Eine Erfolgsgeschichte in Reimform: So eroberte der Hip-Hop die Musikwelt

Foto: Bernd Rottmann (Archivbild)
16.07.2023

Hip-Hop – das ist mehr als Goldketten und Bling-Bling. Vor 50 Jahren aus dem Getto erwachsen holt das Genre die Jugend von der Straße und die Straße auf die größten Bühnen. Eine Zeitreise.

Wüsste man nicht, dass der Ort historisch ist, er würde es von außen betrachtet für sich behalten. 1520 Sedgwick Avenue, Bronx. Es ist eines dieser Gebäude aus rotem Backstein, wie es sie in New York City abseits des touristischen Manhattan häufig gibt. 17 Stockwerke Einheitsbau – schmucklos, aber funktional. Fenster und Balkone wirken wie abgezählt und einsortiert. Hinter der Fassade wird statt gelebt überlebt. Das Überleben war vor 50 Jahren in der Bronx ein täglicher Kampf: In Manhattan teure Kleider und Discomusik, in der Bronx Jogginghosen und Sirenengeheul. Manhattan tanzte, die Bronx brannte. 1974 gab es dort mehr als 12.300 Brände, Morde, kaum Jobs. Der Stadtteil kämpfte mit Verfall, Deindustrialisierung und Stadtflucht – alles begleitet vom tief verankerten Rassismus in der Gesellschaft. Zurück blieben Afroamerikanerinnen und -amerikaner ohne große Perspektive. Die Bronx versank im Chaos, und die Politik schaute zu.

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Foto: Christina Horsten, dpa (Archivbild)
Foto: Christina Horsten, dpa (Archivbild)

1520 Sedgwick Avenue – dem Mythos nach der Geburtsort des Hip-Hops im New Yorker Stadtteil Bronx.

Die Geburt des Hip-Hop

Jugendliche wollten diesem Alltag entfliehen, zumindest für einige Stunden etwas Unbeschwertheit – und fanden sie auf Block-Partys. Eine solche Party veranstaltete DJ Kool Herc in jenem Backstein-Haus in Ufernähe des Harlem River am 11. August 1973. Es war ein heißer Sommertag in New York, selbst nachts sanken die Temperaturen nicht unter 20 Grad. Die Einrichtung war provisorisch: Statt auf Stühlen saßen Gäste auf Kisten, statt teurer Technik und Instrumente gab es ein DJ-Pult und die eigene Stimme. Tänzer kamen ebenso zur Party wie Mörder. Erst später sollte sich herausstellen, dass sie alle Zeugen waren, wie Musikgeschichte geschrieben wurde. Der Hip-Hop wird geboren. So besagt es der Mythos.

Sprung in die Jetztzeit, München, vergangenes Wochenende. Aus den kleinen Partys in der Bronx sind Festivals geworden. Auf dem Messegelände feiern Zehntausende die erste Ausgabe des "Rolling Loud" – das größte Hip-Hop-Festival der Welt – auf deutschem Boden. Die Sonne brennt unnachgiebig auf die Tank-Tops. Bilder zeigen Sporttrikots und Cappys im überwiegend jungen Publikum. Es gibt auch weniger schöne Momente an diesem Wochenende: Laut Polizei fliegen Steine und Flaschen. Zuschauerinnen und Ordner werden verletzt. Einzelne Konzerte müssen unterbrochen und abgesagt werden. Das Festival steht kurz vor dem Abbruch. Das Gewaltproblem hat es im Hip-Hop immer gegeben, denn es ist die Geschichte einer jungen Generation – zwischen Hoffnung und Hoffnungslosigkeit, zwischen Auflehnung und Akzeptanz, zwischen Ausgrenzung und Identifikation, zwischen Party und Gewalt.

