Es war ein unbeschwerter Spätsommer 2019. Wir – zwei alte Schulfreunde und ich – brachen noch im Morgengrauen in Bukarest auf. 13 Stunden würde diese Fahrt dauern, vorbei an Melonenständen, Eselskarren und endlosen Weizenfeldern, über Schlaglochpisten und dem Navigationsgerät gänzlich unbekannte Überlandstraßen. 13 Stunden für knapp 600 Kilometer.
Hauptgrund für das Schneckentempo war ein ukrainischer Grenzsoldat vor dem Dörfchen Reni gewesen. Seine Uniform schmiegte sich an einen schweren Körper. Er brauchte eigentlich keine Waffe, um einschüchternd zu wirken. Die Durchschlagskraft seiner eisblauen Augen genügte. Wir hatten die Stauzeit vor der Grenzstation überstanden, die brütende Hitze, den moldawischen Zoll, irgendwie, mit Händen, Füßen und flehenden Blicken. Nun folgte der Endgegner.
Wir waren, um ehrlich zu sein, dankbarer Anlass für eine ausgiebige Inspektion: drei Jungs Anfang 20, deutscher Pass, rumänisches Kfz-Kennzeichen, aus Moldau kommend, in die Ukraine wollend. Der Soldat also prüfte missmutig unsere Mietwagen-Papiere, durchwühlte unsere Koffer bis auf die Unterhosen, las die Gebrauchsanweisungen der Medikamente, ging immer wieder ins Grenzhäuschen. Wir – damals kaum in der Lage, die kyrillischen Straßenschilder fehlerfrei zu entziffern – befürchteten Schlimmstes. Irgendwann aber kam der Grenzer mit den gestempelten Reisepässen. Seine Englischkenntnisse beschränkten sich auf die W-Fragen:
„Where?“, keifte er uns an. „Odessa“, antwortete ich. „Odessa. What?“, fragte er. „Tourism“, antwortete ich.
Zum ersten Mal war im Gesicht des Uniformierten so etwas wie eine positive Regung zu erkennen. Er konnte es kaum glauben, grinste, seine Stimme sprang um zwei Oktaven nach oben. Belustigt hakte er noch einmal nach: „Tourism?“
Wir verstanden die Frage nicht. Odessa, da sind neben der Spanischen Treppe in Rom die berühmtesten Stufen der Welt, 192 an der Zahl, die Potemkinsche Treppe. Da ist das bekannte neobarocke Opernhaus. Da locken Strand und die ukrainische Sonne. Bildung und Braunwerden. Kultur und Campari. Odessa, ein Sehnsuchtsort. Für Reiseunternehmen „die Perle am Schwarzen Meer“, für Einheimische einfach nur „Mama Odessa“. Aber der Grenzbeamte schaute uns ungläubig an, als würden wir in ein Kriegsgebiet fahren wollen.
Zweieinhalb Jahre später. Der Verkehr an der Grenzstation Reni staut sich jetzt vor allem in die Gegenrichtung. Gut 400.000 ukrainische Kriegsflüchtlinge haben bisher allein in der Republik Moldau Unterschlupf gefunden. Aus Odessa ist eine Trutzburg geworden. Etwa die Hälfte seines Außenhandels wickelt die Ukraine über den Hafen der Metropole ab. Die drittgrößte Stadt des Landes ist von höchster strategischer Bedeutung in Wladimir Putins Angriffskrieg. Erst am vergangenen Sonntag flogen Raketen auf eine Raffinerie und Treibstoffdepots.
Putins Truppen umzingeln Odessa von drei Seiten
Vor den Toren der Stadt lauern russische Truppen: Im Osten, wo Putins Armee 130 Küstenkilometer entfernt gegen die ukrainischen Verteidiger um die Stadt Mykolajiw kämpft. Im Süden, wo ein gutes Dutzend russischer Kriegsschiffe im Schwarzen Meer liegt, unter anderem mit Landungsbooten und dem fast 190 Meter langen Lenkwaffenkreuzer „Moskwa“. Und im Westen, in der prorussischen Separatistenrepublik Transnistrien, einem schmalen Landstreifen Moldawiens, wo der Kreml noch etwa 1500 Soldaten stationiert haben soll.
Und auch wenn Odessa bisher von großen Kampfhandlungen verschont blieb, gut eine Million Menschen bereiten sich hier auf einen Angriff vor. Die Küstengewässer sind vermint – ob von Russen oder Ukrainern, darüber streiten beide Kriegsparteien. Am Strand liegen jetzt Stacheldraht und Panzersperren, zusammengeschweißt aus Straßenbahnschienen. Den Sand füllen die Odessiter in Säcke. Sie kleiden damit die Bronzestatue des Herzogs von Richelieu ein, Anfang des 19. Jahrhunderts Statthalter von Odessa. Sie errichten damit Barrieren vor der Oper – genau an der Stelle, an der schon 1941 eine Straßensperre gegen deutsche und rumänische Belagerer errichtet worden war. Auf der Potemkinschen Treppe patrouillieren nun schwerbewaffnete Soldaten, in den Katakomben stellen Freiwillige Molotow-Cocktails her, aus dem einstigen Lebensmittelmarkt wurde eine Einsatzzentrale des Roten Kreuzes. Nichts von dem, was man jetzt hört und liest und sieht, erinnert an das Odessa des Sommers 2019.
Es war drückend heiß gewesen damals. Wir schlenderten durch die für diese Stadt so typischen kopfsteingepflasterten Alleen, vorbei an alten Ladas und einer Miniatur-Ikea-Filiale mit französischem Balkon. Wir fuhren mit der Straßenbahn, die es seit dem späten 19. Jahrhundert gibt. Wir aßen Salo, den fettigen ukrainischen Speck, und löffelten Borschtsch, eine grüne und eine rote Variante. Skeptisch begutachteten wir den „Bomber“, ein Fahrgeschäft mit Überschlag, höchstwahrscheinlich aus Gorbatschow-Zeiten, stiegen aber nicht ein, sondern gingen an den Arkadia-Strand. Verbrannte Haut, Schirme aus Billigplastik, kühles Wasser. Östlicher Charme küsst südlichen Flair, hier in Odessa, an der ukrainischen Riviera.
Wir tanzten und wir aßen zusammen. Wir brachten uns Schimpfwörter bei. Dann sahen wir uns nie wieder.
Und wir trafen eines Abends die drei Einheimischen Jana, Anastasija und Anja. Sie läuteten die Nacht, wie wir, im Außenbereich einer Bar ein. Irgendwann wurde aus zwei Tischen einer. Bier, Wodka, Zigarette. In dieser Reihenfolge, irgendwann kreuz und quer. So ging das ein paar Runden, während wir uns über Putins Krim-Obsession, die deutsche Erinnerungskultur und über Anastasijas unserer Meinung nach verblüffende Ähnlichkeit zu einer der letzten Zarentöchter unterhielten, einer Namensvetterin aus der Romanow-Dynastie. Sie bestritt jegliche Verwandtschaftsbeziehung.
Wir tanzten auf Holzparkett. Wir brachten einander Schimpfwörter in der jeweiligen Muttersprache bei. Wir aßen – als Vier-Uhr-Nacht-Snack – noch Schawarma, eine in der Ukraine beliebte Abwandlung des Döners. Und dann sahen wir uns nie wieder.
Wenn ich die Bilder von damals über die Bilder von heute lege, dann muss ich oft an diesen einen Abend denken, an diese Stunden der Unbeschwertheit, an diese wunderschönen Stadt, an Jana, Anastasia und Anja. Wie geht es ihnen jetzt, wo die Ukraine zum Schlachtfeld und Odessa zum potenziellen Ziel von Putins Machtfantasien geworden ist?
Ein Videoanruf ans Schwarze Meer. Auf dem Bildschirm erscheint eine inzwischen 29-jährige Frau, die viel von ihrer Quirligkeit verloren zu haben scheint. Doch es ist Jana. Anastasija werde ich später auch noch erreichen, Anna ist schon vor zwei Jahren nach Polen ausgewandert – muss man aus heutiger Sicht sagen: Zum Glück? Jana jedenfalls ist noch hier, und sie wirkt müde. Im Süden von Odessa sitzt sie in einem modernen Apartment im zwölften Stock eines Wohnblocks, dreht ihre Kamera und zeigt aus dem Fenster. Dort, wo die Wellen wiegen sollten, am Arkadia-Strand, ziehen dicke Rauchschwaden über die Stadt. Was das sei, frage ich. „Ich weiß es nicht“, sagt Jana. „Aber Bomben waren es nicht.“
Als ich mit Jana zum ersten Mal wieder in Kontakt trat, einen Tag nach Putins Einmarsch, da wirkte sie noch gefasst. „Es ist ruhig. Ich habe gestern ein paar Schüsse von weiter weg gehört. Sie müssen erst durch Cherson und Mykolajiw. Es ist nicht so leicht, nach Odessa zu kommen, wie es scheint“, schrieb sie. Anderthalb Monate später ist Jana mal wieder vor einem Bombenalarm geweckt worden, um 4 Uhr morgens. Wie immer ging sie in den Sicherheitsraum ihrer Wohnung, den mit den Dreifachwänden, und wartete, bis die Sirenen aufhörten zu heulen. „Heute ist ein guter Tag. Wir hatten nur einen Alarm. Normalerweise sind es drei oder vier“, sagt sie.
Die russische Armee ist nicht in der Stadt. Aber der Krieg ist schon da. Jana hört Schüsse. Sie hört Bomben. Aber sie weiß nicht genau, was passiert. „Die ganze Zeit denke ich, dass ich hier nicht sicher bin“, sagt sie. Von 21 Uhr bis 6 Uhr herrscht Ausgangssperre. Noch vier Schüler blieben Jana, einer Sprachlehrerin. Von ehemals 20. Der Rest ist geflohen.
Und doch gibt es so etwas wie Alltag in Odessa. Jana geht mit dem Hund ihrer Schwiegereltern Gassi. Jeden Morgen fährt sie ihren Freund zur Arbeit. Er betreibt ein Café. Auch wenn er seine Baristas hat entlassen müssen, weil der Umsatz ausblieb – noch immer kommen die Menschen und trinken hier ihren Kaffee. Viele Läden bleiben offen. Nicht die Bar von damals, erzählt Jana. Wollte sie ein Bier in den letzten Wochen, als der Verkauf von Alkohol verboten war, klopfte sie an die Tür eines kleinen Shops und verlangte nach einer besonderen Fischsorte. Das war die Code für: Eine Flasche, bitte! Das Verbot wurde inzwischen aufgehoben. „Ich habe heute das erste Mal wieder legal Bier gekauft. Ich bin so glücklich!“. Jana muss laut lachen.
Odessa ist nicht tot. Die Menschen hungern nicht, wie in Mariupol, der Küstenstadt, die Putin dem Erdboden gleichmachen ließ. Und trotzdem hat Jana seit Neuestem eine Dose „Omas Erbsen-Eintopf“ aus Deutschland in der Küche stehen. Hat ein Freund aus Köln geschickt, sagt sie. Auch aus Griechenland erreichte sie ein Päckchen. Jana hat Freunde überall in Europa. Ihren alten Reisepass umschließt eine Hülle mit dem britischen Union Jack. Sie machte Sommerurlaub in der Türkei und ging Skifahren in Österreich, Saalbach-Hinterglemm, den Namen hat sie sich gemerkt. Sie ist eine westlich orientierte Frau.
Und damit passt sie in dieses kosmopolitische Odessa, wo die Menschen aus aller Welt hinzogen, viele Künstler, viele Juden – sie machten lange Zeit ein Drittel der Stadtbevölkerung aus, bevor die Nazis sie in die Flucht oder den Tod trieben. Jenes Odessa, über das Puschkin einmal schrieb: „Dort wehen schon Europas Lüfte, dort streut der Süden Glanz und Düfte, pulsiert das Leben leicht beschwingt, Italiens holde Sprache klingt. Auf allen Straßen: hier Slowenen, dort Spanier, Frankreich, Griechenland – hat reiche Kaufherrn hergesandt.“
Odessa ist russisch geprägt. Dachte Putin etwa, die Stadt würde überlaufen?
Eine besondere Bindung aber hatte diese Stadt immer zu Moskau. 1794, als das Russische Kaiserreich nach Süden expandierte und die Gegend Noworossija, Neurussland, taufte, gründete Katharina Odessa als strategische Hafenstadt am Schwarzen Meer. Hier meuterten Matrosen auf dem Linienschiff Potemkin, streikten Arbeiter, fand die erste russische Revolution 1905 großen Zulauf, ehe zaristische Truppen ein Massaker anrichteten. Hier stießen die Maidan-Revolutionäre 2014 auf prorussischen Widerstand. Es kam zu Ausschreitungen, 48 Menschen starben, 42 davon, weil pro-ukrainische Militante das alte Gewerkschaftshaus in Brand steckten, in dem sich Gegendemonstranten versteckt hielten.
65 Prozent der Odessiter sprechen nach dem offiziellen Zensus Russisch. Ihr Dialekt hat Einflüsse aus dem Jiddischen und Ukrainischen. Vielleicht dachte Putin auch deshalb, dass er mit Odessa leichtes Spiel haben werde, dass die Stadt von selbst überlaufen würde. Immer wieder nehmen ukrainische Kräfte derzeit Kollaborateure fest. Insgesamt aber steht Odessa hinter Kiew. Im Stadtzentrum spielte die Marine-Kapelle neulich ein Medley aus „Don’t worry, be happy“ und der ukrainischen Nationalhymne. Präsident Wolodymyr Selenskyj sagte: „Russen kamen immer nach Odessa. Sie fühlten immer nur Wärme in Odessa, nur Aufrichtigkeit. Und was nun? Bomben auf Odessa?“
Wie wahrscheinlich ist es, dass nicht nur Bomben fliegen? Dass die Perle am Schwarzen Meer im Häuserkampf versinkt? Dass nach Irpin und Butscha auch Odessa zur Chiffre für Unmenschlichkeit wird? Wolfgang Richter hat einen ziemlich guten Überblick über die Lage in der Ukraine. Der Oberst a. D. ist Militärexperte bei der Stiftung Wissenschaft und Politik. Er sagt: „Es gibt zwei Möglichkeiten, mit denen Odessa rechnen muss – ein Stoß aus dem Osten über Mykolajiw; oder eine Seelandung mit Marineinfanteriekräften und Landungsschiffen.“ Doch Putins Bodentruppen kommen aktuell nicht voran. Und eine Landung übers Meer schätzt der britische Militärgeheimdienst als „sehr riskant" ein, weil die ukrainischen Kräfte Zeit gehabt hätten, sich vorzubereiten.
Es gibt Militärstrategen, die halten es für einen Taktikfehler Putins, Odessa nicht sofort angegriffen, sondern stattdessen eine Großoffensive auf Kiew gestartet zu haben. Seit Russland die Krim annektierte und mit ihr den Militärhafen von Sewastopol, befindet sich das Hauptquartier der ukrainischen Marine in Odessa. Doch die Seekräfte sind schwach. Ihr einziges nennenswertes Kriegsschiff haben die Ukrainer vor den Gewässern der Stadt selbst versenkt, um eine Übernahme durch Russland zu verhindern. „Ich vermute schon, dass die russische Armee noch einige Anstrengungen unternehmen wird, um von Landseite über Odessa vorzudringen. Dann hätten sie die Küstenlinie gegenüber der Logistik und Versorgung der Ukraine komplett abgeriegelt“, sagt Richter. Das Ziel, Odessa einzunehmen, werde sicherlich bleiben. Ob es gelingen werde, daran hat er seine Zweifel.
Seinen Angriff im Norden, auf Kiew, hat Putin aufgegeben. Er will den Schwerpunkt nun auf die Gebiete des Donbass im Osten legen, genau dort, wo Janas Familie wohnt, dort, wo dieser Krieg eigentlich begann, im Jahr 2014.
Jana hatte gerade ihren Abschluss in Außenwirtschaftslehre an der Universität in Donezk gemacht. Hier, in den heutigen russischen Separatistengebieten, ist sie verwurzelt. „Weißt du“, sagt Jana, „ich wurde 1992 geboren. Die Ukraine ist nur ein Jahr älter als ich. Meine Eltern wurden in der Sowjetunion geboren. Und meine Urgroßeltern im Russischen Reich. Alle im selben Gebiet, aber in drei verschiedenen Staaten.“ Die komplizierte Geschichte der Ukraine, entfaltet an einem einzelnen Stammbaum.
Als Jana noch in Donezk war und dort der Krieg ausbrach zwischen den Moskautreuen und den Kiewer Streitkräften, habe es keine Warnsirenen gegeben. Jana lernte, sich bei einem Angriff sofort auf den Boden zu werfen, die Augen zu schließen und zu hoffen, dass nach dem Bombenhagel das Leben weitergeht. Ihre Familie ging nach Mariupol, in Sicherheit. Sie selbst zog es nach Odessa. Schöne Stadt, Russisch als Sprache, ein bisschen Spaß, ein Interimsjob. Das war ihr Plan. „Wir dachten, der Krieg wäre nach ein paar Wochen vorbei.“
Aber er ging nicht vorbei. Jana blieb in Odessa. Und ihre Familie kehrte nach einem Jahr wieder zurück nach Donezk, weil das Heimweh der Mutter stärker war als die Angst vor dem Krieg. Nun wohnen sie über 600 Kilometer auseinander. Bis heute. Jana hat ihre Familie seit der Corona-Pandemie nicht mehr gesehen, weil die Grenzen in die Separatistengebiete geschlossen wurden.
"Vielleicht ist es das letzte Mal, dass wir sprechen."
