Die Kartoffel hat eine beeindruckende Geschichte. Das kann nicht jede Beilage in Deutschland von sich sagen. Es gibt zum Beispiel einen berühmten Kartoffelbefehl und einen traurigen Kartoffelkrieg. Sprichwortmäßig liegt die Kartoffel weit vorne: rin in die Kartoffeln, raus aus den Kartoffeln. Lorbeer macht nicht satt, besser wer Kartoffeln hat. Und so weiter. Große Dichter haben sich mit ihr beschäftigt. Goethe zum Beispiel erwähnte die Kartoffel 16 Mal in seinen Werken, war sich nicht zu schade, auch im Tagebuch auf sie zu reimen! Das alles nur vornweg, um die Fallhöhe zu zeigen.
Heute ist die Kartoffel auch zum Schimpfwort geworden. Wenn einer „du Kartoffel“ sagt, will er den anderen ganz sicher nicht als goldene nahrhafte Köstlichkeit beschreiben. „Wir tragen die schlimmsten Klamotten: die Hosen Karotten und Sandalen mit weißen Socken – Kartoffeln“, singt der Musiker Jan Delay. Und bevor man sich nun in eine Diskussion darüber begibt, welche Deutschen man nun genau damit beleidigen kann, muss man einfach mal feststellen: selber schuld. Also nicht die Kartoffel. Sondern die Deutschen. Sie haben es so weit kommen lassen! Weil sie die Kartoffel einfach haben fallen lassen. Weil sie aus der großen Liebe, aus einer festen, unverwüstlich wirkenden Beziehung eine On-off-Geschichte gemacht haben.
Kartoffelland? Die Letten verspeisen mehr als doppelt so viel
Man braucht sich jedenfalls nur eine Kurve anzuschauen, die des Kartoffelverbrauchs, und es kann einem bang um diese Liebe werden: Noch 1950 aßen die Deutschen 185 Kilogramm Kartoffeln pro Jahr. Mittlerweile sind es nur noch etwa 55 Kilo, die Hälfte davon Fertigprodukte. Die Letten verspeisen mehr als doppelt so viel. Sogar unter dem europäischen Durchschnitt liegt man damit. Woran aber liegt das? Und: Kann das eigentlich noch mal etwas werden? Ein Beziehungsreport, abgerundet mit einem Besuch bei Theo Lindinger und Dominik Klier, beide Anfang dreißig, Standbesitzer am Münchner Viktualienmarkt – und bevor man nun in die Ursachenforschung hineingeht, erst einmal ihre Geschichte. Zu schön, um sie nicht zu schreiben. Die Kartoffeljungs.
Ofenkartoffeln - eine heiße Sache beim Stand "Caspar Plautz" am Münchner Viktualienmarkt
Sie geht in aller Kürze so: Wie der Goldschmied Theo zufällig am Viktualienmarkt mit dem Besitzer eines Kartoffelstandes ins Gespräch kommt, der ihm erzählt, dass er den Laden aus gesundheitlichen Gründen aufgeben wird, und wie Theo am Ende einen Schlüssel in der Hand hält – den zum Kartoffelstand. Und wie er dann zusammen mit Dominik, Soziologe, Projektmanager, ebenfalls leidenschaftlicher Koch, sich ins Abenteuer stürzt: raus aus dem alten Job, rin in die Kartoffeln! Im November 2017, vier Monate nach der zufälligen Schlüsselübergabe, eröffneten sie „Caspar Plautz“, benannt nach einem österreichischen Benediktinermönch, der das erste Kartoffelrezept niederschrieb. Mittlerweile haben sie selbst zusammen mit ihrem Koch Kay Uwe Hoppe ein Kartoffel-Kochbuch herausgeben. Mittags stehen die Kunden Schlange. Nicht für Pommes. Sondern für Ofenkartoffeln! Heiße Sache! Zum Beispiel mit gepökelter und gegarter Bio-Ochsenbrust, sauren Zwiebeln, Miso-Creme, Gelben Rüben, Lauch und Erdnuss-Sesam-Crunch.
