfe: "Wir sollten nicht nur über, sondern mit Geflüchteten sprechen"

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    Seit Ausbruch des Kriegs in der Ukraine haben 6,5 Millionen Menschen das Land verlassen.
    Seit Ausbruch des Kriegs in der Ukraine haben 6,5 Millionen Menschen das Land verlassen. Foto: Michael Matthey, dpa

    Herr Ruhenstroth-Bauer, seit Kriegsbeginn im Februar 2022 sind rund sechseinhalb Millionen Menschen aus der Ukraine geflohen. Wie viele Geflüchtete haben seitdem in Deutschland Schutz gesucht?
    PETER RUHENSTROTH-BAUER: In Deutschland leben momentan rund 1,1 Millionen registrierte Geflüchtete aus der Ukraine und damit mehr als in anderen EU-Ländern. Genaue Zahlen zu ermitteln ist aber schwierig, denn zum einen gibt es im Schengenraum weniger Grenzkontrollen als an den EU-Außengrenzen. Zum anderen pendeln viele Ukrainerinnen und Ukrainer in ihre Heimat, um Familienangehörige zu treffen oder um zu sehen, ob das Eigentum noch vorhanden ist.

    Ist das überhaupt so einfach möglich?
    RUHENSTROTH-BAUER: Die Situation in der Ukraine ist kritischer als vor einem Jahr, weil die russische Armee noch massiver angreift. Die wenigsten Geflüchteten können einfach zurückkehren, deshalb gibt es diese Pendelbewegungen. In Deutschland haben überwiegend Frauen und Kinder Schutz gefunden. Für sie steht die Aussicht auf eine Wiedervereinigung mit der Familie, allen voran mit den Vätern, an erster Stelle. Niemand flüchtet freiwillig. Einer aktuellen Umfrage des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) zufolge wollen mehr als zwei Drittel der Vertriebenen in ihre Heimat zurückkehren. Aber die Lage ist momentan sehr unsicher.

    Peter Ruhenstroth-Bauer ist der Nationale Direktor der UNO-Flüchtlingshilfe.
    Peter Ruhenstroth-Bauer ist der Nationale Direktor der UNO-Flüchtlingshilfe. Foto: Jim Rakete

    Waren Sie selbst in der Ukraine?
    RUHENSTROTH-BAUER: Ich war vergangenes Jahr in Lwiw im Westen des Landes, um zu sehen, wie die Arbeit der UNO-Flüchtlingshilfe und des UNHCR wirkt. Es gibt rund 3,7 Millionen Binnenvertriebene, also Menschen, die innerhalb des Landes geflohen sind. Auch sie müssen versorgt werden.

    Wie haben Sie die Lage vor Ort erlebt?
    RUHENSTROTH-BAUER: Die Situation war extrem bedrückend. Jeden Tag kamen Züge voll mit Menschen aus den unmittelbar umkämpften Gebieten im Osten des Landes. Zweimal gab es Luftalarm und wir mussten in den nächstgelegenen Schutzkeller laufen. Solche Geschichten kennen die meisten nur noch von ihren Eltern oder Großeltern. Die Bedrohung des Krieges selbst zu spüren, ist beklemmend. Auf der anderen Seite habe ich eine wunderbare ukrainische Zivilgesellschaft erlebt. Die Menschen unterstützen sich gegenseitig, nehmen Geflüchtete auf und versorgen sie so gut es geht. Das zivilgesellschaftliche Engagement im Land ist enorm.

    Gab es Momente, die Ihnen besonders in Erinnerung geblieben sind?
    RUHENSTROTH-BAUER: Ich habe ein Gemeindezentrum besucht, in dem Flüchtlingskinder betreut wurden. Im Stockwerk darüber hat eine Psychiaterin den Müttern erklärt, woran sie merken, ob ihre Kinder traumatisiert sind. Zu sehen, unter welchen Bedingungen die Menschen seit dem russischen Angriffskrieg in der Ukraine leben, ist erschütternd.

