Startseite
Icon Pfeil nach unten
Kultur
Icon Pfeil nach unten
Gesellschaft
Icon Pfeil nach unten

Rechtsruck in Europa: Der vermeidbare Aufstieg der AfD: Warum Rechtspopulisten an Einfluss gewinnen

Rechtsruck in Europa

Der vermeidbare Aufstieg der AfD: Warum Rechtspopulisten an Einfluss gewinnen

    • |
    Bei den kommenden Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg droht die AfD stärkste Partei zu werden
    Bei den kommenden Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg droht die AfD stärkste Partei zu werden Foto: Stefan Sauer, dpa (Archivbild)

    14,6 Prozent. Das ist die Zahl des vergangenen Jahres. 14,6 Prozent – so viele Stimmen holte die AfD bei der Landtagswahl. In Bayern. Sicher, diese 14,6 Prozent sind weniger, als die Partei in anderen Bundesländern bekommt. In aktuellen Umfragen ist sie im Osten Deutschlands überall mit Ausnahme Berlins die stärkste Kraft. Vor dem Hintergrund aber, dass auch CSU und vor allem die durch Hubert Aiwangers Flugblattaffäre paradoxerweise gestärkten Freien Wähler um konservatives Bürgertum warben, sind beinahe 15 Prozent für die Rechtspartei erschreckend. Im Stimmkreis Günzburg erzielte die Partei mit 23 Prozent ihr bestes Ergebnis, in einem Weiler im Unterallgäu kam sie sogar auf über 30 Prozent.

    Bayern liegt damit im europäischen Trend. Ob in Italien, Schweden, den Niederlanden – Rechtsaußen-Parteien haben dort in den vergangenen Jahren Wahlen gewonnen oder kräftig zugelegt. In Italien regiert die Post-Faschistin Giorgia Meloni seit Oktober 2022, und in den Niederlanden feierte Geert Wilders, Europas Pionier der Islamhasser, erst im November ein spektakuläres Comeback. In Österreich träumt die FPÖ trotz Ibiza-Affäre von der Kanzlerschaft im Herbst 2024, und in Frankreich bereitet sich Marine Le Pen auf einen weiteren Anlauf auf die Präsidentschaft in wenigen Jahren vor. 

    Erstarken der Rechtspopulisten ist eine Konstante in der europäischen Politik

    Wenn es eine Konstante in der europäischen Politik der vergangenen Jahre gibt, dann ist es das Erstarken der Rechtspopulisten. Doch was bei den Nachbarn längst zur Normalität gehört, ist für Deutschland noch immer ungewohnt und neu. Über Jahrzehnte war die Bundesrepublik ein Hort der Stabilität in Europa. Das lag auch am recht statischen Parteiensystem. In der Nachbarschaft wechselten Regierungen und Regierungschefs zumeist nach wenigen Jahren, manchmal sogar öfter. In Deutschland hingegen regierte über 16 Jahre Angela Merkel, die meiste Zeit in einer sogenannten großen Koalition mit der SPD

    Im kommenden Jahr könnte es auch mit dieser bundesrepublikanischen Gewissheit endgültig vorbei sein. Bei den Europawahlen Anfang Juni drohen viele Wählerinnen und Wähler, den etablierten Parteien einen Denkzettel zu verpassen. Und anders als in der Vergangenheit müssen sie ihr Kreuz dafür heute nicht einmal mehr bei Splitterparteien machen. Denn neben der AfD dürfte Sahra Wagenknecht erstmals mit ihrem Wahlbündnis antreten. Noch ist zwar nicht klar, wie die Gruppe sich jenseits der Schlagworte links und national inhaltlich konkret verortet, Wahlforscher trauen ihr aber aus dem Stand Ergebnisse jenseits der zehn Prozent zu. Auch die Freien Wähler haben ihren Platz im Europaparlament mangels wirksamer Sperrklausel sicher – wie regelmäßig seit 2014. Die Landtagswahlen zeigten zudem, dass die Wähler geneigt sind, über das ekelhafte, antisemitische Flugblatt, das vor Jahrzehnten in Hubert Aiwangers Schulranzen gefunden wurde, mit viel Milde hinwegzusehen. 

