Muskelschwund, Abbau der Knochenmasse, Schwächung des Immunsystems, Haltungsprobleme: Schon lange ist bekannt, dass Astronauten den spektakulären Blick ins All mit einer ganzen Reihe gesundheitlicher Probleme bezahlen können. Ein großes Studienpaket, veröffentlicht in Zeitschriften der Nature-Gruppe, beschreibt nun genauer, wie sich Raumfahrt auf die menschliche Biologie auswirkt.
Die Ergebnisse sind Teil des neuen „Space Omics and Medical Atlas“(SOMA): ein riesiges Kompendium von Daten für die Raumfahrtmedizin und Weltraumbiologie, welche aus einer Vielzahl von Missionen gewonnen wurden, darunter SpaceX Inspiration4, Polaris Dawn, Axiom, Nasa Twins und JAXA. Nach Ansicht der Autorinnen und Autoren des Leitartikels in Nature schließt SOMA eine Lücke: Immer ambitioniertere Ziele für die private Raumfahrt und staatliche Missionen würden dafür sorgen, dass sich eine wachsende Zahl von Menschen ins All wage. Hinzu kämen Pläne für den Bau von Raumstationen, Mondbasen und Marskolonien. „Während Innovationen in der Luft- und Raumfahrt diese Ambitionen technologisch realisierbar machen, müssen die biomedizinischen Herausforderungen für die Besatzungen in diesen außerirdischen Lebensräumen noch angegangen werden, da sich der Mensch nicht für das Überleben in solch extremen Umgebungen entwickelt hat.“
Es gibt noch kaum vergleichbare Daten zu den medizinischen Folgen
Insbesondere Langzeitaufenthalte im All stellten den Körper vor Herausforderungen, darunter ein Verlust an Knochendichte, Muskelmasse, Sehschärfe sowie gestörte Immunfunktionen und Blutarmut. „Bevor ein langfristiger Aufenthalt im Weltraum möglich ist, müssen diese biomedizinischen Herausforderungen entschärft werden“, heißt es weiter. Ein Problem dabei ist die schwierige Datenlage: So sei die Zahl der Menschen, die tatsächlich ins All geflogen sind, immer noch gering – entsprechend wenige und vor allem kaum vergleichbare Daten gebe es zu den medizinischen Folgen der Weltraumflüge. Deswegen hätten sich die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die aufkeimende kommerzielle Raumfahrt zunutze gemacht.
Schon ein viertägiger Weltraumflug hinterlässt Spuren
Tatsächlich beschäftigen sich mehrere Studien mit Erkenntnissen, die im Rahmen der Mission SpaceX Inspiration4 des US-Raumfahrtkonzerns SpaceX gewonnen wurden. Bei diesem Weltraumflug waren vier Laien drei Tage lang im „Dragon“-Raumschiff um die Erde gekreist. Das Schiff flog in einer Höhe von rund 580 Kilometern und damit sogar höher als die Internationale Raumstation (ISS). In der Studie beschreibt die Forschungsgruppe, dass schon dieser kurze Flug zu weitreichenden molekularen Veränderungen bei den vier Raumfahrern führte, von denen einige jenen ähnelten, die bei einem länger andauernden Weltraumflug aufträten. „Die gute Nachricht lautet: Die vielen beobachteten Veränderungen scheinen sich innerhalb kurzer Zeit nach der Rückkehr zur Erde wieder zu normalisieren“, sagte Leitautor Chris Mason von der Hochschule Weill Cornell Medicine in einem Pressegespräch. Und das gelte nicht nur für Raumfahrer, die über Jahre wie olympische Athleten für eine Mission trainiert hätten, sondern auch für die Laien-Crew. Eine überraschende Beobachtung ergänzte Susan Bailey von der Colorado State University, die zu Telomeren forscht: Telomere sind die Schutzkappen an den Enden der Chromosomen – sie verkürzen sich mit zunehmendem Alter, Stress oder durch Umweltfaktoren. Flüge ins All schienen dafür zu sorgen, dass sich Telomere verlängern, so Bailey – und das selbst bei der Inspiration4-Crew während ihrer kurzen Mission. „Wahrscheinlich ist das eine Reaktion auf die Strahlenbelastung im All.“ Nach der Rückkehr zur Erde seien die Telomere wieder geschrumpft und sogar kürzer geworden als zuvor. „Woran das liegt, wissen wir noch nicht“, bedauerte Bailey.
Das Studienpaket werfe auch einen Fokus auf Wissenslücken, die künftige Missionen schließen sollten, fügte Mason hinzu. Die Forschung an zivilen Raumfahrern biete dabei eine Reihe von Vorteilen, da sie eine größere Altersspanne und verschiedene medizinische Vorgeschichten abdeckten. „Das ist wichtig, weil in Zukunft mehr und mehr Menschen ins All reisen werden“, führte Mason aus. Schon jetzt deute sich an, dass physiologische Veränderungen bei Frauen schneller wieder in den Normalzustand zurückzukehren scheinen. Grundsätzlich weise die Forschung zu geschlechtsspezifischen Unterschieden in der Raumfahrt – und hier vor allem deren Folgen für das weibliche Fortpflanzungssystem – aber noch weiße Flecken auf, so das Fazit einer weiteren Arbeit.
