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Paläoanthropologie : Die Entdeckung von Lucy vor 50 Jahren: „Wie ein Sechser im Lotto“

Paläoanthropologie

Die Entdeckung von Lucy vor 50 Jahren: „Wie ein Sechser im Lotto“

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    Eine Nachbildung des Skeletts „Lucy“ steht im Frankfurter Senckenberg-Museum in einer Vitrine.
    Eine Nachbildung des Skeletts „Lucy“ steht im Frankfurter Senckenberg-Museum in einer Vitrine. Foto: Silas Stein, dpa

    Die Entdeckung des Neandertalers 1856 bei Düsseldorf, der Fund des Kinds von Tagung 1924 in Südafrika, der Nachweis, dass sich Homo sapiens und Neandertaler vermischt haben, im Jahr 2010: Etliche bahnbrechende Erkenntnisse haben die Paläoanthropo-logie revolutioniert. Aber keines fand einen solchen öffentlichen Widerhall wie der Fund von Lucy Ende 1974 im ostafrikanischen Afar-Dreieck.

    „Lucy war 1974 das vollständigste jemals entdeckte Skelett eines frühen Homininen“, erläutert Tracy Kivell, Direktorin am Leipziger Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie. „Jedes Fossil ist ein Glücksfall“, ergänzt Ottmar Kullmer, Leiter der Abteilung Paläoanthropologie am Senckenberg Forschungsinstitut in Frankfurt am Main. „Aber dieser Fund war wie ein Sechser im Lotto.“ Neben der Vollständigkeit des Skeletts verweist der Paläoanthropologe auf dessen guten Erhaltungszustand sowie auf das hohe Alter – schon damals als über drei Millionen Jahre alt erkannt.

    Heiß, staubig, trocken – deswegen blieb das unwirtliche Afar-Dreieck lange unerforscht

    Heiß, staubig, trocken: Das Afar-Dreieck ist eine überaus unwirtliche Ecke des Planeten. Das ist wohl auch ein Grund dafür, dass diese entlegene Tiefebene, die überwiegend zu Äthiopien gehört, lange unerforscht blieb. Gleichzeitig ist das Gebiet Teil des Ostafrikanischen Grabens mit seinen tektonischen Verwerfungen – hier liegen teils Millionen Jahre alte Fossilien dicht an der Erdoberfläche.

    So war es auch ein Geologe, der Franzose Maurice Taieb, der die hügelige und stark erodierte Hadar-Formation im Süden des Dreiecks um 1970 erkundete. Er lockte den US-Paläoanthropologen Donald Johanson in diese Einöde im Nordosten Äthiopiens, in der es von Säugetierfossilien – darunter Elefanten, Flusspferde, Antilopen, Affen, Pferde, Hyänen und Nagetiere – nur so wimmelte.

    Der US-amerikanische Paläoanthropologe und Entdecker des Skeletts «Lucy», Donald C. Johanson im Jahr 2018 bei einem Besuch im Senckenberg-Museum.
    Der US-amerikanische Paläoanthropologe und Entdecker des Skeletts «Lucy», Donald C. Johanson im Jahr 2018 bei einem Besuch im Senckenberg-Museum. Foto: Silas Stein, dpa

    Denn einst, vor Millionen von Jahren, erstreckte sich hier eine Fluss- und Seenlandschaft, mit Galeriewäldern in den Uferbereichen, wie Kullmer betont. Günstige Lebensräume für zahllose Säugetiere, darunter – wie sich noch zeigen sollte – auch Hominine, also Ahnen und Verwandte des heutigen Menschen. „Es schien ein vielversprechendes Gebiet, um nach frühen menschlichen Vorläufern zu suchen“, schrieb Johanson mit seinem äthiopischen Kollegen Yohannes Haile-Selassie kürzlich im Magazin Scientific American. Sollte man dort Fossilien von Homininen finden, „könnten sie zu unserem Verständnis zur Entstehung von Menschen beitragen“.

    Ein erster spektakulärer Fund: ein etwa 3,4 Millionen Jahre altes Kniegelenk

    Schon 1973 machte Johanson den ersten spektakulären Fund: ein etwa 3,4 Millionen Jahre altes Kniegelenk. Es belegte, dass damalige Hominine schon aufrecht gingen. Die eigentliche Sensation folgte aber ein Jahr später: Durch einen Zufall entdeckte Johanson mit dem Postdoc Tom Gray am 24. November 1974 einen in der Erde liegenden Unterarmknochen. Kurz danach fand er Dutzende weitere Knochenreste, insgesamt repräsentierten die 47 Teile etwa 40 Prozent des Skeletts des Individuums, schreibt er.

    Auch wenn dieser Anteil etwas hoch gegriffen erscheint – ein solcher Fund ist eine absolute Seltenheit in einer Disziplin, die Erkenntnisse oft aus einzelnen Zahn- und Knochenfragmenten ableiten muss. Lucys Körper war damals offenbar schnell von Ablagerungen abgedeckt und konserviert und zudem nicht von Wassermassen weggetragen worden. Heute weiß man, dass Lucy vor knapp 3,2 Millionen Jahren lebte. Zum Vergleich: Der Homo sapiens ist etwa 300.000 Jahre alt.

    Ein Beatlessong lieferte den eingängigen Namen Lucy

    Möglicherweise wäre der Fund nie so berühmt geworden, wäre man bei der wissenschaftlichen Bezeichnung A.L.288-1 geblieben – die Abkürzung AL steht für Afar locality. Doch beim abendlichen Feiern des sensationellen Erfolgs spielte das Team immer wieder den Beatles-Song „Lucy In The Sky with Diamonds“, und daraus resultierte der eingängige Name Lucy. Der steht inzwischen auch – als Referenz an den Fund – Pate für die Namen eines französischen Science-Fiction-Films aus dem Jahr 2014 und einer 2021 gestarteten US-Raumsonde.

