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Lesetipp: Die vielen Seiten des Theo Waigel – ein Besuch in seiner Bibliothek

Theo Waigel in seinem Arbeitszimmer in Seeg - umringt von Büchern, die ihm besonders am Herzen liegen.
Lesetipp

Die vielen Seiten des Theo Waigel – ein Besuch in seiner Bibliothek

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    Grimms Märchen, große Prachtausgabe.

    Wie viele Leseleben haben so begonnen? Mit Dornröschen, mit Schneewittchen, mit dem Froschkönig? Theo Waigel sitzt in der Küche seines Geburtshauses in Oberrohr bei Ursberg. 1932 wurde es gebaut, 1939 wurde er geboren, 1946 kamen Grimms Märchen hier an: als einziges Buch im Gepäck einer Lehrerfamilie aus dem Egerland, die bei Waigels zwei Zimmer bekamen. Der Mann brachte dem kleinen Theo ein bisschen Geige bei, die Frau las ihm vor, als sie fünf Jahre später wieder gingen, schenkten sie ihm das Buch. Er hat es noch immer, wird es einem später zeigen, der grünblaue Einband fleckig und darauf das Rotkäppchen, von dem aber nur ein bisschen blond und rot geblieben ist und ein paar Umrisse. Einmal hat er es zum Buchbinder gebracht, damit das Buch, das ihn zum Leser machte, nicht zerfällt. Was Büchermenschen eben so tun. 

    "Das war der Anfang" - die Ausgabe von "Grimms Märchen", die Theo Waigel als Kind geschenkt bekam.
    "Das war der Anfang" - die Ausgabe von "Grimms Märchen", die Theo Waigel als Kind geschenkt bekam. Foto: Daniel Biskup

    Es sind knapp 5000 Bände, die sich im Leseleben von Theo Waigel angesammelt haben. Sie stehen an zwei Orten. Etwa 4300 in Oberrohr und etwa 700 in Seeg im Allgäu, wo Theo Waigel mit seiner Frau Irene Epple-Waigel lebt. Er weiß eigentlich fast von jedem Buch, wo es steht. In welchem Haus, in welchem Zimmer, in welchem Regal, an welcher Stelle. Wenn er ein Buch nicht gleich findet, sagt Theo Waigel, macht ihn das unruhig. 

    5000 Bücher. Theo Waigel war von 1989 bis 1998 Bundesfinanzminister, von 1988 bis 1999 Vorsitzender der CSU, dreißig Jahre saß er im Deutschen Bundestag. Er gilt als der Vater des Euro, hat drei Kinder und sechs Enkel, er hat in München eine Kanzlei zusammen mit seinem ältesten Sohn, abends schreibt er Tagebuch. Wann hatte Theo Waigel Zeit für 5000 Bücher? Umgerechnet etwa 64 Bücher pro Lesejahr, die ersten sechs Jahre also nicht eingerechnet? Wann hat er gelesen? Nachts? Und wo? Und was? Sachbücher, Biografien, Romane, Gedichte, am Ende auch Krimis? Eine Führung durch ein Leseleben. 

    Gedichte von Reiner Kunze, Heinrich Heine, Hermann Hesse, Bert Brecht, Wolf Biermann

    Theo Waigel steht jetzt im ehemaligen Kuhstall in Oberrohr und zitiert Reiner Kunze. Der einstige Stall ist seit Langem ein Wohnzimmer, auf dem Kamin ist die Steinskulptur eines Bischofs platziert und direkt daneben eine spaßige Spardose mit den markanten Waigel-Augenbrauen. Er blickt durchs große Fenster auf die Bäume im Garten, dunkel, noch ganz ohne verjüngendes Grün, einige hat noch sein Großvater gepflanzt. „Verneigt vor alten Bäumen euch, und grüßt mir alles Schöne“, sagt Theo Waigel. Es sind die letzten zwei Zeilen aus dem Gedicht „Fern kann er nicht mehr sein“. Später, in Seeg, wird er auch die ersten Zeilen zitieren. 