Hip-Hop in den 70ern, das war neu, das klang anders, das war innovativ. Die Pioniere der neuen Musikrichtung seien zu dieser Innovation quasi gezwungen worden, sagt Sina Nitzsche, Gründerin des European Hiphop Studies Networks – eine Gruppe aus Künstlern und Forscherinnen, die das Ziel hat, Wissen über die Hip-Hop-Kultur zu teilen und zu vertiefen. "Wegen der fehlenden Finanzierung an Schulen hat keine musikalische Bildung stattgefunden. Dadurch haben Jugendliche einen anderen Bezug zu musikalischen Praktiken und Instrumenten entwickelt." 

So wie Kool Herc. Der DJ mit jamaikanischen Wurzeln hinterlässt der Musikwelt mehr als die Geburtstagsparty des Hip-Hops. Er und Grandmaster Flash revolutionieren das DJing – neben MCing (Sprechgesang), B-Boying (Breakdance) und Graffitikunst eines der vier Grundelemente des Hip-Hops. Während Herc als Erster auf die Idee kommt, kurze Beats aus Liedern zu isolieren und sie quasi endlos zu verlängern, perfektioniert Grandmaster Flash die Technik, mixt Songs ohne störende Übergänge ineinander und erschafft neue Lieder, indem er Gesang und Beats zweier Songs miteinander kombiniert. Der Plattenspieler wird zum Instrument.

Hip-Hop entsteht als Alternative zur glanzvollen Discowelt. Die Musikrichtung hat von Beginn an eine politische Färbung. Junge Afroamerikanerinnen und -amerikaner merken, dass sie sich den Respekt auf der Straße auch auf legalen Wegen verschaffen können – etwa durch Tänze und gereimte Texte. Der New Yorker DJ Afrika Bambaataa holt den Straßenkampf auf die Bühne. Er gründet die "Zulu Nation", und ihm gelingen damit gleich zwei Dinge: Die Organisation bringt nicht nur zahlreiche Künstlerinnen und Künstler zusammen, sondern auch die Straßengangs, deren Mitglieder sich zuvor wegen Nichtigkeiten getötet hatten. Wer in die "Zulu Nation" will, löst seine Konflikte fortan auf der Bühne oder Tanzfläche. So formt Bambaataa aus den Anhängern der vier Grundelemente des Hip-Hops eine Gemeinschaft. Sein Beitrag zur Subkultur ist unumstritten, seine Person jedoch nicht: In den vergangenen Jahren ist ihm mehrfach Kindesmissbrauch vorgeworfen worden.

Der erste Hit gelingt einer Band, die optisch wenig mit dem bisherigen Hip-Hop zu tun hat. Die Sugarhill Gang veröffentlicht 1980 das Lied "Rapper's Delight". Im Musikvideo tanzt das Trio unter drehenden Discokugeln in bunten Outfits und beginnt zu rappen: "I said a hip, hop, the hippie, the hippie, to the hip hip-hop." Partymusik also und keine in Versmaß und Schüttelreime gepresste politische Botschaft. Sieht so die Alternative zu Disco aus? Das Lied schlägt ein – auch international. In Deutschland landet das Album auf Platz 13 der Charts. Doch die Hip-Hop-Community kann sich darüber nicht freuen. Warum haben diese unbekannten Leute mit dem Erfolg, das im Untergrund bereits seit sieben Jahren stattfindet? Was den Ärger noch verstärkt: Die Sugarhill Gang klaut einige auf der Straße aufgeschnappte Reime von anderen Hip-Hop-Künstlern. Ein No-Go.

