Sie gilt als streitlustig. Als eine, die vor kontroversen Positionen nicht zurückschreckt und dafür auch scharf angegriffen wird. In ihrem neuen Buch schreibt Svenja Flaßpöhler, Chefredakteurin des „Philosophie Magazins“ und selbst ernannter Störenfried, genau darüber: Was bedeutet es zu streiten und warum ist es wichtig? Gerade jetzt, wo der Ton rauer wird, Debatten schnell in digitalen Shitstorms enden oder gar nicht erst geführt werden.
Geschrei, knallende Türen: Flaßpöhler hat als Kind viel Streit miterlebt
Streiten, das macht Flaßpöhler gleich am Anfang klar, ist unbequem. Denn anders als beim Diskurs gehe es nicht darum, einen Perspektivwechsel und damit Verständigung zu erwirken, sondern darum, die eigene Position mit argumentativer Härte durchzusetzen. Wer zweifelt und abwägt, hat den verbalen Kampf schon verloren. „Ein Streit ist nie frei von Herrschaft. Hier geht es um Macht, weil Menschen, die wirklich und wahrhaftig streiten, einander gerade nicht verstehen“, schreibt Flaßpöhler. Voraussetzung für einen ernsthaften Streit ist eine affektive Unmittelbarkeit, die Zweifel gar nicht erst aufkommen lässt, eine aggressive Energie, die schnell umschlagen kann. „Über das Streiten nachzudenken, heißt sich von Illusionen zu befreien. Ein Streit ist nie harmlos. Der Abgrund der Vernichtung ist immer da“, schreibt Flaßpöhler.
Wie es sich anfühlt, wenn Streit zur Auflösung aller Bindungen führt, hat Flaßpöhler schon als Kind erfahren. Die Philosophin geht das Thema persönlich an, erzählt vom Geschrei zu Hause, von knallenden Türen und zerbrochenem Geschirr. Und von ihrer Angst, das nächste Wortgefecht der Eltern könnte eskalieren. „Ein Streit hat immer das Potenzial, in reale, physische Gewalt umzuschlagen“, schreibt Flaßpöhler. Damit das nicht passiert, müssen die Bindungskräfte mächtiger sein als der Vernichtungsdrang. Doch in der Digitalwelt ist das oft nicht der Fall, denn das Gegenüber sitzt nicht vor einem. Plattformen wie X leben Flaßpöhler zufolge vom Vernichtungswunsch, der zerstörerische Affekt kann und soll unmittelbar entladen werden, denn das generiert Klicks und Aufmerksamkeit.
Flaßpöhler versucht die Grenzen des Diskursfeldes auszuloten
Diese Form der affektiven Kommunikation steht dem vernunftorientierten und herrschaftsfreien Diskurs und damit der einzig produktiven Form des Streits im Sinne des Philosophen Jürgen Habermas entgegen. Dieser hatte 2016 dafür plädiert, AfD-Politikern keine Bühne zu geben, weil sich ihre Positionen außerhalb der Regeln und Normen eines demokratischen Diskursfeldes bewegen. Eine solche Form der Gesprächsverweigerung sieht Flaßpöhler allerdings auch kritisch und wirft die Frage auf, „ob eine Demokratie, die bereits die Potenzialität antidemokratischer Meinungsbildung unterbinden will, sich nicht im Grunde selbst abschafft.“ Schwer zu beantworten, räumt die Philosophin selbst ein.
Wo verlaufen die Grenzen des Diskursfeldes und wer bestimmt über sie? Flaßpöhler versucht es auszuloten, zieht neben Habermas auch Theodor W. Adorno und Max Horkheimer zu Rate, verweist auf Kant ebenso wie auf Carl Schmitz und trägt damit interessante Positionen zusammen. Anhand von persönlichen Erfahrungen macht sie auch ihre Position deutlich: Die Diskursgrenzen würden häufig zu eng gezogen werden.
Svenja Flaßpöhler: „Ich verwaltete das Denken, anstatt es zu praktizieren.“
Flaßpöhler hat sicherlich recht, wenn sie schreibt: „Eine politisch fundamental andere Meinung, die die eigene, linksliberale Wert- und Weltvorstellungen schmerzhaft herausfordert, ist nicht gleich faschistisch.“ Wenn sie dann aber über Seiten hinweg von ihrer Zeit als Redakteurin beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk schreibt, liest sich das mehr wie eine persönliche Verteidigungsschrift als eine philosophische Abhandlung übers Streiten. Ihre Kritik, dass es beim Sender zu wenig Raum für inhaltliche Debatten gab, mag berechtigt sein. Wenig Zeit, wenig Personal, da werden eher Aufgaben verteilt als Themen diskutiert. „Ich verwaltete das Denken, anstatt es zu praktizieren“, schreibt Flaßpöhler. Dass sie die Anschaffung neuer Büromöbel dann als Beispiel nennt, um zu zeigen, wie schwierig es ist, Dinge zu verändern, wirkt ein wenig holprig. „Mein Büro wurde trotz neuer Couch kein Magnet für die, die denken und streiten wollten.“
Nun ja, gestritten hat Flaßpöhler dann doch. Darüber, ob Rolf Sieferle in seinem Buch „Finis Germania“ aus dem rechten Verlag von Götz Kubitschek die Shoa leugnet oder nicht (Flaßpöhler findet nicht). Oder darüber, ob sie mit dem konservativen Rüdiger Safranski in einer Sendung darüber reden sollte (hat sie dann doch gemacht). Zu wenig Raum für offenen Diskurs, sie verließ den Sender. Im Zuge der #MeToo-Debatte veröffentlichte Flaßpöhler dann eine Streitschrift und wurde erneut scharf angegriffen. Rückblickend räumt sie ein, sie habe polemische Zuspitzung vorgenommen. Die streitlustige Philosophin rudert zurück, wenn auch nur ein wenig.
„Für mich bleibt schwer erträglich, dass Menschen radikal anders denken. Dass sie sich an anderen Werten orientieren, die ich für falsch und gefährlich halte“, schreibt Flaßpöhler. Trotzdem wagt sie sich immer wieder in den Ring, denn: „Zu streiten heißt, ein Gegenüber nicht kalt als Feind abzustempeln, sondern die Mühen der Argumentation auf sich zu nehmen.“ Und über eines dürfte sie sich mit vielen Theoretikern einig sein: Streit ist immer auch getragen von der Hoffnung auf Einigung.
Svenja Flaßpöhler: Streiten. Hanser, 128 Seiten, 20 Euro
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