Pro: Nach der weihnachtlichen Nähe räumliche Distanz schaffen
In den Billigflieger setzen oder gar eine Karibik-Kreuzfahrt buchen, um dem Winter zu entkommen? Das ist doch dekadent angesichts der hohen Energiepreise. Verwerflich angesichts des Klimawandels. Und überhaupt, der Krieg. Wer dann noch im All-inclusive-Hotel eincheckt, statt herumzutingeln und sich für die Kultur des Landes zu interessieren, sitzt mit doppelt schlechtem Gewissen am Strand. Weil doch so vieles dagegen spricht, jetzt die Koffer zu packen und in die Sonne zu flüchten.
Aber auch so vieles dafür. Wo ließen sich das weihnachtliche Familienchaos, die misslungenen Geschenke und Streitgespräche über Klima-Kleber, Gendersternchen und Fußball-WM besser vergessen als in der Ferne? Nach all der Nähe räumliche Distanz zu schaffen kann äußerst erholsam sein. Statt in alte Muster zu verfallen und sich darüber zu ärgern, dass man immer noch raucht anstatt fünf Kilometer zu joggen, bringt einen das Reisen direkt auf andere Gedanken.
Das Gewohnte wird unterbrochen. Man erkundet unbekannte Orte, trifft neue Leute und sammelt Erinnerungen, noch bevor dass Jahr richtig begonnen hat. Je nach Urlaubsland lässt sich das sogar ohne die Massen an Touristen erleben, die sich sonst an Sehenswürdigkeiten vorbeischieben. Ist ja Nebensaison.
Und überhaupt, mit so einer mentalen Auszeit startet man doch gleich viel entspannter ins neue Jahr. So ein bisschen Sonne und Glückshormone können nicht schaden, allzu rosig sind die Aussichten ja nicht. Und das Beste am Urlaub in der Ferne: Man entkommt auch gleich dem hiesigen Gejammere über verregnete Wochenenden, fehlenden Schnee und darüber, dass beim Skifahren wieder nur der sulzige Kunstschnee auf der Piste lag. (Felicitas Lachmayr)
Contra: Analoge Erfahrung machen und den Wechsel der Jahreszeiten miterleben
Die moralische Argumentation kann hier ergänzen, wer will. Dass es, vorsichtig gesagt, doch Gründe gibt, das Reisen aus reiner Lust und Laune einzuschränken, könnte man inzwischen augenfällig finden. Die aber erscheinen so selbstverständlich, dass es nichts mehr bringt, sie wieder und wieder wiederzukäuen. Darum seien sie hier schlicht ersetzt mit dem charmanten Weckruf: Hallihallo, hallöle!
Es ließe sich auch noch ergänzen, dass – siehe der Silvesterfrühling eben – Fachleute inzwischen eh sagen, dass wir es im Zuge des Klimawandels statt mit Wetterkapriolen bereits mit einer neuen Normalität zu tun haben: Und warum dagegen noch an stumpfen Gemütsreflexen festhalten, die an einer alten Normalität gebildet sind, die es nicht mehr gibt?
Viel interessanter ist: Wer meint, in genehmeres Wetter entfliehen zu müssen, beraubt sich in diesen zusehends virtueller werdenden Zeiten einer der grundlegendsten analogen Erfahrungen. Wir – die wir doch gerne mit vier Jahreszeiten leben, warum sonst leben wir hier? – erleben den natürlichen Wandel gemeinsam, versuchen, die jeweiligen Eigenheiten zu genießen, halten im Winter aber auch durch und verdienen uns so die Rückkehr bleibender Sonne und Wärme, erleben dann die Erlösung durch den Frühling, blühen mit auf.
Wer meint, das nach Gusto ein- und ausblenden zu können, hat das Recht verwirkt, mit anderen in geteilter Ausgesetztheit über das Wetter reden zu dürfen – eines der existenziellen Felder des Zusammenlebens. Und verabschiedet sich dafür in eine (untergehende) Welt der frei wählbaren Umstände, die es künftig bloß noch in der Computer-Animation geben wird. Na dann: Hallihallo – und tschüss! (Wolfgang Schütz)