6.17 Uhr. Hellgrau liegt die Dämmerung über der Gunzesrieder Säge. Noch deutet nichts auf einen erneut heißen, strahlend schönen Tag hin. Müde kräht ein einzelner Hahn. Auf dem Gerstenbrändle weckt er niemanden mehr. Längst steht Anton im Stall, Georg in der Sennküche und Florian im Käsekeller, um den Bergkäse mit Salzlake zu bürsteln. Für sie hat der Tag um 4.15 Uhr begonnen.
Die Kühe müssen gemolken und versorgt werden, der Rahm von der Milch vom Vorabend vorsichtig für die selbstgemachte Butter abgeschöpft und alles für die täglichen zwei Laibe Bergkäse vorbereitet werden. Viele Worte werden nicht gemacht. Schon gar nicht um diese Uhrzeit. Morgen-Routine. Nur Florian gönnt sich einige Schluck Kaffee neben der Arbeit.
4.15 Uhr! Ich habe mich ehrlich gesagt noch einmal umgedreht. Städterin halt! Meine feine Ausrede: Ein fragenstellendes Greenhorn in aller Früh hätte die drei bestimmt nicht begeistert. Als ich um 6.30 Uhr in die Küche des Gerstenbrändle komme, empfängt mich Juniorchefin Alex rustikal: „Hoi, hasch verschlafen?“ Guten Morgen, Alex! Wenn das mit dem Gold in der Morgenstund irgendwo stimmt, dann hier. Bei einer Tasse Kaffee erstmal aufwachen und Zeitung lesen, hahaha …
Auf der Alpe leben 27 Kühe, ein Kälbchen, 17 Schweine und eine Katze
Sommer auf einer Alpe. Ein Sehnsuchtsort für gestresste Stadtmenschen. Raufgehen, um runterzukommen, so stellt man sich das gerne vor. Stille statt Stress, Kühe statt Krawatte. Kein Stau, keine Konferenzen. Die Berge ein großer Escape-Room vor der Hektik unserer Zeit. Alles richtig. Und doch irgendwie anders. Deswegen entstehen manchmal Missverständnisse zwischen den Stadt- und den Bergmenschen. Aber dazu später.
Zwei Tage darf ich für diese Geschichte auf dem Gerstenbrändle mitarbeiten, ein Gefühl für so einen Sommer in den Bergen bekommen. Wie gut, dass ich die Ärmel schon mal hochgekrempelt habe.
Das Gerstenbrändle. Eine Alpe mit dunkel geschindelten Hauswänden, grünen Fensterläden und Geranien vor den Fenstern. Ein Allgäuer Idyll. Hier leben im Sommer Eva und Hans Endreß, die die Sennalpe vor gut 30 Jahren aus dem Dornröschenschlaf geweckt und die Bewirtung aufgebaut haben. Sie sind die Seniorchefs. Dann Georg und Alex, die gerade offiziell den Hof übernommen haben, mit ihren Kindern Felix (13), Tobi (11) und Lisa (7).
Und dann besagte 27 Kühe, zur Zeit ein Kälbchen, 17 Schweine, eine Katze. Dazu kommen Florian und Anton, Georgs Bruder und Schwager, die mithelfen, weil Georg nach einen schweren Skiunfall Unterstützung braucht. Ein Familienbetrieb, der zusammenhält. Und das Gerstenbrändle Familienstolz in der siebten Generation.
Der Morgen also, das ist mir schlagartig klar geworden, ist hier eine zackige Angelegenheit. Wie auf einer Kommandobrücke steht jeder an seinem Posten. Die Küche ist ohnehin wie eine Werkstatt eingerichtet. Während Alex ihre täglichen sechs bis acht Kuchen backt – kein Stress –, steht Hans – ohne Krawatte – im Keller an der Schneidemaschine und bereitet Käse, Schinken und Wurst für das Frühstück der Hausgäste und die Brotzeitbrettle vor.
