Der Faktenlage zufolge müsste die Jacke eigentlich längst entsorgt sein – im besten Fall als geschredderte Faser in irgendeinem Putzlappen, im schlechteren und sehr viel wahrscheinlicheren auf irgendeiner Deponie, als Teil der 92 Millionen Tonnen Müll, die jährlich durch die Textilindustrie entstehen. 95 Teile haben Deutsche durchschnittlich im Schrank – von denen 20 Prozent nie getragen werden. Die Preise für Kleidung sind in den vergangenen Jahrzehnten massiv gesunken, der globale Umsatz der Textilwirtschaft dagegen stieg bis 2019 konstant an – auf etwa 1,6 Billionen Euro. Es gibt zahllose Statistiken, die die fatalen Auswirkungen der Fast Fashion illustrieren, dieser überhitzten Branche, die einst durch den Wechsel zwischen Winter- und Sommerkollektionen Kaufanreize kreierte und heute nonstop neue Designs in die Läden und Instagram-Feeds ballert; bei Zara zum Beispiel sollen es etwa 12.000 Designs pro Jahr sein.
Ständig alles neu. Wer hip sein will, muss dranbleiben und kaufen, kaufen, kaufen – so lautet das Mantra, so lautet das Gesetz der Modeindustrie. Woran liegt es also, dass manche Lieblingsteile eine derartige Beharrungskraft entfalten? Dass sie getragen werden, auch wenn Schnitt oder Farbe aus der Mode geraten? Ein Anruf bei Josefine von Krepl, die von sich selbst sagt, sie sei eine schlechte Konsumentin – und 15.000 Kleidungsstücke besitzt. Die 78-Jährige hat ihr Leben der Mode verschrieben, ohne sich ihren Launen zu unterwerfen. Sie hat in der DDR als Modejournalistin gearbeitet, in den Achtzigerjahren die erste private Boutique Ostberlins geführt, hat Kleidung selbst entworfen – und seit ihrer Jugend gesammelt. Ein Teil dieser Sammlung ist seit 2006 in dem von ihr gegründeten Modemuseum Schloss Meyenburg in Brandenburg zu sehen.
Kleidungsstücke erzählen faszinierende Geschichten
Das Faszinierende, sagt sie, seien die Geschichten, die Kleidungsstücke erzählten: „In meiner Sammlung habe ich eine halblange Unterhose, die besteht fast nur noch aus Stopfwerk. Immer wieder wurde sie repariert, mit immer neuen Fäden gestopft.“ Manche Teile erzählen so von der Armut ihres Trägers, andere liefern den Beleg dafür, dass Not erfinderisch macht. Blusen aus der Nachkriegszeit zum Beispiel, für die kurzerhand aus zwei alten ein neues Stück geschneidert wurde.
Weil von Krepl als junges Mädchen in der DDR keinen Zugang zu den damals im Westen beliebten Clogs hatte, sägte sie sich aus Holz selbst Sohlen zurecht und machte Lederriemen dran. „In der Schule durfte ich sie nicht tragen, weil sie zu laut geklappert haben, da lief ich eben barfuß“, erinnert sich von Krepl. Nach dem Lieblingsstück in ihrem privaten Kleiderschrank gefragt, erzählt sie von ihrer ersten Reise nach dem Mauerfall 1990, die sie nach Frankreich führte, in die Bretagne. „Ich war schon immer frankophil, das war mein erstes Ziel. Dort habe ich mir ein typisches blau-weißes T-Shirt gekauft. Es hat etliche Löcher, aber ich bin nicht in der Lage, es wegzuwerfen. Ich trage es heute noch.“ Die Löcher hat von Krepl mit Nadel und Faden in aufgestickte Sonnen verwandelt und so aus einem Stück Textilmüll ein Unikat gemacht.