    In Thüringen dürfte es ein All-Parteien-Bündnis brauchen, um Höcke zu verhindern

    Bei den anschließenden Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg droht die AfD stärkste Partei zu werden. In Thüringen dürfte es sogar ein All-Parteien-Bündnis brauchen, um einen Ministerpräsidenten Björn Höcke zu verhindern. Damit kommt eine Partei in Sichtweite der Macht, deren Landesverband vom Verfassungsschutz als gesichert rechtsextrem eingestuft ist. Meinungsforscher halten es noch nicht mal für völlig ausgeschlossen, dass die AfD in Thüringen im Herbst 2024 eine knappe absolute Mehrheit der Sitze im Landtag erringen könnte. Sollten Grüne und FDP aus dem Parlament fliegen, könnte ein Ergebnis von 40 Prozent dafür ausreichen. Dann hätte Deutschland nicht nur erste AfD-Landräte und Bürgermeister, sondern den ersten Rechtsaußen als Ministerpräsidenten. „2024“, so sagt es Marco Wanderwitz, der frühere Beauftragte der Bundesregierung für Ostdeutschland, „2024 wird ein Wahljahr des Grauens.“ 

    Die Frage stellt sich, wo das Erstarken von Rechtsaußen in Deutschland herrührt, und was getan werden kann, um dem entgegenzuwirken. Gibt es Lehren aus den Nachbarländern, Rezepte für die etablierten Parteien in Deutschland? Oder ist es dafür womöglich schon zu spät, weil sich die AfD bereits zu tief in der politischen Landschaft wurzelt? 

    Ein Tiefpunkt der Regierungszeit von Olaf Scholz

    Der Mann, der helfen könnte, die AfD ganz einfach durch gute Arbeit klein zu halten, steht Ende November im Bundestag und gibt eine schwache Regierungserklärung ab. „You'll never walk alone“, sagt Olaf Scholz, ein Song-Zitat, das der Kanzler besser in den Fußballstadien von Liverpool und Dortmund belassen hätte. Zur Beruhigung der Bürgerinnen und Bürger, die eigentlich wissen wollten, was das Haushaltsurteil des Bundesverfassungsgerichts für sie jetzt konkret bedeutet, trägt das Zitat aus der Fußballwelt jedenfalls genauso wenig bei wie der selbst für Scholz' Verhältnisse blutleere Auftritt insgesamt. Dieser Dienstagvormittag, man muss es so sagen, markiert einen Tiefpunkt der bisherigen Regierungszeit des Kanzlers. 

    Bundeskanzler Olaf Scholz steht Ende November im Bundestag und gibt eine Regierungserklärung ab.
    Bundeskanzler Olaf Scholz steht Ende November im Bundestag und gibt eine Regierungserklärung ab. Foto: Michael Kappeler, dpa

    Wer nach den Gründen für das Erstarken der Rechtsextremen fahndet, kommt an der schwachen Leistung der Bundesregierung nicht vorbei. Trotz des manchmal rüpelhaft wirkenden Kompetenzgehabes des Kanzlers präsentierte sich seine Koalition über weite Strecken des vergangenen Jahres als Regierung, deren Kraft zur Einigung sich in gesellschaftspolitisch eher spaltenden Themen erschöpfte. Die Bürger sorgen sich wegen steigender Mieten, fehlender Kitaplätze und ganz allgemein der trüben wirtschaftlichen Aussichten. Und die Regierung? Kümmert sich um die Legalisierung von Cannabis

    Die Bürger sorgen sich wegen steigender Strom-, Gas- und Heizpreise. Und die Ampel? Die reagiert auf das Haushaltsurteil des Bundesverfassungsgerichts mit neuen Sparplänen, die vieles davon noch teurer machen. Gleich zweimal stoppten die Karlsruher Richter auf fast schon spektakuläre Weise prominente Vorhaben der Regierung – nach der Notbremse für Robert Habecks Heizungsgesetz im Juli erklärten sie einige Monate später die Umwidmung von Mitteln aus einem Corona-Topf für den Klimaschutz für verfassungswidrig. 

    Bei Umfragen bekommen die Ampel-Parteien regelmäßig die Quittung

    „Die AfD muss gar nicht viel tun“, sagt Matthias Jung von der Forschungsgruppe Wahlen. „Eine sichtlich überforderte Regierung und eine wenig attraktive Opposition treiben ihr die Wähler fast von allein zu.“ Ähnlich sieht das einer der Politiker, der im kommenden Herbst die AfD bei ihrem Griff nach Regierungsämtern stoppen soll, Sachsens Regierungschef Michael Kretschmer. „Dieses Rumwursteln der Bundesregierung, das Aussitzen der drängendsten Probleme in unserem Land wie Migration, Energie und Krieg zerstört das Vertrauen der Bevölkerung und stärkt die extremistischen Ränder“, sagt er unserer Redaktion. 

    Ganz falsch ist das nicht. Bei Umfragen bekommen die Ampel-Parteien inzwischen regelmäßig die Quittung für ihr zerstrittenes Bild. Zum Jahresende lagen SPD und Grüne noch bei 14 Prozent, die FDP bei fünf. Damit sind die drei Ampel-Koalitionäre in etwa gleichauf mit der Union. Ein AfD-Wähler aus Leipheim bringt es am Tag nach der bayerischen Landtagswahl in unserer Zeitung so auf den Punkt: „Der Bürger will doch einfach normale Zustände. Und die AfD macht die Politik dafür.“ 

    Dazu kommen Ängste, die von der gegenwärtigen Weltlage herrühren. Putins Überfall auf die Ukraine und der zähe Stellungskrieg im Winter, die Eskalation in Nahost, Angst vor dem Klimawandel (das vergangene Jahr war das heißeste seit Beginn der Aufzeichnungen), die Angst, in ländlichen Regionen, abgehängt zu werden und ja, auch Sorgen vor einer möglichen Rückkehr Donald Trumps als US-Präsident – selten dürften sich so viele Krisen, Unwägbarkeiten und Veränderungen in einem so kurzen Zeitraum geballt haben. Unsicherheit verunsichert. Wenn Huthi-Milizionäre im Jemen Frachtschiffe im Roten Meer beschießen, dann wären das noch vor wenigen Jahren Meldungen aus einer fernen Welt gewesen. Heute preisen Elektromärkte in Echtzeit ein, wenn die Kosten für Smartphones aus Asien steigen, weil der globale Welthandel die Abkürzung über den Suezkanal nach Europa meidet.

    Die steigenden Flüchtlingszahlen erweisen sich als Nährboden für Rechtspopulisten

    Wie viel Chaos verträgt der Wähler? Auch um diese Frage wird es im kommenden Jahr gehen. Wahlforscher beobachten, dass die AfD von diesen Ängsten stärker profitiert als andere Parteien. Das könnte auch an der Zusammensetzung ihrer Wählerschaft liegen. 46 Prozent der AfD-Anhänger beschreiben ihre eigene wirtschaftliche Lage als „weniger gut“ oder „schlecht“. Bei den Anhängern der Union sind es 29, bei den Grünen gerade einmal 14 Prozent. 

    Vor allem die steigenden Flüchtlingszahlen erweisen sich als Nährboden für Rechtspopulisten. Das ist der dritte, womöglich entscheidende Punkt, wie auch Joachim Gauck, der ehemalige Bundespräsident, Ende November bei einer Veranstaltung unserer Zeitung sagte. „In ganz Europa wurden Parteien stark, die nationalistisch agieren. Immer wenn die Zuwanderungszahlen steigen, bekommen diese Leute Zulauf“, hat er beobachtet. 

    Migranten sind auf dem Weg von der Nordküste Afrikas zur italienischen Insel Lampedusa. Im vergangenen Jahr kamen bei der Flucht über das Mittelmeer bis Anfang Dezember mehr als 2150 Menschen ums Leben.
    Migranten sind auf dem Weg von der Nordküste Afrikas zur italienischen Insel Lampedusa. Im vergangenen Jahr kamen bei der Flucht über das Mittelmeer bis Anfang Dezember mehr als 2150 Menschen ums Leben. Foto: Oliver Weiken, dpa

    Das vergangene Jahr bietet reichlich Anschauungsmaterial für diesen Zusammenhang. Zusätzlich zu zeitweise mehr als einer Million Ukrainern, die in Deutschland Sicherheit suchten, wurden bis November in Deutschland mehr als 300.000 Asylanträge registriert – so viele wie seit 2016 nicht mehr, dem Jahr der großen Migrationskrise, dem Jahr nach Merkels umstrittenem „Wir schaffen das“. Gleichzeitig, auch das gehört zur Wahrheit, sterben weiterhin Tausende Menschen, die versuchen, Europa über das Mittelmeer oder auf anderem Weg zu erreichen. Mehr als 24.000 Tote wurden seit 2014 gezählt, im vergangenen Jahr kamen bei der Flucht über das Mittelmeer bis Anfang Dezember mehr als 2150 Menschen ums Leben. Migrationsforscher wie Ruud Koopmans nennen das europäische Asylsystem daher das „tödlichste Migrationssystem der Welt“.