Das dauert nicht selten zwei Stunden lang. 125 Käsescheiben vom Bergkäse, 125 Käsescheiben von Tilsiter, dann Schinken, Leberkäse für den Wurstsalat, Salami. „Das hat tatsächlich etwas Meditatives“, sagt Hans und lächelt auf seine schelmische Art. Damit nichts schlecht wird, kommt alles portioniert in Vakuum-Verpackungen. Teil 2 der Meditationsübung.
Ich schnipple derweil in der Küche für die Dekoration der Brotzeitplatten. Tomaten, Gurken und dann ab damit in Blechboxen, danach einen Schwung rote Zwiebeln für den Wurstsalat über den Hobel jagen. „Pass bloß auf deine Finger auf“, mahnt Alex. „Unsere Schweinchen lieben Zwiebelreste, keine Fingerkuppen.“ Guter Tipp! Schon ist die junge Bäuerin in den Keller abgerauscht zu den Backöfen, mit denen sie sechs Kuchen auf einmal backen kann. Und Eva ist derweil in Haus und Hof unterwegs.
Fernglasblick zum Besucherparkplatz: Wie viele werden heute kommen?
Was für eine eng getaktete, verschachtelt ineinandergreifende Betriebsamkeit. Auch das gemeinsame Frühstück in der Gaststube findet statt, nachdem fürs Käsemachen alles vorbereitet wurde und die Milch im Kupferkessel langsam erwärmt wird. Jetzt ist Zeit für die ganze Familie zum Zusammensitzen. Vielleicht wird es heute die einzige Gelegenheit sein, wer weiß? „Unsere Tage sind nicht planbar“, sagt Eva.
Manchmal schaut Hans mit dem Fernglas zum großen Besucherparkplatz, um zu sehen, wie viel Leute im Tal unterwegs sind. Dann können sie auf dem Gerstenbrändle ungefähr abschätzen, was im Lauf des Tages an Gästen auf sie zukommt. Aber jetzt nutzen Lisa und Tobi erst mal die Gelegenheit, sie zum Kuscheln mit ihrem Papa und er, Tobi, zum Quatschmachen mit seinem Onkel Florian. Und ich komme endlich zum Fragenstellen.
Wie ist es so, das Leben auf der Alpe? „Du musst schon anpacken können“, sagt die resolute Alex, blonde lange Haare, nettes Lächeln, rotes T-Shirt. Schön sei es aber, dass man alles mit der Familie zusammen machen könne. „Ich musste nie ein Kind in eine Kita geben.“ Alex, die Hotelkauffrau, hätte nie gedacht, dass aus ihr mal eine Bäuerin werden würde. Jetzt ist sie mit Herzblut dabei. Und nur so gehe es, sonst funktioniere es nicht, sagt Georg. Nie habe er etwas anderes gewollt als den Hof zu übernehmen.
Schon als Kind habe er immer mitgeholfen. Aber man müsse schon Idealist sein als Bauer in den Bergen. „Die Zeit darfst du nicht rechnen.“ Vierzehn- bis Sechzehn-Stunden-Tage seien es hier oft. Und zwar nicht als Ausnahme sondern täglich. Den ganzen Sommer über. Und dann sagt Georg nach einem Schluck Kaffee noch Großes: „Ich bin ein glücklicher Mensch.“ Bergglück kommt manchmal ganz schlicht am Frühstückstisch daher – und ganz anders, als man es sich als Städterin oder Städter denken würde.
Schon werden die Tassen wieder zur Seite gestellt. „Tobi, gib a mal dem Kessel Vollgas“, sagt Georg. Zeit, den Käse zu machen. Im großen Kupferkessel wird in der Sennküche die Milch von heute Morgen und vom Vorabend auf 52 Grad erhitzt. Ungefähr 400 Liter sind es jeden Tag. Florian, der Molkereimeister, und Georg arbeiten wie ein engverzahntes Uhrwerk zusammen. Ich stehe im Türrahmen der Sennküche, schau zu und spüre, dass ich jetzt nicht stören sollte.
