Startseite
Icon Pfeil nach unten
Kultur
Icon Pfeil nach unten
Gesellschaft
Icon Pfeil nach unten

Kinderliteratur: Wie divers sollen Kinderbücher sein?

Kinderliteratur

Wie divers sollen Kinderbücher sein?

    • |
    Kinder wissen oft ganz genau, welche Bücher sie lesen wollen.
    Kinder wissen oft ganz genau, welche Bücher sie lesen wollen. Foto: Mauritius (Symbolbild)

    Als „Alles lecker“ 2011 erschien, fiel es noch keinem auf. Viel gelobt wurde das Buch aus dem Klett Kinderbuchverlag dafür, die Vielfalt des Themas Ernährung in knackigen Sätzen und witzigen Illustrationen auszubreiten. Zum Skandal wurde es erst acht Jahre später, im Shitstorm von Landwirten gegen den Verlag: „Wir machen Sie auf Facebook fertig, und wir sind viele.“ Den Unmut erregt hatte die Gegenüberstellung von herkömmlicher und ökologischer Viehhaltung. Links glückliche Bio-, rechts eingepferchte Mastschweine. Zur Bauernhofidylle, wie sie in unzähligen Bilder-, Wimmel- und Kinderbüchern immer noch aufrechterhalten wird, stand das im offensichtlichen Kontrast. Groß war die Befürchtung der Landwirte, dass sich in den Kinderköpfen festsetzen könnte, dass Biohaltung das einzig Wahre ist, und das nicht ganz zu Unrecht. Bücher sind nicht nur ein Abbild der Wirklichkeit – in der Vorstellung gerade junger Leserinnen und Leser können sie auch Wirklichkeit schaffen. Oft setzen sie die erste Auseinandersetzung mit der Welt in Gang.

    Monika Osberghaus leitet den Klett-Verlag.
    Monika Osberghaus leitet den Klett-Verlag. Foto: Privat

    Verlegerin Monika Osberghaus: Ins Kinderbuch gehört die echte Lebenswelt

    Wie sieht nun die Wahrheit im Kinderzimmer aus? Spiegelt sie den Alltag der Kinder, das, was sie in Schule und auf der Straße erleben, die Vielfalt von Lebensformen und sozialen Bedingungen und vielleicht auch die grausame Realität, die sich schon vor den Kleinsten nicht verbergen lässt? Diese „echte Lebenswelt“ eben, wie Monika Osberghaus von Klett Kinderbuch es ausdrückt, jene Frau, die den Ärger um glückliche und unglückliche Schweine abbekam. Unpädagogisch, „manchmal auch auf derbe Weise mit richtig viel Quatsch, weil Kinder das mögen“, sollte ein Kinderbuch sein, sagt die Leipziger Verlegerin. Sie denke da ganz von den Kindern aus, gibt Osberghaus zu. Bei den Erwachsenen kann sie damit auch anecken. „Das sind viel zu furchterregende Szenarien, davon kriegen Kinder doch Angst!“, war eine der Reaktionen, die sie auf Andrea Paluchs und Annabelle von Sperbers „Die besten Weltuntergänge“ erhielt. Aber auch: „Ich dachte erst, meine Kinder wollen so ein Bild wie das von der Dürre gar nicht ansehen, aber im Gegenteil: Sie finden alles faszinierend und vertiefen sich voller Interesse hinein.“

    Die Käufer der Bilder- und Kinderbücher aber sind Erwachsene, und meist wollen sie nur das Beste für ihr Kind, sprich: es nicht beunruhigen. Dabei findet Monika Osberghaus gerade die „Angst ein wichtiges Gefühl für Kinder“, mit dem sie auch durch Bücher umzugehen lernen: „Wenn es ihnen wirklich zu viel wird, legen sie das Buch sowieso weg.“ Das funktioniert sogar bei einem Thema wie dem Krieg, dessen Schrecken aktuell bei vielen Kindern starke Emotionen auslöst. Das Bilderbuch „Akim rennt“ von Claude Dubois (Moritz Verlag) erklärt schon Sechsjährigen einfühlsam, was viele Kinder derzeit erleben – aber nicht, ohne ein tröstliches Ende zu finden.

    Es ist also ein Spagat zwischen Ziel- und Käufergruppe, den die Verlage hinbekommen müssen, um ihre Bücher an Mann, Frau und Kind zu bekommen. In den letzten zwei Jahren ist dies ganz gut gelungen. Mit Büchern ließen sich Heranwachsende in den Zeiten von Lockdown und Homeschooling beschäftigen, der Buchhandel verzeichnete ordentliche Zuwächse bei den Kinder- und Jugendbüchern, deren Anteil am Buchmarkt sich auf 18 Prozent eingependelt hat.

    Kinderbücher: Hat die Bilderbuchfamilie ausgedient?