    Wie unterstützt die UNO-Flüchtlingshilfe das Land?
    RUHENSTROTH-BAUER: Wir sind Partner des UNHCR, das seit 1994 in der Ukraine aktiv ist und mehrere Vertretungen hat. Es gibt mehrere Depots, um Hilfsgüter zu lagern, zahlreiche Helferinnen und Helfer sind im Einsatz und arbeiten eng mit Nichtregierungsorganisationen zusammen, die direkte Hilfe leisten. Hunderte Freiwillige sind beispielsweise im Einsatz, um Menschen am Bahnhof zu empfangen, sie zu registrieren oder bei der Weiterfahrt zu helfen, wenn Geflüchtete mit dem Bus zu einer Übernachtungsstation gebracht werden müssen.

    Welche Hilfe wird am dringendsten benötigt?
    RUHENSTROTH-BAUER: Neben der medizinischen Versorgung von Verletzten geht es voranging darum, zerstörte Gebäude aufzubauen, damit die Menschen in ihren Wohnungen bleiben können. Der UNHCR hat da schon viel geleistet, bislang konnten rund 27.500 Häuser repariert werden. Eine weitere wichtige Maßnahme ist die Organisation der Winterhilfe. Seit September letzten Jahres konnten mehr als 900.000 vertriebene Menschen unterstützt werden, mit wintertauglichen Hilfsgütern wie Decken, Thermoskannen oder Kleidung. Aber auch Hilfe bei der Energieversorgung ist dringend notwendig.

    Wie wichtig ist die finanzielle Unterstützung?
    RUHENSTROTH-BAUER: Der UNHCR hat einen Bedarf von rund 990 Millionen US-Dollar errechnet. 600 Millionen sind für die direkte Arbeit in der Ukraine vorgesehen, der Rest wird für die Unterstützung der Geflüchteten in den Aufnahmeländern benötigt. Nicht nur Deutschland, auch in Polen, Tschechien, Rumänien, Bulgarien, Ungarn, der Republik Moldau oder in den baltischen Staaten müssen Menschen versorgt werden. Allerdings stehen von dem errechneten Budget bislang nur 13 Prozent zur Verfügung.

    Anfangs war die Solidarität in Deutschland groß. Wie viel ist davon noch übrig?
    RUHENSTROTH-BAUER: Die integrative Leistung der deutschen Zivilgesellschaft, von den Kommunen und Ländern ist immer noch enorm. Oft ist von Überforderung die Rede, doch die Menschen setzten sich weiterhin ein und engagieren sich in der Flüchtlingshilfe.

    Auf der anderen Seite gewinnt die AfD an Stimmen, auch weil sie gegen Geflüchtete hetzt. Welche Botschaft haben Sie an die Politik?
    RUHENSTROTH-BAUER: Die öffentliche Debatte über Flucht und Migration in Deutschland ist besorgniserregend, weil sie zunehmend mit populistischen Parolen und falschen Fakten geführt wird. Den Vertreterinnen und Vertretern der demokratischen Parteien kann ich nur dringend raten, mit Fakten über Migrationspolitik zu sprechen und auf der Grundlage von sachlichen Argumenten Lösungen zu erarbeiten, auch zum Schutz unserer Demokratie.

    Nach Kriegsausbruch ging es darum, schnell direkte Hilfe zu leisten und Hilfsgüter in die Ukraine zu liefern. Inwiefern hat sich der Bedarf verändert?
    RUHENSTROTH-BAUER: Viele Menschen, die in Deutschland angekommen sind, brauchen psychologische Hilfe, weil sie von der Fluchterfahrung traumatisiert sind. Eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung hat außerdem gezeigt, dass die Integration am Arbeitsmarkt ein wichtiger Punkt ist, solange der Krieg andauert. 23 Prozent der ukrainischen Kriegsflüchtlinge haben einen Arbeitsplatz in Deutschland, das sind deutlich weniger als in Polen oder Tschechien. Die Anerkennung von Abschlüssen dauert zu lange. Außerdem bedarf es an Sprachkursen, damit sich Geflüchtete überhaupt für Jobs qualifizieren können.