Tilsiter, Romadur und Bergkäse werden auf dem Gerstenbrändle hergestellt
Schon in der Früh kam eine Molkekultur in die Milch, später der Lab. Als die Milch dicker wurde kam die sogenannte Harfe zum Einsatz, ein Werkzeug, das entfernt an das Musikinstrument erinnert. Damit wird die Milch geschnitten, bis sich reiskorngroßer Griesel bildet. Um den geht’s letztlich beim Käsemachen. Wenn die richtige Temperatur erreicht ist, kommt kaltes Wasser in die Masse. Dann schöpfen die Brüder mit einem Käsetuch den Griesel ab und drücken diesen samt Tuch in eine runde Form. Das wird der erste Laib.
Dasselbe noch mal: der zweite Laib. Brett drauf, Druck drauf, damit die Molke abfließen kann und immer wieder wenden. „Käsemachen ist Gefühlssache“, wird Hans später sagen. Deswegen schmecke auf jeder Sennalpe der Käse anders. Andere Luft. Andere Wiesen. Andere Sennerinnen und Senner. Anderes Gefühl.
Tilsiter, Romadur und Bergkäse machen sie auf dem Gerstenbrändle. Etwa jeden zweiten Tag wird gebuttert. Auf den Allgäuer Alpen wird ausschließlich Bergkäse gemacht. Nie Emmentaler, denn der müsse bei der Reifung schwitzen, braucht einen geheizten Keller mit 26 bis 28 Grad, erklärt Hans. Das gibt es auf einer traditionellen Allgäuer Alpe nicht. Wegen der Wärme seien auch die Löcher des Emmentalers größer als beim Bergkäse. Die eingeschlossene Luft dehnt sich durch die Wärme weiter aus.
Ach, die Löcher im Käse! Immer wieder sind sie Thema auf dem Gerstenbrändle. Denn mit denen ist Hans bei seinem Bergkäse selten zufrieden. „Unserer hat zu wenige“, sagt Hans, der es gerne perfekter hätte. Mit Florian, dem Sohn vom Fach, habe er schon vieles ausprobiert, der Ursache des Löchermangels sind sie dennoch in dreißig Jahren nicht auf die Spur gekommen.
Die Crux dabei: „Wenn du Käse machst, weißt du frühestens in vier Monaten, ob du es richtig gemacht hast oder falsch.“ Denn solange muss der Käse mindestens reifen. Idealerweise hat der Bergkäse erbsengroße Löcher. Vorher mal anschneiden und nach dem Löchern schauen, das wäre natürlich verrückt. Warumauf dem Gerstenbrändle die Löcher aus dem Käse fliegen, bleibt also ein Mysterium. Auf einer „befreundeten“ Alpe haben sie dagegen zu viele Löcher im Käse. Noch so ein Rätsel.
Seit 1860 gibt es das Gerstenbrändle mit Blick bis zum Grünten
Ich habe mich mittlerweile in der Küche durch verschiedene Positionen durchgearbeitet. Die Spülmaschine ein- und ausgeräumt, Besteck in Servietten gewickelt, Blumengießen draußen an den Tischen und frische Butter aus der großen Schüssel mit großen und kleinen Modeln portionieren. Nun hat mir Alex einen Eimer voller kleiner, grüner Äpfel vor die Nase gestellt. „Kannst du die schälen?“ Den ganzen Eimer?
Normalerweise kauft Alex die Äpfel geschält. Eine Zeitfrage! Aber diese sind ein Geschenk von Stammkunden. Und da ich schon mal da sei, meint Alex … Also setze ich mich an den Küchentisch im Eck und füge mich in mein Apfelschicksal. Schälen, vierteln, Kernhaus heraus, schälen, vierteln … Das kann ja dauern. Runterkommen in den Bergen. In den Land-Lust-Liebe-Leben-Heften sieht das anders aus. Dafür schenkt mir Eva Mitleid: „Das ist ja eine Sträflingsarbeit.“ Finde ich auch.