    Die Bücher von Reiner Kunze sind überall, in Oberrohr wie auch in Seeg. Weil der Leser Waigel nicht ohne den Dichter Kunze sein mag, der 1977 aus der DDR nach Bayern kam. Der Freund nicht ohne den Freund, sie telefonieren fast jede Woche. Kunze, was man immer so leicht dahinsagt, spricht Waigel aus der Seele. Wenn man ihm diese zugegeben sehr platte Frage stellt, welches Buch er denn mit auf die einsame Insel nehmen würde, dann sagt er: Gedichte von Reiner Kunze. 

    Notiert jetzt aber erst einmal: Theo Waigel, der Mann der Zahlen, er ist ein Mann der Verse. Heine, Schiller, Storm, Uhland, Hesse, Brecht. Ein Gedicht von Heinrich Heine hat er bei einem Schulfest 1955 vorgetragen: Der Dichter Firdusi, der sich für sein Nationalepos vom persischen Herrscher Gold erwartet, Silber erhält. Waigel beginnt: „Goldne Menschen, Silbermenschen! Spricht ein Lump von einem Toman, Ist die Rede nur von Silber, Ist gemeint ein Silbertoman…“ Er lacht jetzt und sagt, das habe für ihn als späteren Finanzminister ja auch eine Bedeutung gehabt, was in den Säcken drin ist: Silber oder Gold. Drei Jahre später, bei der Abiturfeier, hat er dann zu Hermann Hesse gegriffen. Als er sich 1975 als Vorsitzender der Jungen Union verabschiedete, - „Sie werden lachen“, sagt Waigel und lacht selbst vor Vorfreude – wählte er Bert Brecht: „Herr Keuner war nicht für Abschiednehmen …“ Ausgerechnet Brecht, der Kommunist. Das hat ihm schon immer Spaß gemacht: Mit Literatur zu überraschen und mit Literaten. Zur CSU-Klausurtagung in Kreuth hat er einmal Wolf Biermann eingeladen. Spät nachts holte Biermann seine Gitarre raus und sang noch ein wenig. Seitdem sind sie Freunde, der CSU-Mann und der Liedermacher. 

    Leseorte, Leseverhalten, Lesevorlieben.

    Ein paar Eckdaten zum Leser Theo Waigel. Er liest fast täglich. Im Sitzen, auf der Leseliege, im Bett. Auf seinem Nachttisch liegt stets ein Buch. Auch im Auto als Beifahrer kann er lesen, obwohl ihm als Kind im Schulbus leicht übel wurde. Er verleiht Bücher gern, aber mag es sehr, wenn sie wieder zu ihm zurückkommen. Er mag keine Eselsohren. Er streicht nichts an, schreibt nichts hinein, außer mit Bleistift, um alles auch wieder wegradieren zu können. Er vertraut auf Empfehlungen, liest das Feuilleton. Klingt eine Besprechung hoffnungsvoll, streicht er den Artikel in der Zeitung an und gibt die Seite an seine Sekretärin weiter, die das Buch bestellt. 

    Für jeden Großen ein eigenes Fach - hier das von Konrad Adenauer.
    Für jeden Großen ein eigenes Fach - hier das von Konrad Adenauer. Foto: Daniel Biskup

    Wenn man ihn fragt, warum er liest, was er sich von den Büchern erhofft, sagt er: „Erkenntnisgewinn, aber auch Freude am Wort.“ Er ist neugierig, hat keine Berührungsängste, auch nicht vor dem Leichten, Unterhaltsamen. Er weiß um das Privileg, sich Bücher leisten zu können. Er besitzt sie gerne. Manche Bücher überfliegt er nur. Nicht jedes Buch liest er zu Ende. Was ihm gefällt, liest er nicht nur einmal. Er liest mehr Sachbücher als Romane, weil es doch vor allem das Politische ist, das ihn interessiert. Und, das ist nun eine Frage, sehr viel mehr Literatur von Männern als von Frauen? „Das ist wahr“, sagt Theo Waigel: „Es hat sich so ergeben. Das ist ein Nachteil“. 

    Gesamtwerk beziehungsweise mehrere Werke von Konrad Adenauer, Eugen Biser, Joseph Bernhart, Karl May. Außerdem: John William Nylander: Die Jungen auf Metsola.