    Halten Sie die EU-Richtlinie zum vorübergehenden Schutz für Kriegsflüchtlinge für sinnvoll?
    RUHENSTROTH-BAUER: Das war auf jeden Fall eine gute Maßnahme, um den Menschen sofortigen Schutz jenseits des individuellen Asylrechts zu garantieren. Wenn sich das als Verfahren etablieren lässt, um im Notfall schnellen Schutz und Integration zu gewährleisten, wäre das ein guter Lernerfolg in Sachen Migrationspolitik.

    Wie wird sich die Lage in der Ukraine Ihrer Einschätzung nach entwickeln?
    RUHENSTROTH-BAUER: Das lässt sich nicht vorhersagen, aber der Krieg wird sicherlich nicht von heute auf morgen enden. Es wird weiterhin enorme Unterstützung erforderlich sein. Wenn ich höre, dass bislang nur 13 Prozent der erforderlichen 990 Millionen US-Dollar für das Land und die Nachbarländer erbracht wurden, lässt das befürchten, dass wir auf einen falschen Weg geraten. Ich hoffe, dass dieser Krieg nicht auch irgendwann zu den vergessenen Krisen wird.

    Rund 114 Millionen Menschen sind weltweit auf der Flucht. Inwieweit hat der Ukraine-Krieg die Situation in anderen Ländern verschärft?
    RUHENSTROTH-BAUER: Rund zehn Millionen Menschen sind unmittelbar wegen dieses Kriegs auf der Flucht. Das ist die größte Flüchtlingskrise in Europa seit Ende des Zweiten Weltkrieges. Das hat massive Auswirkungen auf andere Länder und Krisenherde. Ein erheblicher Teil an finanzieller Unterstützung ist in den letzten zwei Jahren in die Ukraine geflossen. Der Krieg ist direkt vor der eigenen Haustür, da sind viele Unternehmen und Privatpersonen bereit zu helfen. Das ist enorm wichtig, hat aber auch zur Folge, dass in anderen Kriegsgebieten der Welt weniger Mittel zur Verfügung stehen. Auch in der medialen und damit der öffentlichen Aufmerksamkeit steht die Ukraine im Fokus. Über den Krieg im Sudan, aus dem acht Millionen Menschen geflohen sind, wird wenig berichtet. Auch über die Lage in Venezuela, dem Kongo oder Jemen hört man wenig. An vielen Orten der Welt gibt es vergessene Krisen, die in den Schatten geraten.

    Wie bewahrt man sich angesichts des Leids so vieler Menschen einen positiven Blick auf die Welt?
    RUHENSTROTH-BAUER: Indem man nicht nur über, sondern mit Geflüchteten spricht. Diese Menschen haben Katastrophales erlebt, teilweise alles verloren und geben trotzdem nicht auf. Motivierend ist auch die Tatsache, dass jeder etwas zur Verbesserung der Situation beitragen kann. Das Wichtigste ist, dass wir nicht vergessen, dass es Menschen gibt, die auf unsere Hilfe angewiesen sind.

    Zur Person

    Peter Ruhenstroth-Bauer ist seit 2017 Geschäftsführer der UNO-Flüchtlingshilfe in Bonn. Der Jurist war als Lehrbeauftragter an der Hochschule Magdeburg und der Universität Potsdam tätig. Er leitet eine Anwaltskanzlei, ist Mitglied der SPD und seit 2023 auch Vorsitzender des Vereins "Gesicht Zeigen! Für ein weltoffenes Deutschland", der sich gegen Rechtsextremismus einsetzt.

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