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Rezension: Navid Kermani: "Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen"

Rezension

Navid Kermani: "Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen"

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    Der Autor von "Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen": Navid Kermani.
    Der Autor von "Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen": Navid Kermani. Foto: dpa

    "Werdet wie die Kinder“, so steht es geschrieben, so zitiert es Navid Kermani in seinem neuen Buch „Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen“. Der vielfach ausgezeichnete Schriftsteller nimmt das Bibelzitat wörtlich, er versetzt sich selbst zurück in seine Kindheit und führt gleichzeitig Zwiesprache mit seiner zwölfjährigen Tochter. Das Thema der beiden: die Religion. Im Speziellen: der Islam. Kermani will seiner Tochter erklären, warum er an Allah glaubt, was ihn am Islam fasziniert. Und gleichzeitig erfüllt er den Auftrag ihres Großvaters: Den Kindern den Islam näherbringen.

    Ganz sicher ist dieses Buch für Leserinnen und Leser in dem Alter (der Verlag empfiehlt es für Kinder ab 14 Jahren) eine wunderbare Reise zur Religion. Denn Kermani schreibt auf den 240 Seiten auch über die anderen Weltreligionen, vergleicht den Islam mit dem Juden- und dem Christentum, kommt immer wieder auf polytheistische Religionen zu sprechen. Und: Jeder, der die Fähigkeit, „Werdet wie die Kinder“, nicht verlernt hat, wird ebenfalls überreich belohnt. Das Buch ist auch für Erwachsene geschrieben. Denn Zweifel am Glauben gibt es in allen Altersklassen.

    Kermani macht es seinen Leserinnen und Lesern leicht, weil er nicht als der viel belesene, wissenschaftlich begründende Schriftsteller spricht, sondern vielmehr als jemand, der in sich hineinhorcht und nur das für die Zwiesprache verwendet, was ihm wichtig ist, was er in sich trägt. Seine Argumente, Zitate, Ausführungen und Erklärungen sind nicht erlesen, sondern verinnerlicht. Er möchte seiner Tochter eine Idee davon geben, wie es sich anfühlt, zu glauben, Gott zu spüren, Religion nicht als Theorie, sondern als etwas Persönliches, Existenzielles zu begreifen. Deshalb sind der Ausgang vieler Gedanken und Erläuterungen konkrete Erfahrungen, von denen er zu allgemeinen Gedanken und den großen Büchern und Texten der Weltreligionen kommt.

    Natürlich gehört dazu auch der Verstand, der heute viel schwerer für den Glauben einzufangen ist als noch vor Jahrhunderten. Denn allzu oft werden wissenschaftliche Erkenntnis und engstirnige religiöse Auslegung in einen Gegensatz gebracht. Der 54-jährige Kermani lässt da erst gar keinen Widerspruch aufkommen, wenn er zum Beispiel über die Urknalltheorie und die Quantenphysik spricht. Zum einen spiegelt sich darin etwas Göttliches, zum anderen fragt er nach dem Davor und dem Dahinter.

    Eine Reise zur Religion: "Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen"

    Lesenswert macht dieses Buch auch die Gestaltung. Jedes neue Kapitel präsentiert er abends seiner Tochter. Auf ihre Fragen, ihren Widerspruch geht er dann auch wieder ein. Deshalb muss er mit ihr mehr über die Quantenphysik und Urknalltheorie sprechen, als ihm, dem Philologen, eigentlich recht ist. Aber an den Grenzen neuer wissenschaftlicher Erkenntnis werden Geist und Religion – wenn Kermani darüber spricht – buchstäblich sichtbar: als ein Glaube für Vernunftmenschen, deren religiöse Praxis einen hohen Abstraktionsgrad haben muss.

    Aber Kermani geht weiter, schreibt davon, warum er Muslim ist (weil er das Glaubensbekenntnis sprechen kann – „Es gibt keinen Gott außer Gott, und Mohammed ist sein Prophet“), erläutert das dann (nämlich, dass in allen Erscheinungen Gott zu entdecken ist und dass Gott sich darin auch mitteilt) und öffnet so Augen und Ohren – für den Tiefsinn, die Klugheit und Schönheit des Islam. Denn was Kermani wichtig ist: Er möchte mit seiner Tochter über eine Religion sprechen, die wir heute genauso nötig haben wir vor 1400 Jahren. Und die auch mit dem Fortschritt, dem Wissen der Gegenwart und dem Wandel der modernen Welt mitkommt, besser: darin besteht. Und Kermani bedauert in Nebensätzen, dass der praktizierte Glaube heute oft viel zu engstirnig und rückwärtsgewandt ist und zentrale Grundsätze des Korans missachtet.

    Religion wird bei Kermani nicht als Gegensatz zur Wissenschaft begriffen, als ein Vergessen des Fortschritts, sondern als das, was auf das letzte Warum folgt, auf das die Wissenschaft keine Antwort mehr weiß: Warum gibt es das Universum, warum leben wir?

    Navid Kermani über die Antworten des Islam

    Dabei werden die Antworten des Islam immer wieder in Bezug zu denen des Christentums und des Judentums gesetzt. Er arbeitet fein die Unterschiede heraus – aber noch viel stärker: die unübersehbaren Gemeinsamkeiten der drei abrahamitischen Religionen.

    Kermani weist darauf hin, dass das, was Menschen aus den Religionen machen, nicht immer den Kern trifft: Mit dem Islam werden Grausamkeiten begründet, genauso wie das auch in den anderen Religionen geschieht. Da zitiert er einfach Carl von Weizsäcker: „Du kannst den Koran entweder ernst nehmen oder wörtlich.“ Und er erklärt, dass der Koran auch ein zeitgeschichtliches Dokument ist, in dem geschimpft und verflucht wird – etwa die ungläubigen Mekkaner, aber eben nicht die gesamte ungläubige Menschheit.

    „Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen“ versetzt einen auf wunderbare Weise in den Zustand, staunend über Religion nachzudenken. Es schafft Verknüpfungen und lässt sich als ein Plädoyer lesen, den eigenen Glauben nicht nur im Vertrauten der eigenen Religion zu suchen, sondern gerade auch in der Begegnung mit anderen Religionen. Beide Seiten profitieren davon. Siehe Goethe, der sich in späteren Jahren auf den Islam förmlich gestürzt hat.

    Das Buch: Navid Kermani: Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen. Hanser, 240 Seiten, 22 Euro – ab 14

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