Mit der frischen Knolle können immer weniger etwas anfangen
Verrückte Geschichte also, zumal man noch eines wissen muss: Große Kartoffelliebhaber waren Theo und Dominik davor nicht! Aufgewachsen zwar noch mit Schupfnudeln und Kartoffelpuffer – dann aber haben sie die Kartoffel irgendwie aus den Augen verloren. Es ist ihnen da ergangen wie mittlerweile den meisten Deutschen. Noch immer ernten die deutschen Bauern zwar etwa zehn Millionen Tonnen Kartoffeln pro Jahr, aber mit der frischen Knolle als Grundnahrungsmittel – noch nicht zu Pommes oder Chips verarbeitet – können immer weniger Kunden etwas anfangen.
Ist etwa die Nudel schuld? Weil sie es dem Koch so einfach macht, auch nicht geschält werden muss, nicht geschnitten? Sind die Deutschen zu faul für die Kartoffel geworden? Auf jeden Fall ist die Nudel einer der Gründe, die von Experten stets angeführt werden, wenn es um den Kartoffelschwund in deutschen Mägen geht. Wobei die Nudel mit einem Pro-Kopf-Verbrauch von acht Kilo im Jahr noch lange nicht mit der Kartoffel mithalten kann. Aber als im März das große Hamstern begann, nahm zwar auch der Kartoffelabsatz in den Supermärkten zu, aber zuerst waren dann eben doch die Nudelregale leer. Und wer da nichts mehr bekam, bediente sich dann vielleicht im Regal nebenan mit Reis, Bulgur oder Quinoa.
Als wäre das noch nicht genug, gibt es auch noch jede Menge kartoffelfeindliche Diättrends. Die Kartoffel – entdecke ihre Stärke! So steht es beispielsweise auf der Webseite die-kartoffel.de. Aber das ist für Menschen, die um der Figur willen stundenlang auf Essen verzichten oder zumindest auf Kohlehydrate, überhaupt kein Spruch, der Appetit macht. Obwohl die Kartoffel kalorienarm ist, reich an Ballaststoffen und Vitaminen – Superfood also. Aber da können noch so viele Kartoffelköniginnen die Knolle rühmen, in den Köpfen der Deutschen steckt etwas anderes fest.
Die Kartoffel leidet vor allem unter ihrem Image
Das eigentliche Problem der Kartoffel ist deshalb auch ein anderes. Nicht die Nudel, nicht der Aufwand, nicht die Diäten. Es ist ihr Image. Es klebt an ihr die Biederkeit. Das Altbackene. Der Ruf des billigen Sattmachers ohne Geschmack. „Uncool und fad“, sagt Theo Lindinger. Sieht er heute natürlich ganz anders. Als sie die Zusage für den Stand bekamen, wussten sie auch gar nicht so recht, was sie mit der Knolle anfangen sollten. Echt jetzt, Kartoffeln? Zuerst einmal haben sie deswegen beim Nachbarstand alle Kartoffelsorten gekauft und ein Tasting gemacht, versucht zu beschreiben, was sie da schmeckten. Äääh … nussig, mineralisch, sandig? Dann nach Rezepten gesucht, Kochbücher durchforstet, Mama gefragt, Oma gefragt. Gekocht, gebraten, gedünstet … Rin in die Kartoffeln eben.
Wer Theo heute nach seiner Lieblingskartoffel fragt, muss erst mal selbst eine Antwort geben. Für welches Rezept denn? Mag man lieber speckig Feste oder cremig Weiche? Soll daraus ein Strudel werden, ein Kloß, ein Püree, ein Salat? Oder eine Pellkartoffel, Ofengemüse? Bei „Caspar Plautz“ gibt es natürlich auch keine in Plastik oder Netz verpackte namenlose Massenware, auf perfektes Aussehen getrimmt, sondern da liegen am Stand in Kisten die Deep Purple neben der Allians, das Bamberger Hörnchen neben der Roten Emmalie, schön erdig, mal kleiner, mal größer, knorrig, krumm. Kartoffelindividuen.