Doch der Erfolg stachelt in den 80ern viele an – auch jene, die nichts mit Hip-Hop zu tun haben. Superstars wie Blondie nehmen in Liedern Bezug zum Hip-Hop, rappen – oder versuchen es zumindest. Aber die gute Laune auf den Tanzflächen hat mit dem Leben in den New Yorker Stadtteilen nichts zu tun. Armut, Arbeitslosigkeit und die drohende Crack-Epidemie, die bereits den Westen der USA überschwemmt hat, prägen den Alltag. Genau in dieser Zeit wird erstmals ein Lied mit einem sozialkritischen Text zum Hit – und damit zum Sprachrohr einer ganzen Generation: "The Message" von Grandmaster Flash & The Furious Five. "Es ist manchmal wie ein Dschungel / Ich frage mich, wie ich's schaffe, nicht unterzugehen / Glasscherben überall / Leute pissen auf die Treppe / Du weißt, es kümmert sie nicht / Ich halte den Geruch nicht aus, halte den Lärm nicht aus / Hab kein Geld, um von hier wegzuziehen / Ich glaube, ich habe keine Wahl / Vorne im Zimmer sind Ratten, hinten Kakerlaken / Drogensüchtige stehen in der Gasse / Mit einem Baseballschläger." Es gilt bis heute als eines der bedeutendsten Hip-Hop-Lieder aller Zeiten.

Der Durchbruch und die goldenen Jahre

Politische Botschaften sind am Wochenende in München genauso zu hören wie die gesamte Vielfalt des Hip-Hops. US-Rap teilt sich die Bühne mit deutschem Straßenrap und Afro-Beats. Reggae-, R'n'B-, Soul- und Poptöne mischen sich immer wieder mit klassischen Hip-Hop-Beats. Bei den Outfits der Künstlerinnen und Künstler gibt es natürlich die Goldketten und Unterhemden, die tief sitzenden Hosen, deren Anblick wohl den meisten Eltern und Großeltern ein "Mensch, zieh' halt deine Hose hoch" abnötigen würde. Aber es springen auch bunte Anzüge über die Bühne, bei denen selbst ein Harry Styles in Versuchung käme, einmal reinzuschlüpfen.

Es sei diese Vielfalt, die den Hip-Hop so erfolgreich werden ließ, sagt Expertin Sina Nitzsche. "Hip-Hop schafft es, andere Genres und kulturelle Praktiken aufzunehmen und etwas Eigenes daraus zu machen. Es ist eine sehr flexible Kultur, die offen für verschiedenste Innovationen ist. Das erklärt die Langlebigkeit." Eine solche Genre-Kooperation verhilft dem Hip-Hop zum endgültigen Durchbruch. Die Gruppe Run-DMC nimmt eine Hip-Hop-Version des Rocksongs "Walk This Way" von Aerosmith auf – und landet damit international in den Charts und auf dem Cover des Rolling Stones Magazine. Viele können sich mit der Adidas-Kleidung und der Sprache der Gruppe identifizieren. Wenn man so will, sind Run-DMC frühe Influencer.

Mitte der 80er-Jahre erlebt der Hip-Hop seine goldene Zeit. In vielen Regionen in den USA entwickeln sich Hip-Hop-Stile, doch bedeutend sind vor allem die West- und Ostküste. In wohl keiner anderen Musikrichtung ist Glaubwürdigkeit so wichtig wie im Hip-Hop. Erfolgreich sind Künstler, die wissen, wovon sie rappen, weil sie es selbst erlebt haben – und in Los Angeles wussten viele, wovon sie rappten. Gewalt und Crack prägen den Alltag der Gettos in den 80er-Jahren. Rund 600 Gangs mit über 70.000 Mitgliedern kontrollieren die Straßen von LA. Manche später erfolgreiche Musiker machten damals Aussagen zufolge zehn Millionen Dollar pro Woche durch den Verkauf von Crack. Zeitzeugen beschreiben die Situation auf den Straßen von Los Angeles als Kriegsgebiet. Diese Szenen beeinflussen die Texte dieser Zeit. Es sind Gangster, die rappen und mit dem Gangsta-Rap ein neues Genre im Rap etablieren.

