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Nachruf auf die Radiosendung "„Jazz&Politik“ in BR 2

Hörfunk

Der BR und die selbst verschuldete Unmündigkeit

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    Immer anspruchsvoll anregendes Radio war das: Musik mit Drive, Gedanken mit Kante – Feuilleton im besten Sinne.
    Immer anspruchsvoll anregendes Radio war das: Musik mit Drive, Gedanken mit Kante – Feuilleton im besten Sinne. Foto: Adobe Stock

    Der Bayerische Rundfunk: Sender, Kontrolle, Strategie

    Bayerischer Rundfunk Der BR ist eine von neun Landesrundfunkanstalten der 1950 gegründeten Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten der Bundesrepublik Deutschland, kurz ARD. Hinzu kommt der Auslandsrundfunk Deutsche Welle. Der BR beschäftigt etwa 5200 Mitarbeitende. Zu ihm gehören unter anderem zwei TV-Programme (BR Fernsehen, ARD alpha), fünf Hörfunkwellen, mehrere digitale Radiostationen, zwei Orchester und ein Chor. Im Wirtschaftsplan 2023 stehen Erträgen von 1134,9 Millionen Euro Aufwendungen von 1175,3 Millionen Euro gegenüber. Dies ergibt einen Fehlbetrag von 40,4 Millionen.

    Rundfunkrat Er ist neben dem Verwaltungsrat das maßgebliche Kontrollgremium des BR und wacht über die Erfüllung des Programmauftrags. Seine 50 Mitglieder vertreten relevante politische, weltanschauliche und gesellschaftliche Gruppen im Freistaat und werden von diesen für je fünf Jahre entsandt. Sein Vorsitzender ist der frühere Präsident der Otto-Friedrich-Universität Bamberg, Prof. Dr. Dr. Godehard Ruppert.

    Programmstrategie Laut Björn Wilhelm, Programmdirektor Kultur, setzt der BR eine „umfassende Programmstrategie“ um, die in beiden Programmdirektionen, Kultur und Information, gemeinsam mit den Redaktionen erarbeitet wurde. „Wir haben uns dabei vier Ziele gesetzt, um zukunftssicher zu sein: Der BR soll erkennbarer werden, generationengerecht, einzigartig und hintergründig.“

    ARD alpha Zur Zukunft von ARD alpha unter Federführung des BR erklärte Wilhelm im Gespräch, dass aktuell „konzeptionelle Überlegungen“ liefen, denen er nicht vorgreifen wolle. Eine Entwicklung hin „zur besseren Nutzungsmöglichkeit unserer Inhalte, orts- und zeitunabhängig“, stehe längst auf der Tagesordnung. Zugleich betonte Wilhelm: „Alle Menschen bezahlen uns, also sollte es auch für alle ein wertvolles Angebot geben, auf möglichst vielen Nutzungswegen.“ Rundfunkratsvorsitzender Ruppert sagte unserer Redaktion: „ARD alpha ersatzlos zu streichen, träfe sicher auf Widerstand im BR-Rundfunkrat. Das wird derzeit aber nicht diskutiert. Vielmehr geht es um die digitale Transformation des Angebots. ARD alpha als die Wissensplattform der ARD zu etablieren, würde sicher die breite Unterstützung des Gremiums finden.“ (wida)

    Es gibt heutzutage viel künstliche Intelligenz, auch noch natürliche Dummheit, und es gibt die sogenannte Reform der Kulturwelle Bayern 2. Die Verlautbarung von Björn Wilhelm, sogenannter Programmdirektor Kultur des , dazu liest sich jedenfalls, als habe ChatGPT sie gecodet. Das darin mit viel Marketing-Sprech angepriesene neue BR-2-Programm ist gedankenloser, als es der GEZ-Zahler gestatten sollte. Was sich allein schon dadurch begründet, dass es die Sendung „Jazz&Politik“ nun nicht mehr gibt. Das wohl beste politische Feuilleton, das es im Freistaat (und weit darüber hinaus) in den letzten rund 20 Jahren zu hören gab – abgesetzt. Was Wilhelm (oder wer in der postenreichen BR-Landschaft sonst dafür verantwortlich zeichnet) samstags so ab 17.05 Uhr erledigt hat, bleibt seine Angelegenheit. Allzu oft aber kann er Moderator Lukas Hammerstein, dessen Autoren und den von Musikredakteur Roland Spiegel sorgfältig ausgewählten Jazzstücken nicht zugehört haben, denn sonst gäbe es diese Sendung noch. 