    Führung durchs Haus jetzt, erst einmal links ins Arbeitszimmer zu den dunklen deckenhohen Holzregalen, dann hoch unters Dach in die Bibliothek. Man solle die Mäntel mitnehmen, rät seine Frau, es sei da recht kühl. Unten im Arbeitszimmer findet sich unter anderem der ganze Brockhaus, - „den hat man ja früher gebraucht“, der „ganze Adenauer“, daneben seine Haustheologen: Eugen Biser, Joseph Bernhart. Die Buchrücken tragen hier gedeckte Farben. Oben in der Bibliothek dann in grauen Metall- oder hellen Holzregalen, verteilt auf zwei Räume: alles andere, auch das Bunte. „Geordnetes Chaos“, sagt Theo Waigel. Zeitgeschichte, Erinnerungen, Geschichte, Kunst, Karikaturen, Wirtschaft, Theologie, Jura, Germanistik, Literatur, Karl May. „Der Karl May aber ist von meiner Tochter. Den gab es zu meiner Kindheit nicht.“ 

    Die Bücher aus seiner Kindheit stehen hier oben am Rand in einer Holzvitrine. Es ist ein schmaler Schatz: Die Felle des Trappers, Wolf Hagenreuter – eine fröhliche Lausbubengeschichte, Die Jungen auf Metsola … „auch so ein Buch, das ich verschlungen habe“. Theo Waigel zieht jetzt einen Band übers Segelfliegen aus dem Schrank, streicht über den Einband und sagt: „Mein Gott, wäre das damals schön gewesen. Aber das war natürlich viel zu teuer und meine Eltern haben mich zum Kühe hüten gebraucht.“ In seinem Vaterhaus standen keine Bücher. Seine Eltern hätten das Lesen toleriert, aber nicht unterstützt. Andere Zeiten, andere Kindheiten. Jedenfalls: Als er im Alter war, in dem man Karl May liest, hat er hier Säcke mit Getreide hinaufgetragen. 

    "Die Jungen auf Metsola" - auch das ein Buch, das er als Kind verschlungen habe.
    "Die Jungen auf Metsola" - auch das ein Buch, das er als Kind verschlungen habe. Foto: Daniel Biskup

    Theo Waigel sagt: Die Literatur hat ihn hinausgerissen aus der kleinen schwäbischen Welt. Raus aus Oberrohr, erst nach Krumbach, dann nach München, nach Bonn, nach Berlin und immer weiter. Die Literatur selbst aber ist hiergeblieben. Er ist keiner, der sich gern von Büchern trennt. Wohin auch damit? Allein mehr als 100 laufende Meter Akten hat er vor Jahren schon an die Hanns-Seidel-Stiftung übergeben. Und immer noch stehen hier auch Ordner. 

    F. C. Delius: Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde. Dörte Hansen: Mittagsstunde. Lena Christ: Erinnerungen einer Überflüssigen. Lion Feuchtwanger: Tagebücher.

    Eine private Bibliothek ist etwas sehr Privates. Weil die Bücher ja manchmal mehr über den Menschen verraten, als es der Mensch gerne tut. Was ihn interessiert, wie er die Welt sieht, worüber er sich Gedanken gemacht hat, womit er sich ablenkt. Deswegen steht manchmal in den Wohnzimmern nur die ganze bildungsbürgerliche Fassade, und neben dem Bett liegt dann Charlotte Link. Oder Rita Falk: Winterkartoffelknödel. Fach 114 übrigens,

    5000 Bände - die meisten stehen in der Bibliothek in seinem Geburtshaus in Oberrohr.
    5000 Bände - die meisten stehen in der Bibliothek in seinem Geburtshaus in Oberrohr. Foto: Daniel Biskup

    Was seine Bibliothek über ihn verrät? Dass der Leser Theo Waigel schwer zu fassen ist. Dass er ein Herumtreiber ist, quer durch die Länder, die Zeiten, die Gattungen. Dass er Biografien über Franz Josef Strauß liest und Kurzgeschichten von Alice Munroe - Kohl, Kant und Kroetz. 