Wie es sich für echte Gangster von der Straße gehört, gibt es Konflikte mit der Polizei. Geändert hat sich an den Vorwürfen gegen die US-Staatsgewalt in den vergangenen 40 Jahren nichts: Polizeigewalt, Racial Profiling, Schikane in Bezug auf die Hautfarbe. Das inspiriert N.W.A – eine der bedeutendsten Hip-Hop-Formationen ("Straight Outta Compton") – zu einem der umstrittensten Hip-Hop-Songs: "Fuck Tha Police". Die Black Community im Westen und andernorts in den USA kann sich sehr gut mit dem Inhalt des Lieds identifizieren. Die Polizei nimmt den Song zum Anlass, die Bühne während eines N.W.A-Konzerts in Detroit zu stürmen. Die Folge sind wütende Proteste, noch mehr Feuer, noch mehr Gewalt.

Diese Gewalt unterwandert schließlich auch die Musik. Selbst wer Hip-Hop nichts abgewinnen kann, kennt die Namen Tupac und Notorious B.I.G. Sie verkörpern die Fehde zwischen der West- und der Ostküste. Am Ende bezahlen beide mit ihrem Leben. Wie konnte es so weit kommen? Hip-Hop – und vor allem Rap: Das ist von Beginn an Wettstreit. Wer hat die besten Reime? Wer macht den echten Hip-Hop? Das beansprucht lange New York City für sich. Der mediale Fokus und die Charterfolge liegen aber längst im Westen. Obwohl sich Tupac und B.I.G. anfangs gut verstehen, verändert eine Nacht die Beziehung der beiden grundlegend: Tupac wird vor dem Studio, in dem B.I.G. gerade aufnimmt, angeschossen. Er überlebt den Angriff, unterstellt aber fortan B.I.G., von der Attacke gewusst zu haben. Die Texte zwischen beiden Küsten werden rauer und es formieren sich zwei Fronten: Produzent Dr. Dre, Snoop Dogg und Tupac im Westen. Puff Daddy, Bad Boy und B.I.G. im Osten. Medien stacheln den Streit weiter an, der Ausgang ist bekannt. Tupac wird im September 1996 erschossen, B.I.G ein halbes Jahr später.

Gewalt überschattet auch das "Rolling Loud" in München. Schon am Freitag gibt es auf dem Messegelände Ausschreitungen. Die Polizei nennt die Stimmung "bemerkenswert aggressiv". Woran liegt das? An der Hitze in Verbindung mit Alkohol und anderen Rauschmitteln? Zeitgleich gelingt es aber rund 400.000 Menschen in Hamburg und mehr als 200.000 in Berlin, weitestgehend friedlich auf Schlager- beziehungsweise Techno-Festivals zu feiern. Also doch ein Problem des Genres Hip-Hop? In den sozialen Netzwerken geben Besucherinnen und Besucher dem Veranstalter die Schuld. "Steine flogen, Künstler mussten unterbrechen und die Show vorzeitig beenden wegen eurer schlechten Organisation", schreibt eine Frau auf Instagram. Immerhin am Sonntag bleibt es laut Polizei ruhig.

So unnötig der Tod von Tupac und B.I.G. rückblickend auch ist: Er leitet einen Wandel im Hip-Hop ein. Es streben neue Gesichter ins Rampenlicht, die zu Superstars und globalen Trendsettern werden. Jay-Z, der neben der Musik bald andere Marken wie Kleidung zu Geld macht, füllt das Vakuum in New York nach B.I.G.s Tod. Eminem aus Detroit wird der erste weiße Rapstar. Er beginnt seine Karriere mit Battle Raps in Hinterzimmern, zerlegt seine Kontrahenten lyrisch mit Zeilen wie "My face is white but you act like you seen a ghost" ("Mein Gesicht ist weiß, aber du tust so, als hättest du einen Geist gesehen"). Er gilt heute als einer der, wenn nicht der beste Rapper in der Geschichte. Als Eminem und sein bösartiges Alter Ego Slim Shady gelingt ihm in Zusammenarbeit mit Produzentenmogul Dr. Dre etwas, was im Hip-Hop damals unmöglich scheint: Er verkauft weit über 200 Millionen Platten. Rekord für dieses Genre.

Es entstehen Super-Produzenten wie Timbaland, Missy Elliot und Pharrell Williams ("Happy"). Besonders eindrücklich: 2003 sind 43 Prozent der Lieder, die im Radio laufen, von Pharrell Williams und seinem Kollegen Chad Hugo – zusammen The Neptunes – produziert. Kendrick Lamar, der auch am Wochenende in München auf der Bühne stand, erhält 2018 als erster Rapper überhaupt den Pulitzer-Preis für seine eindrucksvollen Texte.

Hip-Hop bedeutet auch Pragmatismus: Mach etwas aus dem, was da ist. Du kannst nicht singen? Dann rappe! Du kannst kein Instrument spielen? Dann benutze Samples! Du hast keinen Vertrag bei einem Label? Dann mach Mixtapes und bringe deine Stimme unter die Menschen, ohne um Erlaubnis zu fragen.

Hip-Hop in Deutschland

Ein Blick in die deutschen Charts, Anfang Juli 2023: Platz drei – Rap, Platz zwei – Rap, Platz eins – Rap. Zufall? Nein. Sechs der ersten sieben Lieder sind zumindest in Teilen dem Rap zuzuordnen. Auch auf den Plätzen weiter hinten dominiert das Genre. Capital Bra gilt als erfolgreichster Künstler aller Zeiten gemessen an deutschen Chartplatzierungen – übrigens erfolgreicher als die Beatles. Die Rapperinnen und Rapper haben zudem eine Gemeinsamkeit: Sie alle sind deutschsprachig. Ist der deutsche Hip-Hop den US-Einflüssen also längst entwachsen?

Als der Hip-Hop nach Deutschland kommt, ist er in den USA gerade zum Teenie geworden. Verbreitet wird das Genre hierzulande vor allem durch drei Dinge: Wir befinden uns noch im Kalten Krieg. Rund 250.000 US-amerikanische Soldatinnen und Soldaten sind in Deutschland stationiert. In Clubs – vor allem in größeren Städten – spielen die US-amerikanischen Gäste Hip-Hop-Musik. In gut sortierten Record Stores gibt es bereits die Platten aus den USA. Eine zentrale Rolle spielten aber auch die Medien, insbesondere zwei Filme, sagt Kulturwissenschaftlerin Sina Nitzsche: "Der Film 'Wild Style' lief damals im ZDF, 'Beat Street' sogar im Kino in der DDR. Gerade 'Wild Style' war eine Art audiovisuelle Anleitung und Inspiration für viele Jugendliche auf beiden Seiten der Mauer. Die Filme waren eine Offenbarung, man hatte so etwas noch nie vorher gesehen." Die Geschichte des Hip-Hops in Deutschland beginnt also mit einem Kulturschock: Schwarze Subkultur trifft auf weiße Kartoffel. Doch viele fasziniert der Hip-Hop mit seinen vier Elementen. Sie fliegen in die USA, schauen sich vollgesprühte Züge an, um später auch hier Züge vollzusprühen.

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Foto: Luise Frentzel
Foto: Luise Frentzel

Gründete das European Hiphop Studies Networks: Sina Nitzsche.