    Verschärfungen liegen im europäischen Trend

    Doch darum geht es der AfD und den anderen Rechten in Europa weniger. Ihr Fokus liegt darauf, die Flüchtlingszahlen zu begrenzen, und genauso interpretierte die Bundespolitik die Wahlerfolge der AfD in Bayern und Hessen. Deutschland müsse „endlich im großen Stil diejenigen abschieben, die kein Recht haben, in Deutschland zu bleiben“, sagte Kanzler Scholz mit einem Mal markig. Beschleunigte Abschiebungen, späterer Anspruch auf Bürgergeld, besserer Grenzschutz – viele der Beschlüsse, die die Ampel-Regierung seit Herbst auf den Weg brachte, waren vor allem für die Basis des grünen Koalitionspartners eine Zumutung. Nur unter großen Schmerzen segnete der Parteitag die Ampel-Vorhaben ab. 

    Die Verschärfungen liegen im europäischen Trend. Großbritannien will Asylverfahren in Ruanda abhalten, Italien ein ähnliches Modell mit Albanien testen. Und sowohl Frankreich als auch die EU insgesamt einigten sich Ende des Jahres auf härtere Regeln für Migranten und Asylbewerber. Wie erfolgreich die neuen Regeln in der Praxis sein werden, ist völlig offen. „Es steht zu befürchten, dass sich der Rechtsschwenk in der Migrationspolitik stärker auf die politische Kultur des Landes auswirkt, als tatsächlich Kommunen, Institutionen und Zivilgesellschaft zu entlasten“, warnt der Soziologe Matthias Quent. In Deutschland etwa haben Migrationsexperten Zweifel, ob das Vorschlagbündel der Regierung durchschlagende Wirkung zu erzielen vermag. In einem internen Papier gelangen die Beamten im Bundesinnenministerium zu der Einschätzung, dass die Folgen der verschärften Bestimmungen zu den Rückführungen überschaubar bleiben dürften. Sie rechnen mit einem Plus von gerade mal 600 Abschiebungen – im Jahr. 

    Treiber der Verschärfungen in Deutschland, Frankreich und auf Ebene der EU war jeweils die Angst vor den Wahlerfolgen der Rechtspopulisten. Für AfD-Wähler sind das ermutigende Zeichen, für die Stabilität des Landes dagegen eher nicht. Denn AfD-Wähler sehen so, dass ihre Stimmen eben nicht einfach als Proteststimmen verloren sind, wie die etablierte Politik ihnen oft einzureden versucht. Im Gegenteil: AfD-Stimmen verändern tatsächlich die Politik – die der demokratischen Parteien. 

    Was man dem Aufstieg der Rechten entgegensetzen kann

    Wenn man wissen will, was man dem scheinbar unaufhaltsamen Aufstieg der Rechten entgegensetzen kann, bieten sich zwei sehr unterschiedliche Reiseziele an – Nordhausen in Thüringen, und Warschau, die Hauptstadt Polens. 

    Nachdem im thüringischen Landkreis Sonneberg Ende Juni zum ersten Mal ein AfD-Mann zum Landrat gewählt wurde und im Dezember ein Parteiloser für die AfD zum Oberbürgermeister von Pirna, sehen sich die Rechten schon im großen Umgang in die Rathäuser Ostdeutschlands einziehen. Dass es auch anders geht, zeigt der Fall Nordhausen. Dort hatte Oberbürgermeister Kai Buchmann in ersten Wahlgang gerade mal 24 Prozent geholt, AfD-Kandidat Jörg Prophet war mit 42 Prozent davongezogen. 

    Das Ergebnis wirkte offenbar wie ein Schock für die Bürger von Nordhausen. Ein Bündnis gesellschaftlicher Gruppen von Vereinen bis zu Künstlern drehte die Stimmung bis zur Stichwahl Ende September. Auch, dass sich ein Historiker daran machte, „den vermeintlichen Biedermann Prophet zu entlarven und anhand früherer Äußerungen die Nähe des Kandidaten zu Höcke und dessen rechtsextremer Linie aufzudecken“, half, wie unsere Zeitung schrieb.

    Die AfD hat es schwer, wenn die Gesellschaft zusammenrückt

    Die lokale Angelegenheit lässt zumindest zwei vorsichtige Schlüsse für das größere Bild zu: Wenn die demokratischen Parteien und Kandidaten ihren Zoff untereinander beenden, wenn die sogenannte Gesellschaft zusammenrückt und Gegenkräfte aktiviert, dann hat es die AfD schwer. Die Bereitschaft zum politischen Kompromiss, über Parteigrenzen hinweg, ist das beste Rezept gegen Rechtsaußen. 

    Und: Die Bürgerinnen und Bürger wollen mit ihrer Stimme für die AfD Signale senden, ausgewiesen Rechtsradikale an der Macht wollen sie dagegen eher nicht. Oder, wie es die Zeit einmal schrieb: Die Bürger wählen Leute, die rechts reden, nicht die, die rechts handeln. 

    Sieg gegen Rechts: Donald Tusk setzte sich bei der Wahl in Polen durch.
    Sieg gegen Rechts: Donald Tusk setzte sich bei der Wahl in Polen durch. Foto: Michal Dyjuk, dpa

    Auch wenn sich das nicht verallgemeinern lässt, mit Blick auf Polen stimmt die These. Dort gelang es dem früheren Ministerpräsidenten und ehemaligen EU-Ratspräsidenten Donald Tusk, in sein altes Amt zurückzukehren. Die erzkonservative PiS-Regierung, die über acht lange Jahre den Rechtsstaat ausgehöhlt und Grundwerte der EU verletzt hatte, unterlag Tusks Koalition. Für Europa kann das eine Zeitenwende sein, eine kleine jedenfalls. Sicher, mit Tusk meldet sich kein naiver Europafreund zurück. Die Polen haben wie die Menschen in vielen anderen Ländern ihre Probleme mit der EU, der überbordenden, ungezügelt auf die Mitgliedstaaten losgelassenen Bürokratie, der seit Jahren demonstrierten Unfähigkeit, die Migration wirkungsvoll zu steuern. Die Fundamentalopposition der PiS aber, diesen brachialen Konfrontationskurs, der das Land in unmittelbarer Nachbarschaft Weißrusslands und Russlands auch inhaltlich an den Rand der Gemeinschaft verortete, all dies lehnen auch die Polen nun mehrheitlich ab. 

    Viele rechtspopuläre Parteien reagieren übrigens seit geraumer Zeit auf die Erkenntnis, dass es der Wähler mit Blick auf Europa nicht ganz so radikal mag. Forderungen nach einem Austritt aus der EU erheben im Gegensatz zu früher derzeit weder Marine Le Pens Rassemblement National noch die AfD. In deren Programm zur Europawahl finden sich weder die Forderung nach einem Austritt Deutschlands noch, wie noch in vorbereitenden Texten, nach einer „geordneten Auflösung der EU“. 

    Der erste Testfall 2024 werden die Europawahlen im Juni

    Und, nach alledem, wie ist nun der Ausblick auf 2024? Nochmal nachgefragt bei Wahlforscher Jung. „Die Zersplitterung des deutschen Parteiensystems ist eine schlechte Nachricht, auch wenn sie die Normalität in vielen Nachbarländern abbildet“, sagt er. Der erste Testfall werden die Europawahlen im Juni. Hier droht eine Art perfect storm, wenn man Jung glauben darf. Wähler, die die etablierten Parteien satthaben, gehen zu einer Wahl, der sie – zu Unrecht – traditionsgemäß nicht allzu große Bedeutung beimessen. Das mögliche Ergebnis liegt nahe: „Viele Wähler werden versucht sein, neue Parteien aus ihrer Sicht völlig unverbindlich auszutesten“, so Jung. 