    Beim Ordnen hat ihm in den letzten eineinhalb Jahren eine Wissenschaftlerin der Universität Regensburg geholfen. Auf den Regalen kleben nummerierte und beschriftete Post-It-Zettel. Wenn Theo Waigel ein Buch nicht gleich findet, kann er nun im Computer nachsehen: Dörte Hansen, Mittagsstunde, Literatur, Regal 21, Fach 110. Als wäre er in einer kleiner Stadtbücherei. 

    Später, zur Mittagsstunde im Klosterbräuhaus Ursberg, einen Kirchturmblick weit entfernt von Oberrohr, wird einem Theo Waigel zwei kleine Anekdoten erzählen: Die eine von der Schriftstellerin Lena Christ, die als Novizin im Kloster Ursberg war, auch da kreuzunglücklich. „Erinnerungen einer Überflüssigen - das Buch steht in Seeg“, sagt Theo Waigel. Und die andere von Lion Feuchtwanger, bei dem er in den Tagebüchern den Satz gefunden hat: „Ins Schwäbische gefahren, nach Ursberg, ziemlich öde Gegend.“ Er hat, das merkt man, eine kleine, feine Freude an dem Satz. 

    Paul Konrad Kurz: Über Literatur 1,2,3,4. Paul Konrad Kurz: Über moderne Literatur 6, 7. Paul Konrad Kurz: Noch atmet die Erde. Paul Konrad Kurz: Zwischen Widerstand und Wohlstand. Zur Literatur der frühen 80er Jahre.

    Theo Waigel erzählt eine Geschichte. Eigentlich sind es mehrere Geschichten, von denen die eine in der anderen steckt, wie eine Matrjoschka. Man öffnet die erste Figur, Reiner Kunze, kommt zur nächsten, Martin Walser, dann zu Heinrich Böll und weiter und weiter bis zur letzten Figur: Das ist Paul Konrad Kurz. Kurz war Schriftsteller und Literaturkritiker, kennengelernt hat ihn Theo Waigel als Student in München. Die Klassiker waren ihm vertraut, die Moderne war ihm fremd. „Du musst auch junge Literatur lesen, ob es dir passt oder nicht“, habe ihm Kurz damals erklärt. Also habe er damit angefangen.

    Ludwig Erhard: Kriegsfinanzierung und Schuldenkonsolidierung. Günter Grass: Ein weites Feld.

    Theo Waigel geht durch die Reihen. Er schaut auf die Bücher so, wie man auch durch ein altes Fotoalbum schaut. Nicht um Neues zu entdecken, sondern um sich zu erinnern. Jetzt bleibt er stehen: Ludwig Erhard, erster Wirtschaftsminister der BRD, später Kanzler, eine Denkschrift von 1943/1944. „Schauen Sie, das ist etwas ganz Tolles. Da hat sich Erhard Gedanken gemacht, wie man die Wirtschaft in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg wieder aufbauen kann.“ Das habe ihn bei der Wiedervereinigung natürlich interessiert. Er stellt den Erhard zurück und geht weiter. Schritt, Buch, Schritt, Buch, ein Gang durchs eigene Leseleben. „Unglaublich viel, was sich da angesammelt hat“, sagt er einmal, als sei er selbst überrascht, wie all die Bücher nach Oberrohr gefunden haben. 

    Stopp jetzt beim Nobelpreisträger. Günter Grass: Ein weites Feld. Auch den hat er kennengelernt, aber Freunde sind sie nicht geworden. Grass, das erzählt Waigel, habe 1990 in seinem Tagebuch einmal vom unglückseligen Dreigestirn Schönhuber, Waigel, Augstein geschrieben. Augstein war damals Herausgeber des Magazins Der Spiegel , Franz Schönhuber Chef der rechtsextremen Republikaner … Er habe die Einordnung nie verstanden, sagt Theo Waigel und lässt eine Spitze fallen: „Grass hatte ja mit dem Schönhuber mehr gemein als ich, beide waren sie bei der SS“. Dann schiebt er nach: „Ein ganz schöner Pharisäer“. Was das weite Feld anbetrifft, nur ein paar Worte: „Da hat er sich nicht genug Zeit genommen“. Frage an Theo Waigel: Wie politisch soll Literatur sein? Er sagt: Literatur muss gar nicht politisch sein, aber sie kann. Wenn aber ein Schriftsteller sich politisch äußere, dann müsse er auch mit der Kritik leben. Grass zum Beispiel, von der Arbeit der Treuhand habe er eben doch nicht so viel verstanden … Dann geht er weiter, nächster Halt, Martin Suter. Mit dem Schweizer Schriftsteller saß er einmal im Fernsehstudio bei Markus Lanz … 

    Der ganze Kunze, der ganze Walser.