Die USA sind das Vorbild, und so weist die deutsche Hip-Hop-Geschichte einige Parallelen auf: Als erste Veröffentlichung gilt "Rapper's Deutsch" von G.L.S.-United. Dass ein Mitglied Thomas Gottschalk ist, lässt einige Rückschlüsse auf die Rapqualitäten der Gruppe zu. Auf Hip-Hop-Jams kommen DJs, Rapper, Tänzerinnen und Sprayerinnen zusammen. Mit "Jetzt geht's ab" und "Die da!?!" gelingen den Fantastischen Vier die ersten Hits – eine Gruppe, die von den anderen in der Szene nicht ernst genommen wird, aber mit etwas Erfolg hat, das bis Anfang der 90er verpönt ist: auf Deutsch zu rappen. Und auch Deutschland hatte sein "The Message": "Fremd im eigenen Land" von Advanced Chemistry spricht mit Zeilen wie "kein Ausländer, und doch ein Fremder" vielen Menschen mit Migrationshintergrund aus der Seele. Erst Mitte der 90er emanzipiert sich der deutsche Hip-Hop von den USA. Rap wird deutscher, die Sprache rauer.

Man rappt, wie man auf der Straße spricht – und das bis heute sehr erfolgreich. Warum eigentlich? "Straßenrap nimmt gesellschaftliche Schwingungen auf und spricht Probleme an, die Jugendliche aus allen kulturellen Kontexten erleben – Armut, Erfahrungen von Ausgrenzung und Kampf um Anerkennung. Manche Straßenrapper erzählen aber auch Erfolgsgeschichten. Das findet Anklang, weil Jugendliche sich damit identifizieren können", sagt Hip-Hop-Wissenschaftlerin Nitzsche. Es werden auch Künstler wie Haftbefehl ("Chabos wissen, wer der Babo ist") erfolgreich, dessen Hinterhofjargon Menschen Mut macht, die nicht so gut Deutsch können. Erfolgreich macht Straßenrap auch das Independent Label Aggro Berlin mit Rappern wie Sido, Bushido und Fler.

Ganz entwachsen ist der deutsche Hip-Hop den USA jedoch nie. Das sieht auch Expertin Sina Nitzsche so: "Die USA sind immer noch einige der wichtigsten Quellen der Inspiration. Bis heute hat kein:e deutsche:r Rapper:in den Durchbruch im kommerziell orientierten US-Rap geschafft – das sagt einiges aus." In Deutschland selbst jedoch boomt Rap wie nie zuvor. Zugutekommt dem Hip-Hop dabei wieder einmal seine Flexibilität: Künstler wie Apache 207 machen keinen Rap im klassischen Sinn der Bronx und gehören trotzdem irgendwie zu dem vielseitigen Genre. "Rapmusik klingt heute sehr viel anders als in den 1990ern. Genres wie Rock haben da deutlich weniger Flexibilität", sagt Nitzsche. Und diese Flexibilität braucht der Hip-Hop auch bei seinen Themen.

Frauen im Hip-Hop

Wer auf den Entstehungsmythos des Genres und das Line-up des "Rolling Loud"-Festivals blickt, wird sich denken: ganz schön männlich, dieser Hip-Hop. Das Verhältnis männliche zu weibliche Hip-Hop-Künstler liegt in München ungefähr bei fünf zu eins. Die großen Namen, mit denen das Drei-Tage-Event beworben wurde, sind allesamt Männer. Dabei ist das Publikum an den drei Tagen in München divers – und gerade deutsche Hip-Hop-Künstlerinnen gäbe es eigentlich genügend. Auf der Bühne steht am Wochenende eine. Was ist da los?

Auch in diesem Punkt ist das Genre Spiegel der Gesellschaft. Wie in vielen anderen Bereichen waren Frauen im Hip-Hop immer präsent, sind in der Retrospektive aber irgendwie rausgefallen. Sina Nitzsche sagt: "Selbst auf den Flyern der Hip-Hop-Partys Mitte/Ende der 1970er in der Bronx standen weibliche Künstler:innen. Was in der Geschichte aber hängen bleibt: Der Hip-Hop ist männlich dominiert, auch in Deutschland. Dabei gab es von Anfang an Frauen im Deutschrap, sie wurden aber lange nicht als ernst zu nehmende Künstler:innen respektiert." Und Frauen gab es nicht nur, sie waren mitentscheidend für den Erfolg von Hip-Hop. Die Idee zur Party von Kool Herc kam von seiner Schwester Cindy. Die ersten großen Hits des Hip-Hop – "Rapper's Delight" und "The Message" – erschienen im Label von Sängerin Sylvia Robinson. Cora E, Sabrina Setlur und Tic Tac Toe waren für den deutschen Hip-Hop wichtig.