    Auch Manfred Weber testet, der Fraktionschef der Europäischen Volkspartei, zu der auch CDU und CSU gehören. Weber versucht schon länger, den erwarteten Rechtsruck im Europaparlament quasi vorwegzunehmen. Webers Kalkül: Schon jetzt stellen ausgesprochen rechtsstehende Parteien im europäischen Parlament rund 22 Prozent der 751 Abgeordneten. Bevor sich gemäßigte Rechte und extreme Rechte nach der nächsten Wahl verbünden, versucht er die, die noch zu gewinnen sind, lieber selbst einzubinden. Seit Monaten lotet er daher Bündnisse mit rechten Bewegungen aus, etwa mit Giorgia Meloni aus Italien. Das hat ihm schon den Ärger von CSU-Chef Markus Söder und CDU-Mann Friedrich Merz eingebracht. Doch im von deutschen Medien selten gründlich durchleuchteten europäischen Abseits macht Weber unbeirrt weiter mit seinem Projekt Mitte-Rechts-Allianz. 

    Auf Deutschland lässt sich das, zum Glück, nicht übertragen, noch nicht jedenfalls. „Die CDU würde ihre Seele verkaufen, wenn sie mit dieser Partei zusammenarbeiten würde“, sagte Friedrich Merz Ende September in Augsburg über die AfD. „Das sind Leute, die sich nicht klar und deutlich vom Nationalsozialismus distanzieren, Leute, die Europa abschaffen wollen, Leute, die mit Putin gemeinsame Sache machen wollen.“ Gemeinsame Politik? „Unvorstellbar!“ Die markigen Worte übertünchen freilich nur, dass sich CDU und AfD nicht nur in den Kommunen, sondern auch in Landtagen nicht groß um die Worte ihres Chefs scheren und punktuell sehr wohl gemeinsame Sache machen. Die Abstimmung über die Senkung der Grunderwerbssteuer in Thüringen im September, die CDU und AfD gemeinsam durchsetzten, ist nur ein Beispiel dafür.

    Ein Verbotsverfahren gegen die AfD vor dem Verfassungsgericht

    Marco Wanderwitz, Angela Merkels einstiger Mann für den Osten, bringt eine weitere Variante ins Spiel. Er will ein Verbotsverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht anstrengen, und sammelt die dafür nötigen Mitstreiter im Bundestag. Mit Mitteln der Politik allein, so sieht es der Sachse Wanderwitz, lässt sich die AfD zumindest im Osten Deutschlands nicht mehr kleinkriegen. „Die Mehrzahl der AfD-Wähler im Osten haben leider eine gefestigt rechtsradikale Gesinnung und sind für die Demokratie nicht mehr zu gewinnen“, sagt er. Der geschickte Einsatz sozialer Medien wie Tiktok und die inzwischen angesichts der Wahlerfolge zunehmend üppig sprudelnden Gelder der staatlichen Parteienfinanzierung tun ein Übriges dafür, dass sich die AfD im politischen System festgesetzt hat. 

    Dass sich die Ampel noch einmal fängt, darauf mag derzeit kaum jemand wetten. Die Frage ist nur, ob die beißend scharfe Opposition, die Friedrich Merz anführt, die richtige Antwort darauf ist – oder ob der so programmierte, abschreckende Dauerstreit der etablierten Parteien nicht noch weiterer Treibstoff für Rechtsradikale ist. Horst Seehofer, der ehemalige bayerische Ministerpräsident, plädiert für mehr Zusammenarbeit der etablierten Parteien. Seehofer denkt dabei nicht an einen vorzeitigen Regierungswechsel oder eine formale große Koalition. Aber er findet, dass sich Demokraten in schwieriger Lage helfen sollten. „Das Erstarken der AfD ist eine Antwort auf die Schwäche der Demokraten“, sagt er. Wenn die Politik das Vertrauen der Bürger zurückgewinnen wolle, müssten nun alle dabei mithelfen, schwierige Vorhaben wie den Haushalt umzusetzen. „Das gehört zur staatspolitischen Verantwortung.“ 

    Zusammenarbeit statt Zoff, die Sorgen der Menschen ernst nehmen, handwerklich gute Regierungsarbeit abliefern – all das gehört also in den großen Werkzeugkasten gegen Rechtsaußen. Wahlsieger Buchmann aus dem thüringischen Nordhausen beschreibt sein Erfolgsrezept gegen die AfD im Gespräch mit unserer Redaktion übrigens so: „Mal hinschauen, was die Leute bewegt. Und dann nicht nur reden, sondern auch mal den Nagel in die Wand kloppen.“ 

    Diskutieren Sie mit
    0 Kommentare
    Dieser Artikel kann nicht mehr kommentiert werden