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So ungesund ist Sitzen wirklich

Stundenlanges Sitzen kann zu einem Rundrücken führen, der Schmerzen und Taubheitsgefühle verursacht.
Foto: Klaus-Dietmar Gabbert, dpa
Gesundheit

Ist Sitzen das neue Rauchen?

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    Und, sitzen Sie gut? Am Frühstückstisch, vor dem Computer, auf dem Sofa, im Zug? Ist ja auch bequem, Hintern schön gepolstert, Arme gestützt, Füße auf dem Boden und zwischendurch entspannt zurücklehnen. Ob beim Lesen, in der Arbeit, vor dem Fernseher, beim Essen, im Auto oder Kino, wir verbringen die meiste Zeit im Sitzen. 9,2 Stunden sind es am Werktag, wie eine Studie der Deutschen Krankenversicherung und der Sporthochschule Köln ergab. Junge Erwachsene und Akademikerinnen und Akademiker mit Bürojob hocken sogar mehr als zehn Stunden auf dem Stuhl. Zu viel, warnen Fachleute. Ab viereinhalb Stunden wird es kritisch, das Dauersitzen ist Gift für die Gesundheit, genauso schädlich wie Rauchen. Rauchen? Wirklich?

    Der Augsburger Arzt Martin Oswald lebt seit 25 Jahren ohne Stuhl

    Ab in die Hocke also und in die Praxis von Martin Oswald. Erster Stock, Jugendstilvilla in Augsburg, helle Räume, Fotos an der Wand und in der Ecke ein Stuhl. „Ein Notsitz, falls sich ältere Menschen setzen müssen“, sagt Oswald. „Aber eigentlich gehört der Stuhl ja nicht ins Leben der Menschen.“ Deshalb hat Oswald ihn verbannt, aus dem Wartezimmer und aus seinem Leben. Seit rund 25 Jahren sitzt der Arzt nicht mehr auf Stühlen, zumindest nicht wie andere Menschen.

    Im Restaurant speist er im Schneidersitz, im Kino kauert er auf den Treppen, im Zug auf dem Boden, in der Praxis kniet, hockt oder steht er. Denn der Stuhl ist Gift. Das sage er nicht, weil es gerade angesagt ist, sondern weil er es selbst erkannt hat. Damals, in den Neunzigerjahren, als er in Äthiopien unterwegs war, um den wahren Ursachen von Krampfadern auf die Spur zu kommen und dort dann auch gar keine Menschen fand, die darunter leiden. Weil sie ohne Stühle lebten, so seine Erklärung.

    Martin Oswald ist Chirurg und Proktologe, hat eine Praxis in Augsburg und sitzt seit 25 Jahren nicht mehr.
    Martin Oswald ist Chirurg und Proktologe, hat eine Praxis in Augsburg und sitzt seit 25 Jahren nicht mehr. Foto: Felicitas Lachmayr

    Oswald ist Chirurg, Phlebologe und Proktologe, sein Spezialgebiet sind Krampfadern und Hämorrhoiden. Traurig sei das, wenn Patienten mit Schmerzen zu ihm kommen. „Ich kann ihnen die Krampfadern wegoperieren, aber ich kann sie nicht zwingen, das Sitzen bleibenzulassen, dabei ist es das eigentliche Übel“, sagt er. Wobei, ein bisschen zwingt er sie doch, denn auf diesen einen Stuhl im Wartezimmer setzt sich niemand, wenn alle anderen stehen.

    Und den zweiten, den gelben Holzstuhl rechts, hat Oswald mit Stacheldraht umwickelt. Zur Abschreckung. An die Wand hat er außerdem Plakate geklebt, die vor den Folgen des Sitzens warnen. Krampfadern steht da, Thrombose, Arthrose, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Niereninsuffizienz, Prostatavergrößerung, Gallensteine, Blinddarmentzündung. Da fühlt sich das Hocken auf dem Teppich gleich besser an. Wissenschaftliche Studien oder Statistiken muss Oswald da gar nicht zurate ziehen, er vertraut auf seine Erfahrung und die sagt ihm: Sitzen ist ungesund. Und falsch liegt er damit nicht.