Wie in Erinnerungen hineinschlüpfen
Klamotten, die einen über Jahrzehnte begleiten, das ist, wie in Erinnerungen hineinzuschlüpfen. In Erinnerungen an bestimmte Ereignisse, an erfolgreiche Situationen oder an einen Menschen, der man früher mal war. An die Mittvierzigerin, die zum ersten Mal in den Westen reiste. Oder, im Fall der roten Lederjacke: an die 16-Jährige mit Modefimmel und Hippie-Phase. Diesen Effekt, sich mithilfe bestimmter Kleiderstücke in eine Stimmung, in einen bestimmten emotionalen Zustand zu versetzen, kann man sich ganz bewusst zunutze machen.
Dawnn Karen nennt das: „mood enhancement dress“, auf Deutsch etwa: stimmungsaufhellendes Kleiden. Karen versteht sich selbst als Pionierin auf dem Feld der Modepsychologie. Die US-Amerikanerin propagiert das Anziehen von innen nach außen – aus der eigenen Identität, der eigenen seelischen Verfassung heraus und nicht in Abhängigkeit von vermeintlichen Trends. Karen berät Menschen in Sachen Kleiderwahl und unterrichtet am renommierten Fashion Institute of Technology in New York. Zum Interview am Smartphone-Bildschirm lässt sie ihre Studenten kurz im Seminarraum allein.
„Ich hatte mal eine Klientin, deren Kleiderschrank voll war mit Klamotten aus den Achtzigerjahren. Sie war damals auf dem Höhepunkt ihrer Karriere, das war die Zeit, in der sie sich am besten fühlte – und an diesem Gefühl wollte sie festhalten.“ Es gehe, so Karen, darum, sich bestimmte Aspekte der eigenen Identität zu bewahren. Um sich mithilfe derart aufgeladener Kleidungsstücke wie die beste Version seiner selbst zu fühlen – ohne in der Vergangenheit feststecken zu bleiben, rät Karen: „Versuchen Sie, diese Stücke mit aktuelleren Teilen zu kombinieren.“ Die Psychologin, die früher als Model und in der Fashion-PR arbeitete, kennt auch Fälle, in denen das Verharren in der Vergangenheit problematisch werden kann: „Wenn jemand nur haufenweise alte Sachen hortet, wenn diese Person eine Abwehrreaktion zeigt, sobald jemand versucht, daran etwas zu ändern – ohne selbst die Gründe dafür zu verstehen.“
Superkräfteteile mit Leoparden-Muster
Für Karen selbst ist das weiße Kleid, das sie einst zum Highschool-Abschluss trug, das immer noch in einem Schrank bei ihrer Mutter hängt und das sie zu bestimmten festlichen Anlässen bis heute hervorholt, so ein Superkräfte-Teil. Und, ganz generell, alles mit Leoparden-Muster. „Als ich ein Kind war, wurde ich oft gehänselt. Wenn ich diese Prints trage, fühle ich mich stark und mächtig. Ich werde sie immer tragen – egal ob sie gerade in Mode sind oder nicht.“ Ein Blazer aus den Achtzigern, eine Leo-Jeans oder eine dunkelrote Lederjacke mögen furchtbar unmodisch wirken. In anderer Hinsicht, mit Blick auf ihre Lebensdauer, entsprechen Stücke wie diese aber dem Zeitgeist.
Denn der hat die Realität der Fast Fashion längst hinter sich gelassen. Circular Fashion, Secondhand und Textilien aus hochwertigen, langlebigen Materialien sind die Trends der Stunde. Zumindest, wenn man der – freilich PR-getränkten – Debatte in der Mode-Bubble Glauben schenken mag. Im Angesicht der Klimakatastrophe ist es nicht mehr schick, wöchentlich ein neues Teil im Instagram-Feed zu präsentieren. Die Modeindustrie ist schließlich für zehn Prozent des gesamten industriellen Wasserverbrauchs weltweit verantwortlich – 79 Milliarden Kubikmeter Wasser. Der Anteil der Textilindustrie am weltweiten Ausstoß von Treibhausgasen wird ebenfalls auf zehn Prozent geschätzt – das sind mehr als Luft- und Seeschifffahrt zusammen. Für Zara, H&M und die anderen Massenmodeketten heißen diese Zahlen: Das Image war schon mal besser.