    Ein Rückblick: Schon vor 1974 war die lange Entstehungsgeschichte des Menschen bekannt. „Man wusste damals, dass Menschen und Schimpansen vor sechs bis sieben Millionen Jahren einen gemeinsamen Vorfahren hatten“, erläutert Kullmer. Schon 1924 hatten Forscher in Südafrika das Kind von Taung entdeckt, ein gut erhaltenes Schädelstück eines mehr als zwei Millionen Jahre alten Australopithecus africanus. In den 1930er Jahren folgte der grob zwei Millionen Jahre alte Paranthropus, später dann in Ostafrika der 1,8 Millionen Jahre alte Homo habilis.

    Lucy war vermutlich eine junge Frau, etwa 1,10 Meter groß und 30 Kilogramm schwer

    Doch Lucy war ein deutlich älteres Bindeglied in der Ahnengalerie des Menschen. Zudem enthüllte der Fund weitreichende Erkenntnisse zu der auf den Namen Australopithecus afarensis getauften Art. Lucy war vermutlich eine junge erwachsene Frau, etwa 1,10 Meter groß und gut 30 Kilogramm schwer. Mit einem Volumen von 388 Kubikzentimetern hatte ihr Gehirn nur grob ein Drittel der Größe des heutigen Organs moderner Menschen (1.250 Kubikzentimeter) – und entsprach etwa der Größe bei heutigen Schimpansen. Besonders wichtig aber war der auf Knochenanalysen vor allem des Beckens beruhende Nachweis, dass Lucy auf zwei Beinen lief: Zusammengenommen bedeutete dies, dass menschliche Vorläufer schon damals aufrecht gingen, und dass das deutliche Gehirnwachstum erst später folgte.

    In die gesicherten Erkenntnisse mischen sich zuweilen Spekulationen: Eine 2016 im Fachblatt Nature veröffentlichte Studie will sogar die Todesursache ermittelt haben: Lucy sei aus etwa 12 Metern Höhe von einem Baum gestürzt, schrieb ein Team um John Kappelman von der University of Texas in Austin nach der Analyse vermeintlich vom Aufprall herrührender Frakturen. „Lucy war nicht mehr einfach nur eine Schachtel voller Knochen, sondern wurde im Tod zu einem realen Individuum: ein kleiner, zerstörter Körper, der hilflos am Fuße eines Baumes liegt“, erklärte Kappelman damals in einer Pressemitteilung. Andere Forscher – darunter Johanson – wiesen diese Deutung entschieden zurück.

    1976 wurde eine „first family“ entdeckt, die etwa zur gleichen Zeit wie Lucy lebte

    Nach der Entdeckung von Lucy fanden Grabungen – vor allem in der Hadar-Region, aber auch in Tansania, Kenia und im Tschad – Dutzende von Artgenossen: 1976 an einem Ort etwa 240 Knochenreste, die zu insgesamt 17 Individuen unterschiedlichen Alters gehören. Diese „first family“ lebte etwa zur gleichen Zeit wie Lucy. Ähnlich spannend sind Funde vieler anderer Homininen-Arten: Sie zeigten, dass verschiedene Hominine teilweise sogar gleichzeitig gleiche Gebiete bewohnten. Angesichts heutiger Erkenntnisse, denen zufolge noch vor weniger als 100.000 Jahren verschiedenste Vertreter der Gattung Homo – Homo sapiens, Neandertaler, Denisova-Mensch, Homo florensis, Homo luzonensis – auf der Erde lebten und sich teilweise sogar miteinander vermischten, erscheint dies inzwischen fast banal.

    In ihrer Heimt Äthiopien trägt Lucy einen anderen Namen: Dinkinesh, die Wunderbare

    Ungeachtet der vielen Erkenntnisse bleiben viele Fragen offen: Benutzte Australopithecus afarensis bereits Werkzeuge? Möglich sei dies durchaus, sagt Kullmer, denn in Ostafrika gab es einfache Steinwerkzeuge schon vor mehr als drei Millionen Jahren. Ob A. afarensis – und mithin Lucy – ein direkter Vorfahre des Menschen ist, weiß niemand. „Aber zweifellos ist diese Spezies eine Schlüsselart in der Geschichte“, betont Kullmer. Die vielen Funde deuten darauf hin, dass Individuen dieser Spezies, die grob vor 4 bis vor 3 Millionen Jahren lebte, extrem variabel waren. Lucy zählt zu den kleinsten Vertretern, andere – insbesondere Männer – waren wesentlich größer.

    Nach der Entdeckung wurden die Knochen von Lucy jahrelang in den USA aufbewahrt. Im Jahr 2013 kehrten sie endgültig zurück nach Äthiopien, wo sie nun in der Hauptstadt Addis Abeba im Nationalmuseum in einem Safe verwahrt liegen. Einen detailgetreuen Abguss zeigt das Frankfurter Senckenberg-Museum.

    In ihrer Heimat Äthiopien trägt Lucy übrigens einen anderen Namen: Das aus dem Amharischen stammende Wort Dinkinesh mag für westliche Ohren weniger eingängig klingen, hat aber eine schönere Bedeutung: die Wunderbare. Der Name Dinkinesh stand ebenfalls Pate, für den Asteroiden 152830, zwischen den Planetenbahnen von Mars und Jupiter. Der bekam vor knapp einem Jahr Besuch: von der US-Raumsonde „Lucy“. (Walter Willems, dpa)

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