Dass dieser Roman, der schon auch ein ganz ordentlicher 1042-Seiten-Ausritt ist, seinen sehr eigenen Sog entfaltet, merkt man spätestens ab Seite 700. Kleiner Scherz. Man merkt es schon deutlich früher, aber just, als man sich zum, nun ja, letzten 300-Seiten-Galopp rüstet, sitzt auf einmal Wayne Carpendale am Cafétisch nebenan. Vor so etwas ist man in München ja nie gefeit, aber ein waschechter Old-Shatterhand-Darsteller? Jetzt? Genau jetzt? Fehlen nur noch Martin Böttchers Geigenklänge im Hintergrund. Aber Wayne ist nicht Lex Barker. Isst Toast. Und Clemens Meyer kann eben doch nicht zaubern.
Zumindest nicht immer, nicht auf der gesamten Strecke seines neuen, für den Deutschen Buchpreis nominierten und ziemlich episch daherkommenden Romans „Die Projektoren“. Darin – wir müssen ein bisschen ausholen – geht es um einen wegen seines Halstuches „Cowboy“ genannten Mann, der während des Zweiten Weltkriegs seine Eltern im damaligen Königreich Jugoslawien verliert, sich verwaist zu den Partisanen durchschlägt, in der Tito-Zeit im Velebit-Gebirge landet, dort Komparse in den zumindest hierzulande weltberühmten Karl-May-Verfilmungen wird, sich mit Lex Barker (Old Shatterhand) anfreundet. Später in Deutschland überdauert er als vielgelesener Groschenheft-Autor (Western), bevor er sich Anfang der 90er-Jahre im Jugoslawien-Krieg verkämpft – um schließlich, als alter Mann, seine zur Soldatin gewordene Nichte im vom IS verheerten Irak zu suchen beginnt. Mit dabei auf der Ladefläche seines roten Lastwagens, mit denen er von Dorf zu Dorf juckelt: Projektoren und Winnetou-Filme.
Das ist nur ein Erzählstrang. Es gibt noch viele mehr: Die drei Dortmunder Rechtsradikalen, die im Jugoslawien-Krieg ihre Härte erproben wollen (und scheitern). Die Dottores, die in Leipzig einen seltsamen Psychiatrie-Patienten zu diagnostizieren versuchen, in der Anstalt, in der einst auch ein gewisser Karl May zur Behandlung gewesen sein soll. Oder: Pierre Brice (Winnetou), der mit seinem Film-Vater Mavid Popovic (Intschu-tschuna) 1973 die wirklichen Indianer bei Wounded Knee besuchen fährt.
Alles hängt natürlich mit allem zusammen – irgendwie
Das alles hängt natürlich mit allem zusammen. Irgendwie. Auch wenn es sich bei der Lektüre nicht unmittelbar erschließt. Wer sich zwischendrin fragt, ob absatteln nicht auch eine Alternative sein könnte, ist sicher nicht allein. Denn niederschwellig ist der Zugang zum neuen Meyer nicht. Dass der auf die 50 zugehende, erfahrene Autor andererseits aber genau weiß, was er da tut, die ganze Breite der Erzählkunst beherrscht, hat er längst gezeigt. Etwa in die „Die Nacht, die Lichter. Stories“ oder in der Rotlichtviertel-Studie „Im Stein“. Meyer, der zehn Jahre an den „Projektoren“ gearbeitet hat, muss sich nicht mehr beweisen. Das neue Werk ist dann am stärksten, wenn er so montiert, dass Raum und Zeit, Möglichkeit und Wirklichkeit seiner Protagonisten ineinanderfließen, weil er die Zeitschiene verlässt, Träume und Realität vermengt, herkömmlichere Erzählstrukturen so gekonnt auflöst, dass in den am stärksten, teils mit trancehaft wiederholenden Satzfetzen versehenen Absätzen der Sog, zum Malstrom wird. In diesen Passagen erfüllt das Buch, den ihm von der Buchpreis-Jury schon jetzt verliehenen „Literatur-Ereignis“-Anspruch zweifelsohne. Sonst auch? Sagen wir so: Der Ritt bleibt das Ziel.
Was das Buch auch nicht ist: ein Ost-Roman
Und, kleine Schleife: Ein Ost-Roman, was auch immer das genau sein könnte, ist das Buch des seit Jahren in Leipzig lebenden und in Sachsen-Anhalt geborenen Meyers übrigens nicht. Zwar erfahren im Westen aufgewachsene Leser in diesem unfassbar aufwändig recherchierten Text viel über das Leben in der früheren DDR, nicht zuletzt an der Art, wie die Werke Karl Mays „im Osten“ rezipiert wurden. Auch das Entstehen von Extremismus ist immer wieder Thema. Ein Journalist etwa erwidert in einer Diskussion mit dem rechten Verleger Sterner: „Wir haben in einem Land gelebt, abgeschnitten, zugemauert, in dem wir auf die Idee kommen mussten, dass die Zeit für uns keine wirklich relevante Größe war. Die Zeit war draußen, die Zukunft war draußen ... nur draußen rannte alles auf den Untergang zu. Wir haben immer nur in der Vergangenheit gelebt.“ Aber auch diese Sätze weisen eher allgemein auf das toxische Gebräu von Nationalismus – mit seinem Untergangspotenzial (Ansprüche, Ansprüche aus Vergangenem) hin – auf das, was Staaten und Gesellschaften generell zum Scheitern bringt, und eigentlich immer im Krieg endet.
Das permanent verhandelte Sujet: Gewalt und die Unmöglichkeit, ihr zu entgehen
Meyers Charaktere werden in Jugoslawien hinabgezogen, sind nicht Herren ihres Schicksals. Gewalt, harte Gewalt, ihre Entstehung und die Unmöglichkeit ihr zu entgehen, ist – trotz aller absurd-komischen Szenen – das permanent verhandelte Sujet: „Die Kriege nahmen kein Ende, auch wenn die Kriege vorbei waren“, bilanziert der Cowboy gegen Ende. Dass das Leben nicht so einfach ist, wie in den moralisch klar konturierten, wirklichkeitsfernsten Abenteuer-Märchen Karl Mays – eh klar. Ein moderner Roman, erfährt der Cowboy schon als kleiner Junge im Gespräch mit seinem filmversessenen Vater (der auch wirklich gar nicht von Karl May hält), „ist ein Monolith, ein Chaos aus Stimmen…“, Projektionen.
Wie alle Deutungen auch. Es gibt in diesem Sinne keine klärende Ankunft am Ende. Aber große Vorfreude („Hello again“), auf den nächsten Meyer.
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