Janas Großmutter am Telefon zu ihrer Enkelinundefined
Sie hörte also nur übers Telefon, wie ihr Vater kurz nach Putins Überfall im Februar zehn Tage lang im Keller eines Cafés in Wolnowacha kauerte. Er war als Projektarbeiter hier gewesen, als die russischen Truppen den Vorort von Mariupol einkesselten, hatte nur ein paar Konserven, Gemüse und rohes Fleisch dabei, das er mit anderen über einem provisorischen Feuer briet. Russische Artillerie zerbombte Wolnowacha. Die kleine Stadt ist heute weitgehend zerstört. Als die Waffen kurz ruhten, stieg Janas Vater ins Auto und fuhr los, zurück nach Donezk. „Als er mir davon erzählte, klang er, als würde er über einen Terminator-Film sprechen“, sagt Jana. „Überall Leichen, ohne Gliedmaßen, verstreute Körperteile, Kinder, Haustiere.“
Sie hörte ihre Großmutter, wie sie anrief und sagte: „Vielleicht ist es das letzte Mal, dass wir sprechen.“ Und dann weinte sie. Am Anfang, sagt Jana, da habe sie oft geweint: „Ich konnte einfach nicht fassen, dass das alles noch mal passiert. Dass ich vielleicht nochmal fliehen muss.“ Sie dachte, Odessa wäre sicher.
Anastasija, die zweite Bekannte, die ich von damals erreiche, hat es 17 Autostunden nordwestlich geschafft. Sie ist in einem Flüchtlingscamp im polnischen Lódz. Seit wir uns das letzte Mal gesehen haben, im September 2019, ist viel passiert in ihrem Leben. Anastasija hat geheiratet. Bis in die späte Nacht hat sie im Hochzeitsschleier getanzt und gesungen, auf der Terrasse eines Restaurants direkt am Meer. Sie hat einen Sohn geboren, einen Tag nach Janas Geburtstag. Aus dem Krankenhaus rief sie ihre Freundin noch hochschwanger an, um zu gratulieren.
Ich lernte Anastasija, 26, bordeauxrotes Haar, als aufgeweckte junge Frau kennen. Sie sprach laut, gestikulierte viel. Auf Instagram sah man sie beim Blinis-Braten, die osteuropäischen Pfannkuchen, oder voller Schwermut singen, das war ihre große Leidenschaft. Heute teilt sie Spendenaufrufe, die Vermisstenanzeige einer alten Frau namens Ekatarina aus Mariupol und ein Video, in dem sie sich ihre laufende Nase nach oben zieht. Tränen rinnen die Wange hinunter. Im Hintergrund quengelt ihr Baby. Darunter schreibt sie: „Alles wird gut.“
Ihren Ehemann musste sie in der Ukraine zurücklassen. Wehrpflichtige Männer dürfen nicht ausreisen. Anastasija sei sehr gestresst von der Situation, erzählt Jana. Tatsächlich erreicht man sie kaum mehr. Einmal aber schreibt sie mir kurz: „Ich und mein Kind sind ins Ausland geflohen. Wir leben jetzt in Polen. Uns geht es gut, aber wir sind sehr, sehr traurig und wollen wieder nach Hause.“ Anastasija ist in Odessa geboren. Ihr ganzes Leben hat sie dort verbracht.
Anastasija floh, ihres Kindes wegen. Aber wie soll es für Jana weitergehen? Und wie weit weg soll sie gehen?
„Wäre ich eine Mutter, würde ich dasselbe tun“, sagt Jana, die inzwischen wieder die Pille nimmt. Bloß kein Kind kriegen, im Krieg. „Aber ich kann das Land nicht ohne meinen Freund verlassen, weißt du? Mit ihm fühle ich mich hier sicherer als allein irgendwo anders.“ Jana spricht gutes Englisch, sie hat einen Universitätsabschluss, und einen Führerschein. Natürlich denkt sie nach. Ob sie nach Zypern gehen soll, zum Beispiel. Ob sie ihr Auto verkaufen soll, um an Geld für die Flucht zu kommen. Ob sie überhaupt nach Deutschland einreisen könne, als Ungeimpfte. Dann kommt ihr ihre Familie in den Kopf, Bomben, Sirenen, Gefahr, Donezk, das gerade wieder ins Kreuzfeuer zwischen russischen und ukrainischen Kräften gerät – und plötzlich sind all ihre Gedanken wieder verknotet.
„Es ist gerade schwer, Pläne zu machen“, sagt Jana. Einen aber hat sie: Irgendwann – sie weiß nicht, wann genau, vielleicht herrscht noch Krieg, vielleicht nicht – irgendwann jedenfalls wird sie dieses offenbar verfluchte Land, wird sie Odessa verlassen und wegziehen: „Mindestens nach Island. Am liebsten nach Kanada, Australien oder Neuseeland. Wenn es geht, von mir aus auch in die Antarktis“, sagt sie. Hauptsache: „Irgendwo ganz weit weg von Russland."