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Literatur: Neuer Roman von Leïla Slimani: Annährung an die eigene Familiengeschichte

Literatur

Neuer Roman von Leïla Slimani: Annährung an die eigene Familiengeschichte

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    Leïla Slimani setzt sich in ihrem neuen Buch mit ihrer Familiengeschichte auseinander.
    Leïla Slimani setzt sich in ihrem neuen Buch mit ihrer Familiengeschichte auseinander. Foto: Christophe Gateau/dpa

    Gibt es ein offensichtlicheres Statussymbol dafür, dass man es zu etwas gebracht hat, als einen Pool? Zumal 1968 mitten in der marokkanischen Wüste? Mathilde steht am Fenster ihrer Farm, schaut auf ihren Garten, lauscht dem Gesang der Stare und nimmt stillen Abschied. Von ihrem kleinen Paradies, ihrer wilden Höhle voller Rosen und Rosmarin. Auch den Zitrangenbaum, an dem Orangen und Zitronen gemeinsam reiften, gibt es nicht mehr, gleich werden die Bagger auffahren.

    Das Leben hat sich verändert auf der Farm der Belhajs. Nicht nur der Zitrangenbaum ist Vergangenheit, dieses Sinnbild für die Zerrissenheit der Familie zwischen den Kulturen, sondern auch der harte und entbehrungsreiche Überlebenskampf. Wohlstand ist eingezogen, Mathilde und Amine, ihr Mann, verkehren in der besseren Gesellschaft von Meknès, viele Franzosen haben das Land verlassen, die neue marokkanische Elite hat ihren Platz mühelos ersetzt und den Lebensstil gleich mit übernommen.

    In "Schaut, wie wir tanzen" erzählt Leïla Slimani das Leben ihrer Familie in Marokko

    In „Schaut, wie wir tanzen“ erzählt Leïla Slimani das Leben ihrer Familie in Marokko weiter. Es ist der zweite Teil, der als Trilogie angelegten Romanreihe. Nach ihrer elsässisch-stämmigen Großmutter Mathilde im gefeierten „Das Leben der Anderen“ steht nun Aicha im Mittelpunkt, Leïlas Mutter. Das kluge Kind mit der wilden Lockenpracht ist erwachsen geworden.

    Es sind Jahre der Fortschrittsgläubigkeit in Marokko – und der Leichtigkeit. Alkohol fließt in Strömen, es wird getanzt und gefeiert. Viele junge Leute verlassen das Land, um in Frankreich zu studieren, sie lassen Traditionen zurück und kehren voller Karrierepläne wieder. So auch Aicha, die Erste in der Familie Belhaj, der es gelingt, zu studieren – Medizin in Straßburg, wo sie, von ihrer Vermieterin misstrauisch beäugt, nur „die Afrikanerin“ genannt wird.

    In weitem Bogen erzählt Slimani das Schicksal der einzelnen Familienmitglieder und damit auch die Geschichte Marokkos in den 70er Jahren. Und sofort kehrt man fasziniert in diesen Kosmos der Belhajs zurück, wie bei einem langerwarteten Familientreffen, bei dem man sich unbedingt auf den neuesten Stand der Dinge bringen will.

    Leïla Slimani zählt zu den wichtigsten literarischen Stimmen Frankreichs

    Nur wird bei solchen Anlässen selten so meisterhaft erzählt, wie es Leïla Slimani auch in diesem Buch gelingt. Schonungslos geht sie den Charakteren ihrer Familienmitglieder auf den Grund. Ihr zentrales Thema auch hier, der Kampf der Frauen um ihre Unabhängigkeit. Nicht von ungefähr gehört die 41-jährige Autorin zu den wichtigsten literarischen Stimmen Frankreichs. Für „Dann schlaf auch du“ erhielt sie den Prix Goncourt.

    Aicha! Während die Mondlandung in einem Café am Meer übertragen wird, küsst sie zum ersten Mal Mehdi, der wegen seiner Ideale von seinen Freunden nur Karl Marx genannt wird. Die neue Welt der Verheißungen, „der Stiefel im Mondstaub, all das steigt dieser Jugend zu Kopf, die auf Französisch und Arabisch auf der Terrasse grölt“, beschreibt Slimani diesen denkwürdigen Abend. Die zielstrebige Aicha geht trotzdem ihren Weg.

    Nicht so ihr Bruder Selim, den wegen seiner blonden Haare niemand für einen Marokkaner hält. Selim, der immer im Schatten seiner Schwester stand, versemmelt das Abitur, haut von zu Hause ab – auch um dem ewigen Konflikt mit seinem Vater Amine zu entgehen, der ihn für einen Nichtsnutz hält. Zufällig lernt Selim die Hippie-Frau Nilsa kennen, reist mit ihr in einem VW-Bus durchs Land und landet schließlich in Essaouira. Jimi Hendrix’ legendären Aufenthalt in der Küstenstadt nimmt er nur schemenhaft im Drogenrausch wahr.

    Im dritten Teil wird Leïla Slimani über sich schreiben

    1971, mit dem gescheiterten Mordversuch an König Hassan, ändert sich die Stimmung im Land. Der Abend des Attentats ist erneut ein schicksalhafter Moment in Aichas und Mehdis Leben, die in einem Haus am Meer zufällig aufeinandertreffen. Der Beginn ihrer festen Beziehung. Die Machtübernahme des Militärs ist gescheitert, die Leichtigkeit im Land vorbei. Jetzt ist es ein Tanz auf dem Vulkan. Der Staat will mit aller Macht die Kontrolle zurück.

    Amine und Mathilde verfolgen verstört vor dem neuen Fernseher die Hinrichtungen einstiger Freunde. Auch die Dekadenz der Jugend ist dem Regime ein Dorn im Auge. In Tanger werden keine Männer mit langen Haaren mehr ins Land gelassen. Ungeachtet dessen führen Aicha und Mehdi das Leben eines Karrierepaares in der Hauptstadt Rabat – mit Empfängen, Golfpartien und Spritztouren an den Wochenenden. Aicha arbeitet als Frauenärztin. Mehdi – längst hat er seine Ideale verkauft – arbeitet im Ministerium.

    Auf dem Höhepunkt des vermeintlichen Glücks, der rauschenden Hochzeit von Aicha und Mehdi – und auch bevor Slimani Gefahr läuft, das Leben chronologisch weiter zu erzählen –, lässt die Autorin in einem kurzen Kapitel Wolken aufziehen und die Leserinnen und Leser eine dunkle Zukunft erahnen: „Wie hatten sie nur so glücklich sein können?“ Eine Vorausschau auf den dritten Teil. Genauso wie der unprätentiöse Schluss, in dem Amine von der Geburt seiner Enkelin erfährt. Es wird weitergehen, das ist kein Geheimnis. Dann wird die Autorin über sich schreiben. Man kann es kaum erwarten.

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