Eine junge Frau gießt Pflanzen auf ihrem Balkon. Sie isst eine warme Mahlzeit, dann sitzt sie dort und trinkt Wasser. Textzeilen tauchen im Video auf. „Wenn ich so darüber nachdenke, kann ich gar nicht glauben, dass ich mir erlaubt habe, so oft respektlos behandelt und verletzt zu werden“, schreibt sie. Sie habe sich und ihre Gefühle nicht wichtig genug genommen, habe sich selbst zu oft vergessen und dann verloren. „Zeit zu heilen.“
Einige Herz-Symbole sind darunter kommentiert, manche Herzchen bandagiert. Die junge Frau heißt Samah Abou Khalil, und nicht nur sie möchte heilen. Der „Healing“-Trend ist auf Instagram gerade überall zu finden. Psychische Störungen werden hier nicht ausgeblendet, mentale Gesundheit ist ein häufiges Thema im Netz. Zunehmend teilen Menschen Schnipsel von dem, was ihr Therapeut oder ihre Therapeutin gesagt hat und betonen, wie sehr ihnen eine Erkenntnis im Kopf geblieben ist. Fachbegriffe finden ihren Weg in den Diskurs: Der Ex-Freund war ein „Narzisst“, der alte Freundeskreis „toxisch“ und von der neuen Bekanntschaft sollte man die Finger lassen, denn sie weist „red flags“ auf, also vermeintlich als Warnzeichen zu interpretierende Eigenschaften.
„Deine Rolle im Leben ist es, nur dich selbst zufriedenzustellen“
Viele finden sich in den millionenfach geteilten Botschaften wieder: Die Bedürfnisse anderer an die erste Stelle gestellt und die eigenen unterdrückt, sich den Erwartungen anderer zu sehr gebeugt, die falsche Person an sich herangelassen. Die vermeintliche Lösung für den erlebten Schmerz: Heilen – durch Zeit für sich selbst, bessere Routinen, durch Reisen, Hobbys. „Mindfulness“ ist das Stichwort, Achtsamkeit. Mehr Selbstfürsorge, klare Grenzen ziehen.
Ziel aller Bemühungen ist ein glücklicheres Leben. Heilung sei das eigene Recht, die eigene Verantwortung und nicht zu heilen ein Risiko, das man nicht eingehen könne, heißt es in einem Instagram-Post. „Heile dich selbst zuerst, der Rest wird später kommen“, in einem anderen. Und: „Eine Wahrheit über Heilung: Du wirst Leute enttäuschen. Und das ist okay. Denn deine Rolle im Leben ist es, nur dich selbst zufriedenzustellen, niemanden sonst.“
Auf Instagram gerät Heilung zum Selbsthilfe-Thema
Die Grundidee ist sinnvoll. Die eigenen Bedürfnisse erkennen und kommunizieren. Die eigenen Gefühle regulieren können. Schwierige Erlebnisse aufarbeiten, statt sie zu verdrängen. Sich nicht zurücknehmen aus Angst, nicht geliebt zu werden. Es sind Dinge, die man in einer Therapie lernt - mithilfe eines ausgebildeten Psychotherapeuten, der je nach Störungsbild differenziert.
Auf Instagram aber gerät Heilung zu einem massentauglichen Selbsthilfe-Thema, bei dem intensive Selbstbeobachtung und Fürsorge zu einem glücklicheren Leben führen soll. Die Lösungen reichen von A bis Z und sind oft mit Geld und Zeit verknüpft. Da sind die, die ihr altes Leben zurückgelassen haben und als Freigeister im Camper durch die Gegend tuckern oder den Strandurlaub genießen. „Wie sich rausstellt, war ich nicht depressiv. Ich musste nur in ein Flugzeug einsteigen“, schreibt eine Nutzerin.
Der Sprung in die Esoterik-Ecke ist nicht weit
Dann gibt es haufenweise Coaches, die Psychologie mit Motivationssprüchen mixen und mit selbst erlangter Erleuchtung hausieren gehen. Da sind die Esoteriker, die von Heilkristallen und Energien schwadronieren. Oder die, die glauben, man könne Dinge „manifestieren“, also die Realität willentlich beeinflussen. Einerseits suggerieren diese Inhalte, dass eine Heilung möglich, ja, eine Pflicht sei – ein Versprechen, das Psychotherapien nie geben -, wenn Menschen nur die Ursache finden und beheben. Falls sie es sich denn leisten können. Andererseits beginnt man, sich immer mehr um sich selbst zu drehen. Aber macht das glücklich?
Journalist James Marriott glaubt, die Obsession mit sich selbst sei die „Wurzel moderner Einsamkeit“. Es sei absurd zu denken, dass man Glück und Erfüllung in sich selbst finden könne. Die Journalistin Phoebe Arslanagic-Little beobachtet, dass intensive Selbstbeobachtung Menschen sogar eher ängstlicher mache. „Und sie führt dazu, dass man vielleicht auch ein schlechterer Mensch wird“, ergänzt sie. Denn wer nur mit sich selbst beschäftigt ist, verliert den Blick für andere. Noch dazu ist man auf der „Healing Journey“ gleichzeitig Doktor und Patient, man ist damit beschäftigt, seine Wunden aufzuarbeiten und nur begrenzt verantwortlich.
Das Heilsversprechen läuft ins Leere
Und dann sind da noch Menschen, die tiefergehende Traumata erlebt haben. Deren Depression sich nicht durch den Einstieg ins Flugzeug beheben lässt. Es sei ein schädlicher Trend, glaubt Nikita Gill, Überlebende häuslicher Gewalt. „Ich glaube, dass Heilung eine sehr private Angelegenheit ist. Dass Menschen anderen ständig ihren persönlichen Prozess aufdrängen, ist ein großer Teil des Problems“, schreibt die britische Autorin. Es werde der Eindruck erweckt, dass es eine richtige oder falsche Art zu heilen gebe und vermittle einseitige Vorstellungen, wie Heilung auszusehen hat. „Diese Vereinheitlichung und Trendisierung des Begriffs muss im Interesse der psychischen Gesundheit aller Trauma-Überlebenden aufhören.“
Es sieht nicht danach aus. Wieso auch - es ist eine lukrative Industrie, in die das „Healing“ eingebettet ist, und die bei aller Selbstlosigkeit kein Interesse daran hat, dass Menschen vollends heilen. Wahre Heilung komme von „kontinuierlicher Selbstverbesserung und Wachstum“, heißt es auf der Seite eines kanadischen Coaching Centers. Und als Healing-Coach Sandra von „healing is the new sexy“ gefragt wird, ob sie denn „geheilt“ sei, gibt sie eine bezeichnende Antwort. Eine „Healing journey“ habe verschiedene Jahreszeiten. „In dieser Jahreszeit meines Lebens bin ich geheilt“, erklärt Sandra. Sie kenne sich nun besser, fühle sich lebendiger und sei die authentischste Version von sich selbst. Bis jetzt.
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