    Expertin sagt: „Wer ununterbrochen sitzt, gefährdet seine Gesundheit“

    All das kann man auch bei Carmen Jochem nachlesen. Sie hat das Buch „Sitzstreik - Tipps und Tricks gegen die Risiken und Nebenwirkungen des Sitzens“ geschrieben und forscht am Lehrstuhl für Planetary & Public Health der Universität Bayreuth. Also mal nachfragen, ist Sitzen wirklich so schlimm wie Rauchen? „Der Vergleich ist nur teilweise richtig, denn anders als Tabak macht Sitzen nicht abhängig, schadet niemand anderem und ist in kleinen Dosen ungefährlich“, sagt Jochem. Aber wer ununterbrochen sitzt, gefährdet seine Gesundheit, so die Expertin und schiebt ein paar Fakten hinterher.

    Carmen Jochem forscht am Lehrstuhl für Planetary & Public Health der Universität Bayreuth und hat das Buch „Sitzstreik - Tipps und Tricks gegen die Risiken und Nebenwirkungen des Sitzens“ geschrieben.
    Carmen Jochem forscht am Lehrstuhl für Planetary & Public Health der Universität Bayreuth und hat das Buch „Sitzstreik - Tipps und Tricks gegen die Risiken und Nebenwirkungen des Sitzens“ geschrieben. Foto: altrofoto.de

    Rückenschmerzen, Bandscheibenvorfall, Gelenkbeschwerden, alles erst der Anfang. Mit dem Dauersitzen steigt das Risiko für Bluthochdruck, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes Typ 2, Schlaganfall und Übergewicht. Der Alterungsprozess wird beschleunigt, die Psyche beeinträchtigt und die Lebenszeit verkürzt. Im Körper bilden sich entzündungsfördernde Substanzen, die zur Entstehung von Krebs beitragen. Studien zufolge erkranken Frauen, die viel sitzen, häufiger an Brustkrebs, Eierstockkrebs und Gebärmutterschleimhautkrebs. Bei Männern wird öfter Darmkrebs diagnostiziert. Darauf erst mal ein paar Kniebeugen und zurück in die Praxis von Martin Oswald.

    Schon verrückt, so ungesund das Sitzen und trotzdem sitzt alle Welt. Oswald nickt wohl wissend. „Sage ich schon seit Jahren, aber niemand will es hören.“ Wobei, ganz stimmt es ja nicht, nur ein kleiner Teil der Menschen ist von Stühlen besessen. In Ländern wie Indien oder Japan, in Zentralasien und Teilen Afrikas findet das Leben größtenteils auf dem Boden statt, im Schneidersitz, in der Hocke, auf den Knien, im Lotus- oder Kuhkopfsitz. Positionen, die sich der Ungelenke hierzulande beim Yoga wieder mühsam antrainiert.

    Augsburger Arzt sagt: „Das Sitzen aus dem Alltag zu verbannen, war ein langer Prozess“

    Auch Oswald musste sich das Dauersitzen abgewöhnen, leicht war es nicht. „Man passt ja gar nicht mehr in die Gesellschaft, wenn man nicht ständig sitzt“, sagt der 72-Jährige. „Aber die größte Hürde war mein eigener Körper, ich musste erst mal wieder lernen zu hocken.“ Bequem sei es immer noch nicht, aber bequem ist eh nicht das Richtige. Da faltet sich der Körper zusammen und möchte erst recht nicht mehr aufstehen. Oswald hat sich vorsichtshalber ein Brett auf den Autositz gezimmert, aber er fahre ohnehin selten. Meistens geht er zu Fuß, barfuß bei Wind und Wetter, weil Schuhe so unnatürlich sind wie Stühle, aber anderes Thema.

    Das Sitzen aus dem Alltag zu verbannen, war ein langer und langsamer Prozess, sagt der Arzt. „Früher war ich radikaler, da habe ich mich im Flugzeug geweigert, mich auf den Sitz zu setzen.“ Und heute? Klingt es gar nicht mehr so radikal, wenn er sagt: „Die Anpassung an den Stuhl wird dem Körper zum Verhängnis.“ Deckt sich auch mit wissenschaftlichen Erkenntnissen.