Langweilig wird’s dennoch nicht. Gerade rauscht Alex wieder in die Küche. „Heute ist’s so heiß, dass die Sahne verläuft, bis man am Tisch ist“, seufzt sie. Hans kontert mit Allgäuer Pragmatismus: „Da gibt’s zwei Möglichkeiten – keine Sahne oder schneller laufen.“ Hahaha! Meine Freude über Hans trockenen Humor hat ein Nachspiel. Schon ist die Fingerkuppe angesäbelt. Das scharfe Apfelmesser!
Da staunt sogar Alex: „Ja, was tust du denn? Jetzt hast einen Tag Ferien und bist schon verletzt!“ Ferien? Auch fünf Pflaster später schlägt mein persönlicher Alpsommer-Glücks-Seismograf nur ganz schwach aus. Apropos Ferien. Einmal im Leben wollte Hans unbedingt im Meer schwimmen. In der Türkei habe er dies „ausgiebig“ getan. Aber den ganzen Tag am Strand liegen? Ach nein, da arbeite er doch lieber.
Seit 1860 gibt es das Gerstenbrändle, so wie es heute über das Tal bis zum Grünten schaut. Der Name geht vermutlich auf den früheren Gerstenanbau im Allgäu zurück. Nach der Ernte seien die Felder brandgerodet worden, so die Erklärung eines Heimatforschers. Klar jedenfalls ist: Auf der Alpe wurde niemals Schnaps gebrannt. Brennrechte wie im Schwarzwald oder am Bodensee gibt es im Allgäu nicht, weil nie viel Obst verarbeitet werden musste.
Auf dem Gerstenbrändle spielt Tradition eine große Rolle. Das alte Schwarz-Weiß-Foto hängt nicht von ungefähr in der Gaststube neben der Sennküche, das Hans’ Großvater mit seiner zweiten Frau und sieben Kindern zeigt. „Ich habe mich immer als Verwalter angesehen, nie als Eigentümer“, sagt Hans. Wenn das hier nicht weitergehen würde, „dann müsste ich, glaube ich, wegziehen“.
Aber es geht weiter. Auch wenn eine Zeit lang viel auf dem Spiel stand. Hans und Eva haben viele alte Gebäude übernommen. Mussten Kredite aufnehmen, dass es weitergehen konnte. Die Schulden haben vor allem Eva schlaflose Nächte bereitet. Was, wenn der ganze Plan nicht aufgeht? Was, wenn keine Gäste kommen? Was, wenn der selbstgemachte Käse am Ende weggeworfen werden müsste, weil ihn keiner kauft?
1993 haben sie mit der Bewirtung begonnen und angefangen, ihre eigenen Lebensmittel zu verkaufen. Eva erinnert sich noch immer an den ersten Tag nach der Eröffnung. Zwei Leute seien gekommen und hätten je ein Brot mit Romadur bestellt. Aber die Zeiten sind besser geworden. Weil sich das Gerstenbrändle im Allgäu einen Namen gemacht hat, aber auch weil regionale Lebensmittel wieder mehr geschätzt würden. 1955, als Hans’ Vater noch den Hof führte, habe es für ein Kilo Käse eine Mark gegeben. Der Vater habe dann mit der Sennerei aufgehört.
Mittlerweile aber sei erkannt worden, dass man etwas für den Erhalt der Senn-Alpen tun müsse. Weil den nicht geschützten Begriff Bergkäse auch jeder Großbetrieb verwenden könne, gibt es nun das Gütezeichen Sennalpkäse. Diese Kriterien müssen unter anderem dafür erfüllt werden: Die Alpe muss über 1000 Höhenmeter liegen; nur natürliche Molkekulturen, dürfen verwendet werden; im Stall soll überwiegend Allgäuer Braunvieh stehen; und als Futter dürfen nur Gras und Heu verwendet werden. 39 Sennalpen gibt es nach Auskunft des Alpwirtschaftlichen Vereins noch im Allgäu.