Übers Jahr verteilt bieten sie hier rund 100 Sorten an. Als Rarität zum Beispiel auch die La Bonnotte, eine Salzwiesenkartoffel, angebaut auf der kleinen französischen Insel Noirmoutier, nur für ganz kurze Zeit im Frühjahr auf dem Markt. Sie gilt als teuerste Kartoffel der Welt. Dem Mythos zufolge soll für ein Kilo einmal 900 Euro gezahlt worden. Bei „Caspar Plautz“ ist sie bezahlbar, sieben bis 20 Euro, eigentlich aber gleich immer ausverkauft. „Ganz feines cremiges Fleisch“, sagt Theo. Man kann sie auch als Dessert essen. Nenne niemand die La Bonnotte fad und bieder!
Linda und das Bamberger Hörnchen - zwei Liebesgeschichten
Und damit, Beziehungsreport, nun aber zur zweiten großen Frage. Kann das also noch mal etwas werden mit den Deutschen und der Kartoffel? Wer nach den Verkaufszahlen geht, muss zweifeln. Aber es gibt da eben seit Jahren auch schöne Geschichten. Die von der Sorte Linda zum Beispiel. Vor 15 Jahren hatte der Saatguthersteller Linda beim Bundessortenamt abgemeldet. Zu krankheitsanfällig, zu geringe Erträge, es ließ sich nicht mehr viel verdienen. Dann gründete ein Bauer den „Rettet-Linda-Freundeskreis“, zog vor Gericht und gewann. Eine Liebesgeschichte also.
Die Linda war natürlich auch schon Kartoffel des Jahres, so wie das Bamberger Hörnchen, eine alte Sorte, die ein bisschen aussieht wie eine Zigarre, es dank Hörnchen-Förderverein wieder zurück in die Sortenliste schaffte – und dann auch als Delikatesse in die Businessclass der Lufthansa.
Die Beziehung zur Kartoffel ist dennoch eine besondere: emotional nämlich
Im Moment, so glaubt Theo Lindinger, ergeht es der Kartoffel ein wenig wie der Breze. Früher gab es an jeder Ecke gute Brezen, dann kamen die Backshops und auf einmal waren all die guten Brezen verschwunden. Und dann? Kamen die Edelbäcker. Und die guten Brezen zurück. Wobei Theo sagt: „Dass die Kartoffel als Lebensmittel für alle elitär wird, das will ich nicht.“ Passt ja auch gar nicht zur Kartoffel. „Sie hat so etwas Heimeliges, etwas Erdendes, so etwas schönes Beruhigendes.“ Erst am Stand hier sei ihnen klar geworden, dass die Beziehung der Deutschen zur Kartoffel doch eine besondere ist. Emotional nämlich. Dass sie ein warmes Gefühl auslöst. „Viele verbinden sie mit Kindheitserinnerungen.“ Dann erzählen die Kunden vom Kartoffelsalat der Mama, für den es die Sieglinde sein musste, schwärmen von den Reiberdatschi und Kartoffelklößen, oder aber auch von den Pommes frites im Freibad ... Super Sache übrigens, finden auch die Standbesitzer.
Ihr Kochbuch, Titel „Caspar Plautz“, geht nun in die zweite Auflage. Die erste mit 3000 Exemplaren ist mehr oder minder verkauft. Es gibt darin zum Beispiel ein Rezept für Vitello Potato oder auch eines für Kartoffel-Lebkuchen. Das erste vom Benediktinermönch Plautz aufgeschriebene war im Übrigen eher simpel. „Nimm die Knollen und schneide sie, wenn sie gesäubert und weich gekocht sind, in Scheiben. Gib Öl, Essig, Pfeffer, Salz oder Zucker dazu und koste.“ Kartoffelsalat also. Theo Lindinger würde dafür zum Beispiel die Allians aus dem Ampermoos empfehlen. Festfleischig, schönes Gelb und kräftiges Aroma. „Das ist der Kartoffelgeschmack, nach dem sich die meisten sehnen.“
Wo aber noch Sehnsucht ist … Ach, du Kartoffel.
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