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Foto: Ted S. Warren, AP/dpa; Thorsten Jordan; dpa-Archiv; Gerald Matzka, dpa
Foto: Ted S. Warren, AP/dpa; Thorsten Jordan; dpa-Archiv; Gerald Matzka, dpa

Haben die Hip-Hop-Geschichte mit geprägt: Eminem, Nura, Tupac und Sido.

Wo Frauen im Hip-Hop hingegen seit Beginn an die Hauptrolle spielen, ist in Texten des Straßen- und Gangsta-Rap – als Trophäen, als Status- und Sexsymbol. Mütter müssen in Diss-Tracks und Rap-Battles allerlei Beleidigungen und Erniedrigungen über sich ergehen lassen. Und Frauen sind in Texten selten Frauen, sondern Bitches oder Schlampen. Frauenfeindlichkeit in Gangsta-Rap-Texten sei immer wieder ein Thema – und man sollte differenzieren, empfiehlt Nitzsche: "Gangsta-Rap ist immer auch eine bewusste Inszenierung von Drogen, Gewalt und Männlichkeit." Doch Sprache schaffe auch Realität. Nicht jeder junge Hörer und jede junge Hörerin verstehe die Ironie mancher Texte. Und nicht in jedem Text steckt Ironie. Das größere Problem, sagt Nitzsche, seien nicht die Texte, sondern die Struktur: "Die Musikindustrie in Deutschland ist immer noch männlich dominiert. Das betrifft Festivals oder die Chefetagen von Labels. Frauen sind strukturell benachteiligt. Das ist auch heute noch eine Realität." Diese Machtungleichheit marginalisiert nicht nur Frauen, sondern auch Minderheiten wie Menschen mit Migrationshintergrund, Transpersonen, Homosexuelle und andere.

Immerhin: In Bezug auf Frauen im deutschen Hip-Hop hat sich in den vergangenen Jahren einiges verändert. Shirin David etwa tritt nicht nur als Rapperin in Erscheinung, sondern hat sich ein ganzes Imperium aufgebaut. Sie verdient Geld mit TV-Auftritten, Werbung und eigenen Produkten. Rapperinnen wie Nura, Badmómzjay oder Nina Chuba werden respektiert. "Bei Frauen hat ein Lernprozess stattgefunden: Sie sollten sich nicht als Wettbewerberinnen sehen, sondern sich auch unterstützen. Und es gibt gute Initiativen: Mit dem Hamburger 365XX gibt es seit ein paar Jahren das erste All-Female-Hip-Hop-Label Europas", sagt Expertin Sina Nitzsche. Doch man dürfe die Entwicklung nicht überbewerten: Rappende Frauen verkauften sich aktuell gut – das wüssten auch die Labels.

Schon immer war der Hip-Hop gut darin, aktuelle Strömungen in der Gesellschaft aufzugreifen und zum Erfolg zu machen. Da verwundert es nicht, dass Frauen nun auch die mediale Beachtung bekommen, die sie von Beginn an hätten bekommen müssen. Gesellschaftskritik als Teil des Hip-Hops, das hat sich in den vergangenen fünf Jahrzehnten nicht geändert. Viele Probleme, die Raptexte heutzutage aufgreifen und mit denen sich die junge Generation identifizieren kann, hatten auch schon die Menschen in der Bronx im August 1973 in dem Gebäude mit den roten Backsteinen. Bald sollte die ganze Welt von ihren Problemen erfahren und sie sollten der Welt ein Kulturerbe hinterlassen. So jedenfalls besagt es der Mythos.

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