    4300 Bücher in Oberrohr, 700 in Seeg. Warum die einen da, die anderen dort? Weil er, die Bücher nicht nach Alphabet, sondern nach dem Herzen ordnet. Die Bücher, die er liebt, braucht er in seiner Nähe, im direkten Zugriff, sagt Theo Waigel. Also in Seeg, wo er nach über einer Stunde Fahrt durch Regen, dann Schnee, nun angekommen ist und einen dann wieder die Stufen emporgeführt hat. Wäre seine ganze Bibliothek ein Labyrinth mit einem Mittelpunkt, dann wäre der exakt hier, im Arbeitszimmer unterm Dach. Rundherum an den Wänden Regale voller Bücher, einige auch gefüllt mit Ordnern, eine Leseliege, vor dem großen Fenster am Ende des langen Raums der Schreibtisch. Er weiß, das soll man eigentlich nicht machen, sagt Theo Waigel und lacht wieder so ein kleines vorfreudiges Lachen, aber er habe die Vögel systematisch mit sehr viel Futter bestochen, damit sich im Garten vor seinem Fenster tummeln. 

    Hier steht der ganze Reiner Kunze. Hier steht der ganze Martin Walser. Als er Martin Walser zum letzten Mal vor seinem Tod am Bodensee besuchte, sagte der zum Abschied. „Komme häufiger, ganz unsensationell, einfach zum Schwätzen“. Theo Waigel schüttelt den Kopf und wiederholt: Komme unsensationell …

    Lektürevorlieben des ehemaligen Finanzministers: Alles von Martin Walser.
    Lektürevorlieben des ehemaligen Finanzministers: Alles von Martin Walser. Foto: Daniel Biskup

    Kennengelernt haben sie sich in Wildbad Kreuth. Waigel hatte Walser 1989 eingeladen, wie fünf Jahre zuvor auch Kunze, wie neun Jahre später Biermann. Alle drei mussten sich danach etwas anhören. Bei Kunze hieß es: „Hält sich die Rechte jetzt einen Dichter“. Bei Walser war selbst Willy Brandt, der alte linke Kanzler, empört. 

    Warum Walser? Mehrere Antworten. Weil ihm, also Theo Waigel, seine Rede in den Münchner Kammerspielen gefallen hatte, zwei Jahre vor der Wiedervereinigung, als Walser sagte: Wenn er in Leipzig vor dem Grab von Johann Sebastian Bach stehe, dann sei er doch nicht im Ausland. Weil, jetzt schickt Waigel wieder sein kleines Lachen vor, sie zwei Dinge verbunden hätten: Die Augenbrauen und dass sie beide vom selben Bischof gefirmt wurde. Weil, jetzt wieder ernst, der Schwabe Waigel sich beim Alemannen Walser wiederfand, die eigene Kindheit, auch den großen Verlust. Beider Brüder starben im Zweiten Weltkrieg. Man könnte auch sagen: Waigel fühlt sich in Walsers Büchern zu Hause, schlägt jetzt eines auf. Walsers Reden, darin auch eine über ihn, gehalten 2011: „Warum ich Theo Waigel loben darf.“ Darüber, handschriftlich von Walser vermerkt: „Das kann ich immer noch sagen“. Waigel sagt, das sei ihm mehr wert als jeder Orden. 

    Theo Waigel: Ehrlichkeit ist eine Währung.

    Wohin eigentlich mit den eigenen Büchern? Er hat ja nicht nur gelesen. Er hat Tagebücher geschrieben, schmale, dunkle Lederbände, in guten wie in schlechten Jahren, fast jedes Jahr zwei bis drei, nur in den arbeitsschweren Jahren als Finanzminister hat er das nicht geschafft. Theo Waigel sagt: „Was damit nach meinem Tod geschieht, das soll meine Frau entscheiden“. 