"Das Weltall ist ein Altersbeschleuniger"
Vieles, was in der medizinischen Weltraumforschung untersucht werde, könnte auch auf der Erde helfen, merkte Afshin Beheshti vom Blue Marble Space Institute of Science an: „Das Weltall ist ein Altersbeschleuniger, schauen wir uns Probleme wie Osteoporose oder Muskelschwund an.“ Hinzu komme die größte Belastung in Form der kosmischen Strahlung, so Bailey: „Die entsprechende Forschung würde auch der Forschung zur Strahlenbelastung auf der Erde zugutekommen, Stichwort Fukushima.“
Um die körperlichen Veränderungen der vier Privat-Raumfahrer von Inspiration4 zu verfolgen, wurden mehrere Smartwatches und neue Diagnosegeräte eingesetzt, wie eine dritte Studie beschreibt. Dazu gehörte ein miniaturisiertes, in der Hand gehaltenes Ultraschallgerät, das Bilder von Harnblase, innerer Halsvene und Augen machte. Auf diese Weise wurden mehr als 100 000 gesundheitsbezogene Daten gesammelt. Neben kurzzeitigen Veränderungen auf molekularer Ebene beschreibt die Arbeit auch ein irdisches Problem: Zwei Mitglieder der vierköpfigen Besatzung litten unter Reisekrankheit im Weltraum. Insgesamt deuteten die vorläufigen Daten aus der zivilen Raumfahrt aber darauf hin, dass Kurzzeitmissionen kein großes Gesundheitsrisiko darstellen.
Eines der Probleme für Raumfahrer: Die Entstehung von Nierensteinen
Wie die Autorinnen und Autoren selbst einschränken, beruhe ihre Arbeit auf den Daten von nur vier Raumfahrern: Daher könne ihr Datensatz nicht als Grundlage für sichere Rückschlüsse auf medizinische Phänomene interpretiert werden. Eine weitere Studie warnt vor Gefahren speziell für die Nieren, die von Langzeitmissionen wie etwa einer Reise zum Mars ausgehen würden. Schon lange ist bekannt, dass die Entstehung von Nierensteinen zu den Problemen der Raumfahrt gehört. Ein Forschungsteam unter britischer Leitung untersuchte nun anhand von über 40 Weltraummissionen sowie Versuche mit Ratten und Mäusen, wie die Nieren auf Raumflüge reagieren. Demnach sorgt insbesondere die Mikrogravitation dafür, dass sich die Art, wie die Nieren Salze verarbeiten, im All grundlegend verändert. Das sei wahrscheinlich die Hauptursache für die Nierensteine. Alarmierend dabei: Die Nieren der Mäuse in den Experimenten wurden dauerhaft geschädigt und verloren ihre Funktion. „Wenn wir keine neuen Methoden zum Schutz der Nieren entwickeln, würde ich sagen, dass ein Astronaut es zwar bis zum Mars schaffen könnte, aber auf dem Rückweg eine Dialyse benötigt“, bilanziert Erstautor Keith Siew. Der leitende Autor Stephen Walsh ergänzt: „Man kann die Nieren nicht mit Abschirmungen vor der galaktischen Strahlung schützen, aber wenn wir mehr über ihre Biologie erfahren, ist es vielleicht möglich, technologische oder pharmazeutische Maßnahmen zu entwickeln, die längere Weltraumreisen erleichtern.“ Zudem könnten für Astronauten entwickelte Medikamente auch auf der Erde von Nutzen sein, indem sie etwa die Nieren von Krebspatienten in die Lage versetzten, höhere Strahlendosen zu vertragen.
Die Schwerelosigkeit beeinträchtigt auch die Immunzellen
Eine andere Studie prüfte die Auswirkungen der fehlenden Schwerkraft auf das Immunsystem. Dafür setzte eine Gruppe unter Leitung des US-amerikanischen Buck-Instituts zur Erforschung des Alterns menschliche Zellen 25 Stunden künstlicher Schwerelosigkeit aus. Kombiniert mit Daten anderer Weltraumstudien an Menschen und Mäusen zeichneten sie nach, wie die Schwerelosigkeit Immunzellen beeinträchtigt – nämlich indem sie auf mehrere Gene und biochemische Stoffwechselwege wirkt. Auf der Suche nach Medikamenten oder Nahrungsergänzungsmitteln, welche die Immunzellen schützen könnten, stießen sie auf das Pflanzenpigment Quercetin, das etwa in roten Zwiebeln, Trauben, Beeren, Äpfeln und Zitrusfrüchten vorkommt. Es konnte nach Angaben der Forschungsgruppe ungefähr 70 Prozent der durch den Mangel an Schwerkraft verursachten Veränderungen rückgängig machen.
Insgesamt, so die Autorinnen und Autoren des Leitartikels, könne die Nutzung der Datensätze, Werkzeuge und Ressourcen in SOMA dazu beitragen, die Präzisionsmedizin in der Raumfahrt zu beschleunigen, die Gesundheitsüberwachung und Risikominderung zu verbessern und Basisdaten für bevorstehende Mond-, Mars- und andere Weltraummissionen zu liefern. US-Experte Mason ist jedenfalls überzeugt: „Das ist der Beginn der Präzisionsmedizin im All.“ (Alice Lanzke, dpa)