    Feuilleton braucht Texte, die dem Grau verpflichtet bleiben

    Ein Zeichen der Zeit ist doch: Je unübersichtlicher es wird, je schriller die Debatte, je kürzer die Posts, desto wichtiger sind Formate, die ausholen, ausführlich argumentieren, andere Meinungen gelten lassen, sind Texte, die zweifeln, wägen, unfertige (aber differenziert geäußerte) Meinungen akzeptieren, die dem Grau verpflichtet bleiben. Kluge (nicht nur angesagte) politische Autoren und Philosophen kamen hier Woche für Woche zu Wort, wurden eben nicht nur zitiert, sondern in ausführliche Passagen verlesen. 

    Auch Pop-Sängerin Taylor Swift war schon Thema bei der BR-Sendung "Jazz&Politik".
    Auch Pop-Sängerin Taylor Swift war schon Thema bei der BR-Sendung "Jazz&Politik". Foto: Danish Ravi/Zuma Press, dpa

    Der Sound (für jene, die viel verpasst haben) war im Titel zum Beispiel so: „Politisches Feuilleton – ist das nicht ein Witz? Eine contradictio in adiecto? Ein radikaler Widerspruch? Aber ja: radikal! Und Widerspruch! Und jähes Einverständnis, das schon auch einmal.“ Oder zwei ... Und diese Titel hielten, was sie versprachen. Als schon längst klar war, dass es vorbei sein würde, mit der Sendung, reflektierten Hammerstein & Co die „Unschärferelationen“ ihres Tuns in drei famosen Folgen. In der Zweiten ging es um die „Ausweitung des Politischen“. Darin enthalten nicht nur eine Würdigung der im besten Sinne bodenständigen Lokalpolitik, eine Analyse der politischen Macht von Taylor Swift, sondern etwa auch eine Passage aus dem Werk („Zukunft – eine Bedienungsanleitung“) der deutsch-französischen Politikwissenschaftlerin Florence Gaub. Sie schreibt (und wir zitieren hier im besten Jazz&Politik-Style lang): „Nicht Zukunftsvorausschau ist Pflichtfach in der Schule, sondern Geschichte. Auch an den Universitäten sieht es nicht besser aus. Es wird grundsätzlich mehr Können gelehrt als Denken, und das Denken, das gelehrt wird, ist konvergent. Fächer wie Kunst, Literatur, Philosophie oder Nichtstun würden die für die Zukunftsfähigkeit wichtige Vorstellungskraft fördern, werden aber meist als zweitklassig, da nutzlos auf dem Arbeitsmarkt, angesehen. Die meisten unserer Religionen sind rückwärtsgewandt, predigen eine Rückkehr in ein verlorenes Paradies, nicht eine bessere Zukunft. Und natürlich fördert das 21. Jahrhundert mit seiner Sucht nach dem Unmittelbaren – Tweets, Quartalsberichte, Wahlzyklen – die Kurzfristigkeit und neigt dazu, der Zukunft die Probleme der Gegenwart aufzuhalsen.“ 

    BR-Sendung "Jazz&Politik" lehrt das Denken oder regt dazu an

    Was aber wäre besser geeignet, sich für diese Zukunft zu wappnen, als eine gute Stunde des Nebenbei-Mediums Radio, als eine Sendung, die das Denken lehrt oder doch zumindest dazu anregt (während man das Rennrad putzt, Gemüse schnippelt oder die Märzhagelkörner auf der Fensterbank zählt)? Oder eben nichts tut? Was wäre wichtiger als ein öffentlich-rechtlicher Rundfunk, der seinen jungen Hörerinnen und Hörern, den „neuen digitalen Zielgruppen“, etwas zutraut? Der reichweitenstark und immer noch sehr üppig finanziert viel mehr für die Debattenkultur und damit den Erhalt der Demokratie tun kann und sollte als der Rest der verklickten Branche? 

    Der letzte Beitrag, nach gut zwei Jahrzehnten, war ein Essay von Christian Schüle. Titel: „Aufklärung? Hier wird nichts mehr flachgelegt. Ein Essay auf Stelzen“. Ein treffsicheres, pointiert formuliertes Vermächtnis. Kann und sollte man in der ARD-Audiothek nachhören. Ab diesem Samstag folgt um 17.05 Uhr erstmalig „Der politische Podcast“, wie das neue Format nun heißt. Jeder hat seine Chance verdient, ganz im Ernst. Aber um die Frequenz von Jazz&Politik reinzubekommen, wird es ein sehr feines Händchen brauchen. 

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