Wer die eigenen Bedürfnisse kennt, kauft deutlich weniger
Für die klimabewegten Menschen, die trotzdem Wert auf ihr textiles Erscheinungsbild legen, heißen sie: Weniger ist mehr. Ratgeber für eine minimalistische Garderobe boomen. In ihrem Buch „Das Kleiderschrank-Projekt“ zum Beispiel gibt Bloggerin Anuschka Reese Tipps, wie man Kleidung perfekt auf das eigene Leben und den eigenen Stil abstimmt und aus einer überschaubaren Anzahl an Teilen eine komplette Garderobe zusammenstellt. Ihr Ansatz: Wer sich der eigenen Bedürfnisse bewusst ist, kauft zielgerichteter – und deutlich weniger. Ausmisten, Analysieren, gezielt Vervollständigen: Diese Strategie verfolgt auch Karen in ihrem Buch „Dress your best life“ (in etwa: „Zieh dein bestes Leben an“). Um fehlgeleitete Impulskäufe zu vermeiden, rät sie zum Beispiel dazu, vor Kaufentscheidungen nicht nur den Kleiderschrank aufzumachen und hineinzuschauen, sondern auch einige Stücke anzufassen, die darin hängen – um sie sich stärker ins Bewusstsein zu holen. Denn auch das kennt wohl jeder: Dass ein Rock, ein Shirt, eine Hose im Laden verspricht, zum nächsten treuen Lieblingsstück zu werden – und dann doch ungetragen sein lichtloses Dasein im Schrank fristet. Weil das Teil zwickt, knittert, weil es weder zur restlichen Garderobe noch zum Alltag der Trägerin passt. Echte Lieblingsstücke dagegen sind auch deswegen so ausdauernd, weil sie sich gut anfühlen, leicht zu pflegen sind, weil sie über lange Zeit und in vielen Lebenslagen einfach gut aussehen. Hätten alle nur noch Lieblingsstücke im Schrank hängen, das Problem der Fast Fashion wäre gelöst.
Uniformität - ein Zeichen der fetten Jahre?
Inwiefern der vermeintliche Bewusstseinswandel reale Auswirkungen auf den Klamottenkonsum hat, bleibt abzuwarten – zumal die Pandemie die Statistiken aktuell verzerrt. Modesammlerin Josefine von Krepl ist da skeptisch: „Ich finde, es wird zu viel geredet und zu wenig getan.“ Aus ihrer Sicht gelte nach wie vor: „Alles, jeder Trend, wird blind übernommen. Und die Mengen finden keinen Einhalt.“ Neben den Auswirkungen für die Umwelt kritisiert Krepl auch die Einfallslosigkeit der Fast Fashion. „Man ist so uniform. Das ist ein Zeichen unserer fetten Jahre: dass die Kreativität verloren geht.“ Die Modesammlerin hat sich dem Upcycling verschrieben; gemeinsam mit ihrer Nichte entwirft sie neue Stücke aus alten Stoffen.
Kürzlich erreichte sie zu Hause, auf dem Land in Brandenburg, eine besondere Postsendung. In dem Paket lag eine Jacke mit großen Taschen, verziert mit Silberfaden und Knöpfen an der Schulter. Die Absenderin, die der Jacke gerne ein zweites Leben als Museumsstück schenken würde, hat sie in den Achtzigerjahren gekauft – in von Krepls Boutique in Ostberlin. Eine alte Bekannte, die einem unverhofft wiederbegegnet – und einen unwillkürlich zum Lächeln bringt.
Hören Sie sich dazu auch unsere Podcastfolge über das Augsburger Modelabel Degree an: