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Landtagswahl 2023: Mia san mia – aber was macht Bayern eigentlich aus?

Bayern, was ist das eigentlich?
Landtagswahl 2023

Mia san mia – aber was macht Bayern eigentlich aus?

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    Überraschende Anrufe aus der Kulturredaktion in unserem Korrespondentenbüro in München sind prinzipiell verdächtig, weil sie in aller Regel zusätzliche Arbeit zur Folge haben. Dieser Anruf wenige Wochen vor der Landtagswahl aber hatte es richtig in sich. „Du-u“, flötete die Kollegin, „du bist doch ein echter Bayer ... (Auweia!) ... hättest du vielleicht Lust ... (Gefahr!) ... rechtzeitig zur Wahl mal zu erklären, was das echte Bayern ausmacht und was davon noch übrig ist?“ (Die Falle ist zugeschnappt!).

    Mal eben Bayern erklären, das echte Bayern noch dazu – geht das überhaupt? Nur mal angenommen, ein echter Bayer ist einer, der mit dem Brustton der Überzeugung „Mia san mia“ sagt. Wenn man den fragt, was das heißt, dann sagt er wahrscheinlich: „Ja mei, des is doch klar“. Wenn man ihn dann noch fragt, was denn hier „klar“ sei und was „ja mei“ jetzt genau bedeuten soll, dann wird´s kompliziert. Dann muss er sich in Beispiele flüchten: Nur hier in Bayern gibt´s die Wiesn, die Masskrüge und die Lederhosen. Nur hier gibt´s den FC Bayern und BMW und ein anständiges Abitur. Nur hier verstehen die Leute Spezialausdrücke wie „Bockfotzng´sicht“, „Breznsoiza“ oder „Preißnpritschn“.

    Und die Bedeutung von „ja mei“? Da beißt´s dann komplett aus. An der Landtagswahl in Bayern lässt sich das Problem sehr schön zeigen. Da heißt es vorher wie hinterher: „Ja mei, die CSU.“ Manche sagen aber auch: „Ja mei, die SPD.“ Und dann hat das „ja mei“ gleich wieder eine ganz andere Bedeutung.

    Also: Klar ist da gar nix, ganz und gar überhaupt nix. Das „echte Bayern“ ist, nun ja, vielleicht irgendwie Ansichtssache. Sich als echter Bayer, als bayerischer Patriot zu fühlen, reicht jedenfalls nicht aus, um sich der Frage nach dem echten Bayern auf ernsthafte Weise zu nähern. Dazu braucht es nicht nur Gefühl, sondern Wissen, am besten historisches Wissen. 

    Kurz gesagt: Der Autor braucht professionelle Hilfe. Und die war in diesem Fall zum Glück nicht weit: Ferdinand Kramer, Professor für bayerische Landesgeschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität in München und 1. Vorsitzender der Kommission für bayerische

    Im Alten Hof
    Im Alten Hof Foto: Stock adobe

    In München einen Ort zu finden, um über die Anfänge Bayerns zu reden, ist nicht einfach. Der „Alte Hof“, die Burg von Heinrich dem Löwen, der im 12. Jahrhundert Herzog von Sachsen und nebenbei auch Herzog von Bayern war, ist zwar alt, aber längst nicht alt genug. Sie ist ein Symbol für die oft diskutierten Anfänge Münchens mit der Burg und dem Bau einer Brücke über die Isar. Der Herzog wollte eine neue Route für den Salzhandel zwischen Reichenhall und Schwaben bis zum Bodensee etablieren, um damit Geld zu verdienen. Das gelang ihm schließlich auch – sehr zum Ärger des Bischofs von Freising, der bis dahin an seiner Brücke weiter nördlich fleißig Zoll kassierte.

    Die Geschichte Bayerns beginnt viel früher, schriftlich bezeugt seit dem 6. Jahrhundert, also in der historischen Epoche nach dem Zusammenbruch des Römischen Reiches, die gemeinhin „Völkerwanderung“ genannt wird. „Es wird immer wieder darüber spekuliert, woher die Bayern kamen. Sicher wissen wir nur, dass es ein Land und Menschen gab, die von Durchreisenden schon damals Bayern genannt wurden“, sagt Professor Kramer.

    Der Theorie, dass sich der Name „Bayern“ herleitet vom keltischen Stamm der „Boier“, die unter anderem im Gebiet des heutigen Tschechien gesiedelt hätten, und dass mit den Bayern deshalb die „Leute aus Böhmen“ gemeint gewesen seien, steht Kramer skeptisch gegenüber. „Lange Zeit war man dieser Meinung, dass die Bayern als Stamm aus

    Gab es also, wie jüngere Historiker sagen, zur Zeit der „Völkerwanderung“ gar keine wandernden Völker? Dazu sagt Kramer: „Jede Zeit und jede Gegenwart schafft ihre eigenen Geschichtsbilder. Im 18. Jahrhundert wurden die Bayern wie selbstverständlich als keltische „Boier“ wahrgenommen. Im nationalistisch geprägten 19. Jahrhundert sollten sie Germanen sein. In jüngerer Zeit wollte sich die Gesellschaft auch multikulturell verstehen und die Bayern sollten entsprechend ein ´Mischvolk´ sein.“

    Die Skepsis des Historikers gegen jede Form von Vereinfachung hat Gründe. Neue Quellen und Methoden erweitern das Wissen und relativieren vermeintliche Gewissheiten, können aber auch in die Irre führen. Kramer hat dafür ein illustres Beispiel: „Stellen Sie sich vor, dass wir irgendwann mal ausgegraben werden. Dann sind wir in den Augen von Archäologen möglicherweise Chinesen, weil sich bei uns so viele chinesische Produkte finden.“

    Ist da also gar nichts an ihren Ursprüngen, worauf die Bayern sich bis heute etwas einbilden können? Eine Besonderheit gibt es schon. Aus der Zeit der ersten Herrscherfamilie, den Agilolfingern, gibt es eine Sammlung von Gesetzestexten. Die „Lex baiuvariorum“ ist zwischen dem 6. und 8. Jahrhundert entstanden und kann, modern gesprochen, als Ausdruck einer frühen Form von Staatlichkeit gelten. „Das ist eine bedeutende Quelle“, sagt Kramer, „wenn man ihr glauben darf, dann sollten die Herzöge in Bayern stets aus der Familie der Agilolfinger kommen. Aus heutiger Sicht sind hier zwei Aspekte bedeutsam. Es gab wohl über mehrere Generationen eine Herrscherfamilie, was zur Verfestigung dieses Herzogtums Bayern beigetragen haben konnte. Und es ist nachweislich so, dass man sehr früh einen Herzog von Bayern kennt. Ob man Bayern deshalb zum ältesten Staat Europas erklären kann, sei dahingestellt. Aber in dem Moment, in dem Herrschaftsstrukturen benannt werden, kann man davon ausgehen, dass es Formen von Herrschaft, Verwaltung und Staatlichkeit gegeben hat.“

    Immerhin: Es ging hier mit einer eigenen Staatlichkeit offenbar früh los. Bayern hat tiefe Wurzeln.

    Im Lenbachhaus
    Im Lenbachhaus Foto: Fabian Nitschmann, dpa

    Die zweite Station der Spurensuche ist das Lenbachhaus, weil hier in den Archiven ein berühmtes Gemälde des Malers Franz Defregger aus dem Jahr 1881 aufbewahrt wird, das einer bayerischen Legende huldigt – dem Schmied von Kochel. Es zeigt einen hünenhaften Mann in Lederschürze, der eine schwere Wagendeichsel hoch über den Kopf stemmt, um damit am Weihnachtsmorgen des Jahres 1705 auf das Münchner Stadttor am „Roten Turm“ in Sendling einzudreschen. Der Aufstand gegen die Herrschaft der Habsburger, deren Truppen weite Teile Bayerns besetzt hatten, erfolgte unter dem Schlachtruf „Lieber bayerisch sterb´n, als kaiserlich verderb’n.“ Die Erstürmung des Roten Turms gelang, mehr aber nicht. Der Aufstand wurde blutig niedergeschlagen. In

    Die reale Vorgeschichte des „Bayerischen Volksaufstandes“ ist kompliziert. Kramer spricht von einer Kombination möglicher Ursachen der Erhebung: wirtschaftliche Schwierigkeiten, Empörung über die kaiserliche Besatzung, Widerstand gegen die Rekrutierung junger Männer für das Militär, soziale Missstände, wohl auch Loyalität zum geächteten Landesfürsten Max Emanuel aus dem Haus Wittelsbach. Einig waren sich in dieser Frage schon die Zeitgenossen nicht. Sogar in bayerischen Quellen seien die Aufständischen bisweilen als irregeleitete Leute hingestellt worden.

    Das Gemälde „Die Erstürmung des Roten Tores“ von Franz von Defregger huldigt einer bayerischen Legende - dem Schmied von Kochel.
    Das Gemälde „Die Erstürmung des Roten Tores“ von Franz von Defregger huldigt einer bayerischen Legende - dem Schmied von Kochel. Foto: Joachim Blauel, dpa

    Aber wie das halt so ist mit Legenden: Sie entfalten, wenn sie nützlich erscheinen, eine reale Wirkung. „Wir haben es beim Schmied von Kochel, der von der Forschung nie als reale Figur hat identifiziert werden können, mit einer Amalgamierung von Mythen und realen Begebenheiten zu tun“, sagt Kramer. Als es in den napoleonischen Kriegen im Jahr 1805 wieder gegen Österreich bzw. den Kaiser ging, sei der Aufstand von 1705 neu interpretiert worden. „Von da an sind die Bauern von 1705 zu Helden umgedeutet worden, die bayerisch-national gesinnt und aus Treue für ihren Landesherrn einstanden und für die Eigenständigkeit ihres Landes kämpften.“ Das habe sich in Variationen wiederholt: 1905 als Reaktion auf den Wilhelminismus und noch einmal nach 1945. „Mit dem sozialdemokratischen bayerischen Ministerpräsidenten Wilhelm Hoegner gab es 1955 zum 250-jährigen Jubiläum eine Feierstunde in Sendling und im Herkulessaal der Münchner Residenz.“

    Nationale Mythen funktionierten meist auf diese Art und Weise, sagt Kramer. „Da werden ein Teil historische Realität und ein Teil Legende für ein gegenwärtiges Anliegen miteinander verwoben, bekommen dadurch eine eigene Wirkkraft und verselbstständigen sich.“ Man könne das – mit einem Augenzwinkern – mit Asterix und Obelix vergleichen: „Das Frankreich der Nachkriegsjahrzehnte, das nach dem Verlust der Kolonien um seine Identität in einer veränderten Welt ringt, sträubt sich erfolgreich gegen ein großes Reich.“

    Was ist davon geblieben? Besonders die Gebirgsschützen im Oberland haben sich das Gedenken an 1705 stark auf die Fahnen geschrieben. Speziell in den Ortschaften, aus denen viele Aufständische kamen, wo noch Familiennamen und Häuser der Aufständischen bekannt sind, wird daran erinnert. Ob sich daraus auch der Eigensinn erklären lässt, der den Menschen in diesen bayerischen Kernlanden bis heute nachgesagt wird? „Da wäre ich vorsichtig“, sagt Kramer, „eine gewisse Eigensinnigkeit ist da oft literarisch beschrieben worden. Alles Weitere ist Spekulation. Der Historiker stößt da an Grenzen seiner Erkenntnismöglichkeiten.“

    Fazit: Ein Eigensinn ist da, seine Herkunft ist unklar.

    In der Residenz
    In der Residenz Foto: Stock adobe

    Mythen wirken indirekt, Herrschaft wirkt direkt. Der zentrale Ort der Herrschaft in Bayern war über 400 Jahre die Münchner Residenz, die über die Jahrhunderte immer weiter ausgebaut wurde und mit 40.000 Quadratmetern Grundfläche eines der großen Stadtschlösser in Europa ist – ein mächtiges Symbol bayerischen Selbstbewusstseins. Hier gab es seit 1806 einen König, der nie mit einem Zeremoniell gekrönt wurde, der aber zwölf Jahre später einen Eid auf die neue Verfassung ablegte. Hier galt es Antworten zu finden auf die politischen Veränderungen, die Umwälzungen im Gefolge der napoleonischen Kriege und später die Herausforderungen der Industrialisierung. 

    Schon die Jahre 1778/79 – lange vor Napoleon – markieren laut Professor Kramer einen „geopolitischen Wendepunkt“. Bis dahin sei das katholische Bayern wesentlich nach Süden ausgerichtet gewesen. Dann erbten die Wittelsbacher aus der Pfalz die bayerischen Lande. München wurde Hauptstadt des vereinigten

    „Es war eine Herausforderung für die Wittelsbacher, in den Jahrzehnten danach integrativ zu wirken“, sagt Kramer. Die Verwaltung unter Graf Montgelas wurde reformiert, mit der neuen Verfassung ab 1818 wurden Partizipationsmöglichkeiten geschaffen – erst in der Ständeversammlung und später im Landtag – und die Herrscher hätten sich Mühe gegeben, Geschichte und Traditionen in Schwaben und Franken zu respektieren.

    Eine „aktive Identitätspolitik“ hätten die Wittelsbacher auch betrieben, als sich im Zuge der Industrialisierung und Urbanisierung die Unterschiede zwischen Stadt und Land und neuen gesellschaftlichen Gruppen wie der Industriearbeiter ausprägten. Auf die gesellschaftlichen Probleme im Zuge der Industrialisierung habe man reagiert, auch indem man das ländliche Bayern in den Vordergrund gerückt und idealisiert hat – das Brauchtum, die Trachten, die Schönheit der Landschaften.

    Kramer beschreibt eine Politik des Ausgleichs im Innern. „Es entfaltete sich in Bayern durch Wahlrechts- und Verfassungsreformen eine parlamentarische Tradition, die bis 1918 weiter fortgeschritten war als etwa in Preußen.“ Im Wilhelminismus im deutschen Kaiserreich (seit 1871) erlebte Bayern im späten 19. Jahrhundert, dass Berlin immer mehr Macht an sich zog. Das hat sich mit der Weimarer Verfassung im frühen 20. Jahrhundert noch einmal verstärkt.

    Es ist nach Auffassung Kramers zu eng, die deutsche und bayerische Geschichte so sehr vom Jahr 1933 aus zu denken, als die Nationalsozialisten in Deutschland die Macht ergriffen. „Man vergisst dabei oft, dass die Leute, die nach dem Zweiten Weltkrieg den gesellschaftlichen und staatlichen Wiederaufbau in Bayern maßgeblich prägten, aus einer weiterreichenden Tradition kamen. Der Sozialdemokrat Wilhelm Hoegner oder die Christsozialen Hans Ehard und Alois Hundhammer waren in den 1880er/90er Jahren geboren, zunächst im König- und Kaiserreich sozialisiert, in Parteien und Parlamenten der Weimarer Demokratie bis 1933 engagiert. Sie waren die Verlierer von 1933, aber dann die Gewinner von 1945“, sagt Kramer. Sie hätten über Parteigrenzen hinweg ein humanistisches Menschenbild, ein gemeinsames Wertefundament vertreten und 1946 eine neue bayerische Verfassung formuliert, die an die parlamentarischen und demokratischen Traditionen Bayerns anknüpfte.

    Identitätsrelevant für Bayern haben nach dem II. Weltkrieg eine dezidierte Heimat- und Geschichtspolitik und unter anderem der Bayerische Rundfunk bzw. das Fernsehen gewirkt mit Serien wie „Boarischer Hoagascht“ „Komödienstadel“, dem „Königlich Bayerischen Amtsgericht“, später den „Münchner G´schichten“ oder „Irgendwie und sowieso“. Dabei sei es nicht darum gegangen, die Zeit des Nationalsozialismus oder München als „Hauptstadt der Bewegung“ vergessen zu machen, sondern darum, in Abgrenzung dazu und zu gescheitertem deutschen Nationalismus und Machtstaatlichkeit bayerische Traditionen in den Vordergrund zu rücken.

    Fazit: Die Bayern sollten nach 1945 wieder neu lernen, wer sie waren.

    In der BMW-Welt
    In der BMW-Welt Foto: Sven Hoppe, dpa

    Früher hat man in Bayern dem Herrgott Kirchen und Klöster gebaut – im modernen, wirtschaftlich erfolgreichen Freistaat errichtet man riesige Tempel für das Automobil. Dieser Gedanke kann einem durch den Kopf schießen, wenn man die im Jahr 2007 fertiggestellte BMW-Welt in München betritt. Die Tradition ist woanders, auf dem Land, in den Bergen, auf den Volksfesten. Wenn man die Menschen fragt, was sie an Bayern besonders mögen, so berichtet Professor Kramer, dann steht die schöne Landschaft ganz oben auf der Liste.

    Hier am Petuelring steht man vor den Symbolen der Moderne, die bis zu den Olympischen Spielen 1972 errichtet wurden – BMW-Turm, Olympiaturm und Stadion mit Zeltdach. Das Spannende daran sei die Geschichte dahinter, sagt Kramer. So rasant, wie es häufig geschildert wird, ging es mit der Wirtschaft in Bayern nach dem Krieg nämlich nicht nach oben. Auf die Zuwanderung der Flüchtlinge nach 1945 folgte zunächst eine jahrelang anhaltende Abwanderung in andere Teile Deutschlands, wo es mehr Arbeit gab. Erst in der zweiten Hälfte der 50er Jahre habe sich das geändert, sagt Kramer. Die Wanderungsbilanz drehte sich wieder ins Positive. Es wurden plötzlich weniger Motorräder, dafür aber mehr Autos neu zugelassen. 

    Dass die CSU heute den wirtschaftlichen Aufschwung Bayerns als ihre alleinige Leistung reklamiert, ist nach Kramers Schilderung nicht gerechtfertigt. Zwar hatten CSU-geführte Regierungen unter Ministerpräsident Hans Ehard den Wiederaufbau und die Grundlagen geschaffen, doch zur Zeit der großen Wende ab Mitte der 50er Jahre regierte drei Jahre lang eine Vierer-Koalition, die unter der Führung der SPD weitere Impulse gegeben hat. „In der Wirtschaftspolitik gab es trotz der Regierungswechsel eine beachtliche Kontinuität. Da waren sie sich einig: Man muss die Menschen in Arbeit bringen, das Leben der Menschen verbessern und das wirtschaftlich zurückliegende Bayern soll zum Bundesdurchschnitt aufschließen.“

    Welch einen Schub die Olympischen Spiele der Landeshauptstadt und Bayern brachten, zeigt sich laut Kramer an einem bemerkenswerten Vorgang. Schon Anfang der 60er Jahre platzte München aus allen Nähten. In einem Stadtentwicklungsplan wurde niedergelegt, was in den kommenden 30 Jahren für die Infrastruktur getan werden müsse. Als die Stadt dann wenig später den Zuschlag für die Olympischen Spiele bekam, konnte vieles in nur sechs Jahren realisiert werden. „Kaum eine Stadt in dieser Größe hatte bereits 1972 eine U-Bahn.“

    Ein weiterer Glücksfall für Bayern war, dass hier die USA, der damals stärkste Staat der Welt, 1945 Besatzungsmacht geworden waren. Deren Engagement nutzte Bayern politisch wie wirtschaftlich und lenkte Investitionen sowie Firmen nach Bayern. Die US-Soldaten, die häufig an besonders reizvollen Orten stationiert waren, lernten den Freistaat von seinen schönen Seiten kennen. Welche Rolle diese Umstände gespielt haben, erklärt Kramer wiederum am Beispiel BMW: Auch hier habe man zeitweise überlegt, ob der Versuch, die Weltmärkte zu erobern, mit dem Namen „Bayerische Motorenwerke“ gelingen kann. Man entschied sich daran festzuhalten, weil man festgestellt hatte, dass das Image Bayerns viel positiver war als das deutsche Image. „Die Firmenchefs haben sich für den bewährten Markennamen BMW entschieden, weil Bayern schon vorher in aller Welt eine positiv besetzte Marke war.“

    Fazit: Die Bayern sind wer in der Welt.

    Am Viktualienmarkt
    Am Viktualienmarkt Foto: Robert Auerbacher

    Endstation Gegenwart hier am Viktualienmarkt. Das pralle Leben, Wohlstand im Überfluss. Menschen aus aller Welt drängen sich. Und zwischendrin die Brunnen zur Erinnerung an die Münchner Volkssänger Karl Valentin, Liesl Karlstadt, Weiß Ferdl. „Das ist auch sehr klischeehaft hier, aber andererseits hat es eine ganz eigene Art von Liebenswürdigkeit und Friedfertigkeit“, sagt Professor Kramer.

    Was hat sich geändert? Die Volkssänger oder ernsthafte Kabarettisten gibt´s kaum noch, stattdessen viel billige Comedians und Mia-san-mia-Gaudianer. Es geht ums Marketing, um den Fremdenverkehr, ums Geld. Ein neuer afrikanischer Fußballprofi beim FC Bayern muss erst einmal eine Lederhose anziehen, aufs Oktoberfest gehen und ein paar bayerische Worte sagen, schon ist ihm in Münchner Boulevardzeitungen eine Schlagzeile sicher. Das kann doch nicht mehr das echte Bayern sein, oder?

    Professor Kramer widerspricht. Selbstverständlich seien Jahrhundertfiguren wie Karl Valentin nicht beliebig reproduzierbar. Und ein Verein wie der FC Bayern betreibe halt nun mal globales Marketing. Aber jenseits von Marketing und unterhalb der medialen Oberfläche verstecke sich schon noch mehr. Ein Film wie Rosenmüllers „Wer früher stirbt, ist länger tot“ hätte wohl nirgendwo sonst als in Bayern gedreht werden können, sagt Kramer. Er verweist auf ein besonderes Spannungsverhältnis zwischen der Metropole München und einladenden Landschaften im Umland als Quelle von Kreativität, sei es bei Gabriele Münter und den Künstlern des Blauen Reiters, bei Carl Orff und vielen anderen.

    Kann man sich das kulturelle Fundament Bayerns somit als einen großen fruchtbaren Sumpf vorstellen, der immer wieder schöne neue Blüten hervorbringt? Na ja, sagt Kramer, wählt aber ein anderes Bild. „Denken Sie sich ein Glas Wasser. Das schmeckt meist überall gleich. Doch mit ein paar Tropfen Saft, schmeckt es gleich ganz anders. Wenn da dann etwas Bayern dabei ist, dann macht das einen Unterschied.“

    Fazit: Im echten Bayern kommt es auf die richtigen Zutaten an.

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