Stress auf der Alpe: Ständig klingelt das Telefon wegen der Reservierungen
Längst ist der Mittag vorbeigezogen. Wer von der Familie Zeit hatte, hat sich schnell etwas zwischen die Zähne geschoben. Vor allem Tobi, Felix und Lisa finden es ausgesprochen praktisch, dass vor dem Küchenfenster quasi immer ein Kuchenbuffet aufgebaut ist. „Ich habe schon lange aufgegeben, mittags für die Familie zu kochen“, erzählt Eva. Das sei einfach nur stressig gewesen, weil doch immer Gäste gekommen seien, als das Essen gerade fertig war. Heute allerdings herrscht kein so großer Andrang wie an manch anderen Tagen. Oder während Corona, als die Ausflügler sich im Allgäu beinahe hochkant stapelten.
Beste Gelegenheit auf dem Gerstenbrändle, wo keine Zeit ungenutzt verstreicht, schon mal die Zwiebeln für den Kässpatzn-Abend am Freitag anzuschmelzen. Ohnehin klingelt ständig das Telefon wegen der Reservierungen. Und immer wieder schlendern Wanderer, Spaziergänger, Radler und Motorradfahrer, die ihre Vehikel unten abgestellt haben, den Kiesweg hinauf. Im Vergleich zu früher werde mittlerweile viel mehr Kuchen bestellt – vor allem Alex’ Himbeerschmand, ist hier der Renner. Hans ist überzeugt, dass dies an den vielen E-Bikern liege, die nun auch locker in der höher gelegenen Gunzesrieder Säge ankommen und selbst den letzten Anstieg zum Gerstenbrändle lässig lächelnd nehmen. Eine Klientel, die es vor einigen Jahren noch nicht gab.
Eine Wandergruppe aus Burgberg bricht gerade wieder auf. Seit 13 Jahren treffen sich die Seniorinnen einmal im Monat. Heute ist es den Damen zu heiß, aber etwas gemeinsam unternehmen wollten sie doch. Mit dem Bus sind sie in die Gunzesrieder Säge gefahren und dann das kurze Stück zu Fuß zum Gerstenbrändle gelaufen, um Sennkartoffeln und Wurstsalat zu essen. „Einkehren ist uns sehr wichtig“, sagt eine der gut gelaunten Damen. Und die ganz Truppe lacht.
Oder da sind die Nachbarinnen aus Obermaiselstein, die einen Geburtstagsausflug gemacht haben. Sogar die Allgäuerinnen genießen die Ruhe hier. „Diese Kuhglocken“ … Und dann Susi und Uwe aus Kornwestheim. Kaum habe ich ihnen ein alkoholfreies Weißbier und ein Wasser an den Tisch gebracht, sprudelt Susi schon los. Gerade noch rechtzeitig hätten sie sich eine Ferienwohnung in Altstetten gekauft, bevor die Preise im Allgäu „so saumäßig“ angezogen hätten.
Viele Stammgäste haben sie hier am Gerstenbrändle. Herbert aus Günzburg etwa, der gerade ein paar Tage mit seiner Frau und den Enkeln auf der Alpe verbringt. Seit über 50 Jahren kommt der Arzt in die Gunzesrieder Säge. Erst mit den Eltern, dann mit Kindern und nun mit den Enkeln. Eine zweite Heimat. Den Hans kenne er seit seiner Kindheit: „Wir haben manchen Streich als Buben ausgeheckt“, sagt Herbert, und dann lächeln beide wissend. Noch immer komme er mindestens einmal im Jahr. Und manchmal kehre er auch mit seiner 90-jährigen Mutter zurück. Sie sind mehr Freunde als Gäste.