    Ein volles Leben - mit dem Theo Waigel pro Jahr etwa zwei bis drei Tagebücher gefüllt haben. Auch die Fotografien erzählen seine Geschichte.
    Ein volles Leben - mit dem Theo Waigel pro Jahr etwa zwei bis drei Tagebücher gefüllt haben. Auch die Fotografien erzählen seine Geschichte. Foto: Daniel Biskup

    Seine Biografie „Ehrlichkeit ist eine Währung“ erschien 2019. Seitdem ist der Büchersammler Waigel auch Bestsellerautor. Ein paar Exemplare stehen in den Regalen in Oberrohr, ein paar in Seeg, ein paar liegen auch noch in einer Kiste. Waigel sagt, was Schriftsteller vermutlich nicht selten sagen: Er hätte gern ein bisschen Zeit dafür gehabt. Am Ende habe es schnell gehen müssen, sein 80. Geburtstag stand bevor. Im Buch erzählt Waigel auch von seinem Bruder August, zitiert Passagen aus seinen Feldpostbriefen. Im Verlag, sagt er, habe er das erst einmal durchkämpfen müssen, aber dann waren es gerade die Feldpostbriefe, die die Leser rührten. „Aber man lebt doch gern“, schrieb der Bruder vier Tage vor seinem Tod. 

    Jaroslav Hasek: Die Abenteuer des braven Soldaten Švejk . Marcel Reich-Ranicki; Mein Leben. Der ganze Fontane. Außerdem: Signierte Bücher unter anderem von Helmut Kohl, Henry Kissinger, Alan Greenspan, John Major, Schimon Peres und von Ernst Jünger: Subtile Jagden.

    Theo Waigel öffnet die Abenteuer des braven Soldaten Švejk. Ein Bändchen markiert die Seite mit seiner Lieblingsstelle. Er liest laut vor: „Also nach dem Krieg um sechs Uhr abends“, brüllte Vodička von unten. „Komm lieber um halb sieben, falls ich mich irgendwo verspäten sollte“, antwortete Švejk. Großartig, sagt Theo Waigel, da ziehen zwei ins völlig Ungewisse und geben sich so einen Halt. 

    Er geht jetzt hinunter ins Wohnzimmer. Auch da stehen ja noch Regale, wieder deckenhoch, Franz Kafka, Thomas Mann, Stefan Zweig, Ernest Hemingway, Erich Maria Remarque, Marcel Reich-Ranicki. Mit ihm, dem großen Literaturkritiker, hat er zwei Abende lang in einem Schweizer Hotel bestens geplaudert und Marcel Reich-Ranicki darüber das Champions League Spiel zwischen Manchester United und dem FC Bayern verpasst. ... „Und da, schauen Sie, der ganze Fontane“, sagt Theo Waigel, den hat er damals noch in der DDR gekauft. 

    Vor dem Bücherregal im Wohnzimmer in Seeg: Hier stehen auch die Bücher mit Widmungen, zum Beispiel von Helmut Kohl, Schimon Peres, Alan Greenspan oder Ernst Jünger.
    Vor dem Bücherregal im Wohnzimmer in Seeg: Hier stehen auch die Bücher mit Widmungen, zum Beispiel von Helmut Kohl, Schimon Peres, Alan Greenspan oder Ernst Jünger. Foto: Daniel Biskup

    Für Theo. Hier im Regal stehen auch einige der für ihn signierten Bücher, Helmut Kohl, Henry Kissinger, Alan Greenspan, John Major, Shimon Peres, eines auch mit der feinen, eleganten Schrift von Ernst Jünger. Als Finanzminister hat er ihm eine Briefmarke gewidmet. „Wissen Sie, was mir mit ihm passiert ist?“, fragt Waigel. 1996 hat er den Schriftsteller im schwäbischen Wilflingen besucht, 101 Jahre war Jünger damals alt. Waigel, Finanzminister, kam per Hubschrauber. Als der

    Es ist spät geworden. 5000 Bücher, auf der Anrichte liegen bereits vier neue. Wenn Theo Waigel heute noch lesen will, bleibt nicht mehr viel Zeit. 

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