    Aber liegt das allein am Sitzen oder spielen auch fehlende Bewegung und ungesunde Ernährung eine Rolle? Noch mal die Wissenschaftlerin fragen. „Häufig ist es eine ungünstigste Kombination aus allem“, sagt Carmen Jochem. „Aber langes Sitzen ist an sich schon ein Risikofaktor, denn es kann nur durch ein hohes Maß an Bewegung ausgeglichen werden, was die meisten Menschen nicht erreichen.“ Wie viel müsste man denn sporteln? Kurz nachlesen … zweieinhalb Stunden Ausdauersport über die Woche verteilt, dazu zweimal in der Woche Krafttraining, empfiehlt die Weltgesundheitsorganisation. Ist ja zum Davonlaufen. Und bloß nicht zu lange sitzen. Wer acht Stunden auf dem Stuhl verbringt, müsste eine Stunde aktiv sein, sagt auch Jochem. Schaffen die wenigsten.

    Erst im 18. Jahrhundert nahm sich das Bürgertum das Recht aufs Sitzen heraus

    Es ist ein Kreuz mit dem Sitzen, der moderne Mensch, vom Stuhl gemartert. Dabei war das Sitzen doch mal ein so feines Privileg. Ägyptische Pharaonen, römische Kaiser, kirchliche Würdenträger, hockten alle auf dem Thron und ließen das Volk vor sich niederknien oder auf dem Schemel darben. Erst im 18. Jahrhundert nahm sich das Bürgertum das Recht aufs Sitzen heraus und verband den Stuhl mit dem Tisch, perfekte Symbiose. Scheinbar, denn evolutionär gesehen ist der Mensch auf Aktivität aus. Nahrung sammeln, jagen, die Vorfahren hatten weder Zeit zum Sitzen noch einen Stuhl. Sie hockten auf dem Boden oder Fels und waren ansonsten in Bewegung. Der Körper verlangt immer noch danach, aber die vielen Sitzgelegenheiten haben ihn träge gemacht. Ist ja auch bequem, so erhöht und ohne Anstrengung dazusitzen, mit Polster im Rücken und Lehne unter dem Arm.

    Zur Abschreckung: Martin Oswald hat einen Stuhl in seiner Praxis mit Stacheldraht umwickelt. An der Wand kleben Plakate, die vor den Folgen des Sitzens warnen.
    Zur Abschreckung: Martin Oswald hat einen Stuhl in seiner Praxis mit Stacheldraht umwickelt. An der Wand kleben Plakate, die vor den Folgen des Sitzens warnen. Foto: Felicitas Lachmayr

    Martin Oswald erinnert sich noch, wie er früher auf dem Sofa fläzte, am besten noch mit Zigarette. Aber er hat aufgehört, mit dem Rauchen und dem Sitzen. Ob ihm etwas fehlt? Oswald winkt ab. „Ich habe nur dazugewonnen.“ Die Rückenschmerzen von damals, die Probleme mit der Prostata, der Hallux, alles verschwunden, weil der Stuhl verschwunden ist. „Ich will nichts beweisen, sondern etwas erleben“, sagt Oswald und klingt mehr fröhlich als verbissen.

    Das stuhlfreie Leben habe seine Wahrnehmung verändert, es spielt sich weiter unten ab, neue Blickwinkel, andere Empfindungen. „Ein Schweinsbraten schmeckt anders, wenn man im Schneidersitz auf dem Boden hockt statt auf der Eckbank“, sagt Oswald. Was seine Frau und Kinder davon halten? „Die kennen mich nur so“, sagt Oswald. „Sie sitzen aber lieber auf der Eckbank.“ Und Patienten, die zum ersten Mal in die Praxis kommen? „Die sind erst mal irritiert, fragen nach, aber bisher haben es alle akzeptiert oder waren positiv überrascht.“ Ganz auf den Stuhl hat trotzdem noch niemand verzichtet.

    Der Stuhl bringt Ordnung ins gesellschaftliche Durcheinander

    Die Auswahl an Sitzgelegenheiten ist ja auch gigantisch: Bürostuhl, Drehstuhl, Zahnarztstuhl, Klavierstuhl, Regiestuhl. Autositz, Kindersitz, Schleudersitz, WC-Sitz. Tripp Trapp, Kinosessel, Fahrradsattel, Barhocker, Sessellift. Für jede Tätigkeit wartet der passende Stuhl, und wenn mal keiner dasteht, gibt es immer noch den Klappstuhl. Im Zug wird um Sitzplätze gerungen, in der Schule werden Kinder zum Stillsitzen animiert. Wer sitzt, hampelt nicht herum, sondern ist konzentriert und kontrolliert. Der Stuhl bringt Ordnung ins gesellschaftliche Durcheinander – bestimmt auch die soziale Sitzordnung. Logenplatz, Chefsessel, Lehrstuhl, nicht jeder darf überall Platz nehmen, schon gar nicht im öffentlichen Raum. Da werden Bänke abgeschrägt und Freiflächen mit Spikes versehen, damit sich niemand länger niederlässt oder gar hinlegt. Mit „feindlichem Design“ werden Randgruppen aus dem Stadtbild ferngehalten oder auf den Boden verdonnert. Auf die Straßenbahn warten, beim Shoppen ausruhen, klar. Aber grundlos herumhocken, ungern.

    Was die Sitzdauer anbetrifft, auch da gibt es in Deutschland übrigens regionale Unterschiede: Gesessen wird meistens beim Arbeiten oder Fernsehen, im Osten aber weniger als im Westen, achteinhalb Stunden sind es in Brandenburg, die Nordrhein-Westfalen sind mit zehn Stunden Rekordsitzer. Wobei eine Stunde hin oder her, das Dauersitzen hinterlässt Spuren.

    Typisch bei Vielsitzern: Verkürzung der Beugemuskulatur an der Vorderseite des Körpers

    Anruf bei Ricarda Seemann von der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie. Sie forscht an der Berliner Charité und arbeitet als Orthopädin und Schmerztherapeutin am Bodensee. „Man muss das Sitzen nicht verteufeln, es gehört zum menschlichen Bewegungsmuster wie das Stehen oder Gehen“, sagt sie. „Aber wenn es wie bei den meisten den größten Teil des Tages einnimmt, ist es problematisch.“ Jeden Tag kommen Menschen mit Haltungsschäden und Schmerzen zu ihr. „Viele Patienten sagen von sich aus, dass sie zu viel sitzen“, sagt Seemann. „Trotzdem ändern sie nichts, denn oft ist die Beweglichkeit schon eingeschränkt.“

    Kleine, aber effiziente Übung: Der Katzenbuckel.
    Kleine, aber effiziente Übung: Der Katzenbuckel. Foto: Christin Klose, dpa

    Typisch bei Vielsitzern: Verkürzung der Beugemuskulatur an der Vorderseite des Körpers. Auch der Iliopsoas-Muskel, der Wirbelsäule und Hüftgelenke verbindet und bei jedem Schritt arbeitet, kommt meistens zu kurz. Muskuläre Dysbalance nennt Seemann es, wenn bestimmte Muskeln ungleich oder kaum beansprucht werden. Die Folgen: Hängende Schultern, runder Rücken, Hohlkreuz, gebeugte Hüfte. Gravierend seien auch die Auswirkungen auf die Halswirbelsäule. „Wenn unser Gehirn über längere Zeit bestimmte Muskeln nicht ansteuert, wird es umso schwieriger, sie wieder zu aktivieren“, sagt Seemann. Als Manualmedizinerin weiß sie, wie sich verkürzte Muskeln behandeln lassen und wie Blockierungen gelöst werden können. Sie versucht, ihren Patienten mit einfachen Übungen zu vermitteln, wie Bewegungsabläufe neu trainiert werden können. Zeit und Durchhaltevermögen sind gefragt. Oder gleich eine Operation? „Das ist bei haltungsbedingten Muskelproblemen und Schmerzen keine Option“, so Seemann.

    Verdauungsspaziergänge senken das Risiko für Diabetes

    Haltungsschäden können im ganzen Körper Schmerzen verursachen, die Atmung wird flacher, das Lungenvolumen verändert sich, auch chronische Kopfschmerzen lassen sich in vielen Fällen auf muskuläre Verspannungen in Hals- und Brustwirbelsäule zurückführen. Zu Seemann kommen nicht nur ältere Menschen, sondern auch immer mehr junge Patientinnen und Patienten. „Bei ihnen lassen sich Haltungsprobleme eher wieder beheben, wenn sie zum Beispiel regelmäßig Sport machen.“

    Was aber tun, wenn einen der Bürojob auf den Stuhl zwingt? Die Orthopädin rät zum aktiven Sitzen mit regelmäßigen Pausen, also bewusst auf die Haltung achten, Position wechseln und mindestens einmal in der Stunde bewegen. Oder Arbeitsstunden nach der 40-15-5-Regel zerstückeln. 40 Minuten Sitzen, 15 Minuten Stehen, fünf Minuten Bewegung. Und wenn das nicht hilft, gibt es Apps, die ans Aufstehen erinnern, Videos mit Übungen und Krankenkassenkurse für Vielsitzer. „Wichtig ist, dass man Strukturen schafft und die Bewegung in den Arbeitsalltag integriert“, sagt Seemann. „Jeder Schritt hilft, um den Körper auf Aktivität zu programmieren.“

    Davon ist auch Präventivmedizinerin Carmen Jochem überzeugt. Sie rät, sich den Arbeitsplatz so einzurichten, dass Schritte notwendig sind, um zum Drucker, Papierkorb oder Wasserspender zu gelangen. Also lieber mehrmals das Glas nachfüllen als eine Kanne auf den Tisch stellen, im Stehen telefonieren, zum Büro radeln oder zu Fuß zur Haltestelle laufen, statt ins Auto zu steigen. Und: Ein Verdauungsspaziergang hilft. Das ewige Sitzen hingegen bringt den Stoffwechsel durcheinander, der aufgenommene Zucker gelangt nur schwer aus den Blutgefäßen in das Zellinnere, so Jochem. Glukose staut sich, der Blutzuckerspiegel steigt und damit das Risiko für Diabetes Typ 2. Vielsitzer sollten deshalb jede Gelegenheit nutzen, um sich zu bewegen, ob beim Spaziergang oder am Stehschreibtisch.

    Der Monobloc ist das vielleicht scheußlichste, aber meistverkaufte Möbelstück aller Zeiten

    Also noch mal aufrichten und fragen: Ist Stehen denn besser als Sitzen? Ein höhenverstellbarer Tisch soll ja immerhin die Routine unterbrechen und die Sitzdauer um bis zu zwei Stunden reduzieren. Andererseits kann langes Stehen auf die Knie gehen, das Risiko für Krampfadern und Venenthrombosen erhöhen. Ausgleichen kann es die Folgen des Dauersitzens laut Studien auch nicht. Und überhaupt, bequem ist anders. Die Beine werden schwer, die Füße schmerzen, der Rücken fällt ins Hohlkreuz. „Stehschreibtische sind gerade ziemlich in Mode, sie bringen aber nichts, wenn man zusammengesackt dasteht“, sagt Orthopädin und Manualmedizinerin Ricarda Seemann. Also wie beim Sitzen, auf die Haltung achten, Position wechseln und Pausen machen.

    Scheußlich, aber legendär: Der Monobloc-Stuhl.
    Scheußlich, aber legendär: Der Monobloc-Stuhl. Foto: Schreiner

    Aber noch mal zurück in die Praxis von Martin Oswald. Der Arzt kann über all die Tipps nur den Kopf schütteln. „Wir können uns bemühen, weniger auf dem Stuhl zu sitzen, aber es gibt keine richtige Dosis, das Dauersitzen ist unnatürlich.“ Manche mögen ihn für seine stuhlfreie Lebensweise belächeln, die Ursachen für all die Sitzschäden seien vielfältiger, halten Kolleginnen und Kollegen ihm entgegen, doch Oswald bleibt dabei. „Der Stuhl muss weg.“

    Darüber schlagen wiederum Möbelliebhaber die Hände über dem Kopf zusammen, denn auch das ist ja der Stuhl: ein Designobjekt. Legendär: der Stuhl Nr. 14, Massenstuhl von 1859. Vier Beine, geschwungene Lehne, runde Sitzfläche aus Rohrgeflecht im Wiener Kaffeehaus-Stil und deutlich eleganter als der Monobloc. Das weiße Plastikungetüm mit fünf Rillen ist in 50 Sekunden hergestellt und das vielleicht scheußlichste, aber meistverkaufte Möbelstück aller Zeiten. Der Inbegriff des Gartenstuhls, der Imbissbudenhocker schlechthin. Berühmte Stühle gibt es viele, aber schon mal einen berühmten Tisch gesehen? Die Beziehung zum Stuhl ist inniger, man ist ihm näher, sitzt auf ihm, lehnt sich an ihn. Isst, denkt, arbeitet auf ihm.

    Frage an die Orthopädin: Gibt es den perfekten Bürostuhl?

    Da muss es doch auch den perfekten Bürostuhl geben, die Auswahl ist ja riesig … ergonomischer Stuhl, Aktivstuhl, orthopädischer Stuhl, Kniestuhl, Sattelhocker, Swopper mit Wipp-Feder, Gymnastikball, Deskbike zum Radeln am Rechner. „All diese Modelle sollen uns daran erinnern, aktiv zu sitzen und uns zu stabilisieren. Der Körper soll spüren, wie er sitzt und sich immer wieder korrigieren“, sagt Orthopädin Ricarda Seemann. Ob der Stuhl wippt, rollt oder ohne Lehne dasteht, der Effekt verliert sich. „Es geht nicht um den perfekten Stuhl. Man muss den Stuhl, den man hat, nur richtig besetzen.“

    Die Position am besten vom Becken heraus aufbauen, rät die Orthopädin. Den unteren Rücken gerade rücken, Wirbelsäule aufrichten, Brust raus, Schultern zurück und locker bleiben. Nacken lang, Kopf gerade, als würde eine Schnur ihn nach oben ziehen, Arme im 90-Grad-Winkel auf den Tisch, Beine nebeneinander und Füße im selben Winkel auf den Boden. „Wenn man bewusst auf die Sitzposition achtet, steuert man die rumpfstabilisierenden Muskelgruppen gezielt an und stärkt sie“, sagt Seemann.

    Sie selbst ist viel in Bewegung, zumindest in der Praxis. „Wenn ich länger am Computer arbeite, wechsele ich zwischen Bürostuhl und Gymnastikball.“ Und im Moment? „Laufe ich durch die Wohnung und schwinge die Arme“, sagt sie. „Ich laufe gern beim Telefonieren, da kann ich mich besser konzentrieren.“ Noch so ein Thema, im Gehen kommen einem ja oft die besten Ideen. Blockiert das Sitzen auch den Kopf? Das empfindet vermutlich jeder anders, sagt Seemann. „Aber wenn wir uns bewegen, gelangt mehr Sauerstoff ins Gehirn, die Durchblutung wird angeregt, Nervenzellen werden aktiviert und wir fühlen uns insgesamt besser.“ In manchen Berufen kann es durchaus hilfreich sein, kreative Phasen mit Bewegung zu verbinden und nur zu sitzen, wenn es etwas abzuarbeiten gibt. Im Büro und im Alltag also ruhig mal etwas mehr Anti-Sitz-Verhalten an den Tag legen. Telefonate im Gehen, Sitzungen im Stehen, Brainstorming beim Mittagsspaziergang, alles möglich. Zeit, den Stehschreibtisch wieder hochzufahren. Zeit, aufzustehen.

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