Aber es gibt sie auch, diejenigen, über die Eva manchmal nur den Kopf schütteln kann, es werde halt so schnell geurteilt. Da war etwa die Frau, die Eva fragte, ob sie je in ihrem Leben unter Zeitdruck gearbeitet habe – darüber kann die Eva heute nur schmunzeln. Natürlich habe sie sich nichts anmerken lassen, „aber ich habe mein ganzes Leben unter Zeitdruck gearbeitet“. Der Hof, die vielen Bauarbeiten, das Sennen, die vier Kinder … Das sind sie dann, die Missverständnisse zwischen Stadt- und Bergmenschen. Aber mittlerweile wisse sie ja, dass viele denken, auf einer Alpe in den Bergen gehe es gemütlich zu.
Aber die Sorgen und Nöte bleiben auch hier nicht draußen. „Es gibt keine heile Welt – auch bei uns nicht“. Eva wiederum wundert sich, wie wenig Stadtmenschen oft über Lebensmittel und Landwirtschaft wissen. So ist das, wenn Lebenswelten aufeinanderstoßen. Manchmal allerdings geht mit Hans der Schelm durch. Wenn er mal wieder gefragt wird, was er denn im Winter so mache, rutscht’s ihm schon mal raus: „Da fliege ich in die Karibik. Und die Kühe nehme ich auch mit.“
Autorin Doris Wegner hat sich ihr Alpenglück hart erarbeitet
Gerade eben noch nett geplaudert, und schon wird’s doch stressig. Gegen 16 Uhr muss jongliert werden in der Küche des Gerstenbrändle. Hans springt mit ein, drapiert mit geübten Handgriffen Käsescheiben, Butterstückchen, Gürkchen, Tomate und ein Salzbrezelchen auf die Holzbretter. Arbeitet Bestellzettel für Bestellzettel ab.
Eva saust rein und raus, pinnt wieder einen Zettel auf den Nagel. Trägt die nächsten Brotzeitbrettchen zu den Tischen. So liebt es die Eva. Wenn es brummt, man alles wuppen muss, nicht zum Nachdenken kommt, sondern einfach macht – das ist ihr Ding. Und wenn dann am Abend noch nette Hausgäste auf den Holzbänken sitzen bleiben, setzt sie sich dazu.
Und ich? Ich setze mich auch hin nach diesem langen Tag – mit einem Weißbier auf eine Treppenstufe am Gerstenbrändle. Georg hat bis gerade eben noch im Stall gearbeitet, Hans in der Sennküche aufgeräumt und Alex surft noch immer mit dem Staubsauger durch die Gaststube. Um 19.30 Uhr hat der Tag auf dem Gerstenbrändle noch immer kein Ende.
Meine Bilanz als Ferienarbeiterin? Die lädierte Fingerkuppe – geschenkt. Aber der Blick auf den Grünten in der Ferne, das sanfte Bimmeln der Kuh-Schellen, diese Abendstille … Für mich ist das: Glück. Hart erarbeitet. Aber nicht von mir. Sondern von allen hier auf dem Gerstenbrändle.
Denn wie sollte ein Stadtmensch so schnell in diese andere Lebenswelt eintauchen? Ich hatte immer geahnt, dass das Leben auf einer Alpe mit Landwirtschaft vor allem sehr viel und auch sehr harte Arbeit ist. Jetzt weiß ich es aus eigener Erfahrung – oder eher Beobachtung. Ein bisschen zumindest. Morgen um 4.15 geht es hier wieder weiter. Der nächste Tag in dieser ganz normalen sommerlichen Arbeits-Endlosschleife auf einer Sennalpe. 4.15 Uhr, puh, so früh mag ich immer noch nicht aufstehen, Städterin halt. Und doch fahre ich irgendwie wehmütig hinunter ins Tal.