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Michael Wildt: "Zerborstene Zeit" - so ist das Buch
![Der Autor von "Zerborstene Zeit": Michael Wildt. Der Autor von "Zerborstene Zeit": Michael Wildt.](https://www.augsburger-allgemeine.de/resources/1715674144167-1/ver1-0/img/placeholder/16x9.png)
Die deutschen Jahre zwischen 1918 und 1945 in beeindruckender Tiefe.
Von den „Kommandohöhen der Politik“ betrachtet, ist die deutsche Zeitgeschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die am gründlichsten erforschte Epoche dieses Landes. Michael Wildt, Professor für Zeitgeschichte an der Berliner Humboldt Universität, zieht in seine in zwölf Kapitel unterteilte Darstellung der Jahre 1918–1945 aber zudem einen zweiten Strang durch die Jahre.
Seine Protagonisten heißen Luise Solmitz, begeisterte Hamburger Nationalistin, Hitler-Fan und Ehefrau eines nach „Nürnberger“ Definition jüdischen Deutschnationalen; oder Joseph Matthias Mehs, gläubiger Katholik und örtlicher Zentrumspolitiker, unbeirrter Hitlergegner, der aber auch eine „bolschewistische Gefahr“ sah; oder Raphael Lemkin, der nach seiner Flucht im Buch „The Axis Rule in Occupied Europe“ für den Völkermord das Wort „Genozid“ prägte. Daneben nutzt Wildt Quellen wie die Aufzeichnungen von Victor Klemperer oder Samuel Beckett, um Zeitgeschichte durch Menschen erlebbar zu machen. Die Historiografie hält aber auch für das „Große Ganze“ der Geschichte Erkenntnisse bereit: „Vielleicht ließe sich die soziale und politische Ordnung, die 1933 geschaffen wurde, am treffendsten als rassistische Volksdiktatur bezeichnen.“ Wildt gelangt zu dieser Charakterisierung nicht nur aufgrund der Maßnahmen der Regierung, der Verwaltung, des Gewaltapparats und der NSDAP, sondern und vor allem auch, weil er den gesammelten und zitierten O-Tönen genau zuhört. Da sprechen Menschen, die keine Entscheidungsträger waren.
Wildt beschreibt zuvor die Gründungsphase der Weimarer Republik, die Konkurrenz der Parteien auf der linken Seite des Spektrums, die Entwicklung von Rassismus und Antisemitismus. Ein ganzes Kapitel widmet er Josephine Bakers Gastspielen in Berlin oder auch dem von Charlie Chaplin. Ein Glanzstück ist seine Darstellung der Konferenz von Locarno im Oktober 1925. Er widmet seine Aufmerksamkeit nicht nur den „großen“ Ergebnissen, wie der Vereinbarung, dass Deutschland dem Völkerbund beitreten werde. Sondern auch den verhandelnden Personen, ihren Zweiergesprächen, bis hin zu der Frage, wer die kleine Zeche in dem Café bezahlte, in dem sich der französische und der deutsche Außenminister Briand und Stresemann für eine Stunde zu zweit trafen. Wildt beglaubigt auf diese Weise das zwischen den Kriegsgegnern gewonnene neue Vertrauen, die persönliche Vertrautheit. Die Caféhaus-Besucher erhielten im darauffolgenden Jahr den Friedensnobelpreis. Keine zehn Jahre später wird Hitler den Völkerbund bereits wieder verlassen haben. Das Tempo dieser Entwicklung rechtfertigt den Titel des beeindruckenden Buches „Zerborstene Zeit“.
Michael Wildts neues Buch spielt in der Weimarer Republik
Nicht weit von Locarno, auf dem französischen Ufer des Genfer Sees, in Evian-les-Bains, fand im Juli 1938 eine vom US-Präsidenten Roosevelt initiierte Konferenz mit dem Ziel statt, eine Vereinbarung über die Aufnahme jüdischer Flüchtlinge aus dem inzwischen durch den „Anschluss“ Österreichs erweiterten Deutschen Reich zu treffen. Wildt zitiert aus den Protokollen die einwanderungsfeindlichen, zum Teil sogar antisemitischen Begründungen der Delegierten. Der australische Minister T.W. White: „Da wir in Australien kein Rassenproblem haben, wird jedermann Verständnis dafür aufbringen, dass wir uns nicht danach drängen, eins zu importieren, indem wir irgendeinen Plan für eine fremde Einwanderung unterstützen.“
Und ein Kapitel widmet Wildt auch der Geschichte einer Stadt, die zunächst zu Österreich, dann zu Polen, später zur Sowjetunion und jetzt zur Ukraine gehört: Lemberg bzw. Lwow oder Lwiw. Ein furchtbares deutsches Erbe: Im Zweiten Weltkrieg betrieben hier die Hitlertruppen ihren Vernichtungskrieg vor allem gegenüber der jüdischen Bevölkerung. Heute ist die Stadt im Westen der Ukraine Ausweichquartier von Botschaften der USA oder Frankreich, die aus Kiew evakuiert wurden. Das ganze Kapitel ist ein Beleg für die umstrittene Territorialgeschichte dieser Region und hochaktuell.
Das Buch: Michael Wildt: Zerborstene Zeit. C.H. Beck, 638 Seiten, 32 Euro
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