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Rezension: Delphine de Vigan: "Die Kinder sind Könige" - so ist das Buch

Rezension

Delphine de Vigan: "Die Kinder sind Könige" - so ist das Buch

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    Die Autorin von "Die Kinder sind Könige": Delphine de Vigan.
    Die Autorin von "Die Kinder sind Könige": Delphine de Vigan. Foto: dpa

    Das könnte ein ganz klassischer Krimi sein. Die Geschichte nämlich: Ein sechsjähriges Mädchen ist plötzlich verschwunden; eben noch mit dem großen Bruder und den Nachbarskindern Verstecken gespielt und nun unauffindbar – bis nach Tagen erste Entführerpost eintrifft … In der Schilderung des Geschehens wechselt der verzweifelte Blick ihrer Mutter Mélanie, die sich fragt, was sie falsch gemacht haben und wer ihr das antun wollen könnte, mit dem nüchternen Blick der Ermittlerin Clara, selbst kinderlos und von im Kollegenkreis geradezu berüchtigter Hartnäckigkeit und Denkschärfe. Dazwischen Auszüge aus Vernehmungsprotokollen …

    Also: Wer war’s? Ja, das wird schon auch geklärt – aber eigentlich ist es fast egal, geht es in „Die Kinder sind Könige“ um etwas ganz anderes. Das Mädchen Kimmy ist vor ihrem Verschwinden nämlich an der Seite ihres Bruders Sammy der Inbegriff der Sichtbarkeit. Sie sind die Protagonisten des erfolgreichsten Familien-Blogs in Frankreich, „Happy Récré“, mit Millionen Followern vor allem auf Youtube, dazu noch mit Instagram-Storys.

    Die treibende Kraft dahinter, die erkennt Clara freilich sofort, als sie sich das ganze Online-Material bei den Ermittlungen anschaut: „Das Bedürfnis nach Anerkennung, das aus diesen Bildern sprach, war nicht zu übersehen. Mélanie Claux wollte, dass man sie anschaute, ihr folgte, sie liebte. Ihre Familie war ein Werk, eine Leistung, und ihre Kinder eine Verlängerung ihrer selbst. Die Flut von Emoticons, die sich bei jedem geposteten Bild über sie ergoss, die Komplimente über ihre Kleidung, ihre Frisur, ihr Make-up kompensierten sicher eine Schwäche oder eine Sorge.

    Kein klassischer Krimi: "Die Kinder sind Könige" von Delphine de Vigan

    Inzwischen jedoch waren Likes, die Herzchen, der virtuelle Applaus zu ihrem Motor, zu ihrem Lebenswerk geworden: so etwas wie die Rendite einer emotionalen und effektiven Investition, auf die sie nicht verzichten konnte.“ Ganz nebenbei lassen sich damit auch noch Millionen verdienen, mit „Unboxing“-Videos, dem Auspacken herstellergesponsorter Geschenke also, oder Voting-Interaktion beim Shopping oder irgendwelchen Konsum-„Challenges“. Aber Mélanie ist tatsächlich auch überzeigt, dass es für ihre Kinder nichts Schöneres geben könne als all diese Liebe und Aufmerksamkeit im Netz, die sie sich selbst immer gewünscht hatte als Jugendliche, glühender Fan aufkommender Reality-Shows im „Big Brother“-Format …

    Was in der Verkürzung arg konstruiert wirkt und im Detail freilich nicht ohne Klischees bleibt, nutzt die zuvor für ihre intimen Romane im heimischen Frankreich ausgezeichnete und auch in den Bestsellern gelandete Autorin Delphine de Vigan (*1966) aber tatsächlich zu viel mehr: einem gründlichen Blick auf das Phänomen solcher Kinder- und Familien-Influencer. Von denen gibt es praktisch in jedem Land einige bekannte, um diese wiederum mit einiger öffentlicher Aufmerksamkeit immer wieder Debatten, ob die vermeintlichen Stars darin nicht eher durch fordernde Elternliebe gefügig gemachte und ständig zu so gar nicht kindgerechter Kameraarbeit gedrängte „kleine Sklaven“ sind. Hinter ihnen aber steht ein gewaltiges Heer an Kanälen und also Familien, die genau nach diesem Erfolg, dieser Aufmerksamkeit streben und damit das bedrückendste Bild für eine immer weiter ausgreifende Tendenz der Preisgabe des Privaten in der Online-Gesellschaft abgeben.

    „Mélanie war eine Frau ihrer Zeit. So einfach war das. Um zu existieren, musste man Aufrufe, Likes und Stories anhäufen.“ Ein guter und ein notwendiger Roman. Der sich übrigens den Schocker in der Kimmy-Geschichte spart – und dafür einen bleibenderen Schrecken bis in die Nachwirkungen im Jahr 2031 entfaltet.

    Das Buch: Delphine de Vigan: Die Kinder sind Könige. A. d. Französ. von Doris Heinemann, DuMont, 320 Seiten, 23 Euro (ab 14.03.)

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