    Dabei machte die Forderung nach der Anerkennung von Diversity, von Vielfalt im Hinblick auf Geschlechterrollen, Familienbilder, Religion, Nationalität, soziales Umfeld und sexuelle Orientierung auch vor dem Kinderbuch nicht Halt. Hat damit, nur als Beispiel, die sprichwörtliche Bilderbuchfamilie, die wohl nicht umsonst so bezeichnet wird, – also Vater, Mutter zwei Kinder, alle mit weißer Hautfarbe und in einem Häuschen mit Garten lebend – nun ausgedient?

    Ganz klares Ja von Carla Heher, Buchbloggerin in Wien: „Alles, was dem nicht entspricht, würde ich schon als Vielfalt bezeichnen.“ Ihr Lieblingsbeispiel für ein gelungenes Kinderbuch ist die Reihe „Kalle und Elsa“ (Bohem). Autorin Jenny Westin Verona und Illustrator Jesús Verona erzählen darin Freundschaftsgeschichten und lassen ihre Titelfiguren Abenteuer vom Abhauen bis zur Mondfahrt durchleben. Kindern gefällt das Wilde und Wagemutige, ihren Eltern kann es durchaus auch Schweißperlen auf die Stirn treiben, wenn sie an den Nachahmungseifer ihrer Sprösslinge denken. Doch nicht nur die Handlung ist unkonventionell. Kalles Hautfarbe ist schwarz, die von Ella weiß. Sie liebt grüne Gummistiefel, er pinke. Das Mädchen ist eine Draufgängerin und klettert auf Bäume, der Junge ist zurückhaltend und bekommt auch mal Angst. Die Mutter sitzt am Laptop, der Vater macht die Wäsche.

    Buchbloggerin Carla Heher: Vielfalt sollte nicht Thema, sondern Selbstverständlichkeit in Kinderbüchern sein

    Was nun klingt wie die einfache Umkehr überkommener Geschlechtervorstellungen, geht in den munter erzählten Geschichten mit einer Selbstverständlichkeit auf, die für Carla Heher ein Kriterium für ein gelungenes Kinderbuch ist: „Die Vielfalt ist nicht das Thema, sie ist einfach da.“ Denn im Alltag sei es längst „normal“ geworden, dass die Erzieherin im Kindergarten ein Kopftuch trägt, dass Mütter oder Väter allein mit ihren Kindern leben und sich trotzdem als Familie fühlen; dass Kinder unterschiedlicher Herkunft, mit verschiedenen Sprachen und Glaubensrichtungen aufeinandertreffen – und das sollte auch im Kinderbuch so sein. Selbstverständlich eben, ganz nebenbei und vor allem nicht als Problemstellung.

    Genau, findet auch der Inklusionsaktivist Raul Krauthausen. In einem Vortrag über diverse Kinderliteratur auf der re:publica 2016 sagte er, dass Menschen mit Behinderung in Kinderbüchern immer als Problem auftauchten, angewiesen auf Rücksicht und Toleranz anderer. „Mit so jemandem will man sich doch nicht identifizieren“, lautete sein Urteil. Aber nach Identifikationsfiguren, nach Vorbildern suchen Kinder eben in Büchern. Zusammen mit der Journalistin Suse Bauer rief Krauthausen das KIMI-Siegel ins Leben, das seit 2019 Bücher auszeichnet, in denen sich alle Kinder wiederfinden können. Im ersten Jahr waren es um die 60 Titel, die Verlage einreichten, mittlerweile sichtet die Jury schon mehr als 300.

    Das Mädchen im Rollstuhl ist zum Signet für "woke" Kinderliteratur geworden

    Man sieht: Die Verlage sind sensibilisiert für die Themen – manchmal ein wenig zu sehr. Leicht kann das Bemühen um Diversity nämlich zum Selbstzweck, genauer gesagt zum Verkaufskalkül werden. Das Mädchen im Rollstuhl, der Junge mit schwarzer Hautfarbe auf dem Cover ist zum Signet für „woke“ Kinderliteratur geworden. Um alles richtig zu machen, gibt es in vielen Verlagen jetzt „Sensitivity Reader“, die unter der Maßgabe der Diversität einen strengen Blick auf die Literatur für den Nachwuchs werfen. Aus Neugier hat auch Monika Osberghaus einmal diesen Versuch bei einem Buch unternommen – beim Versuch ist es geblieben. „Das Buch wäre tot gewesen, glatt geschliffen, hätte seinen Charakter verloren“, hat sie gesehen und die Änderungsvorschläge nicht beherzigt.

    Und damit noch mal zu einer klaren Empfehlung: „Pembo – halb und halb macht doppelt glücklich“ (Carlsen). Im Mittelpunkt steht das Mädchen Pembo, das mit seinen Eltern aus der Türkei nach Hamburg kommt, weil der Vater einen Friseursalon übernehmen will. Dummerweise stellt sich erst hier heraus, dass es sich dabei um einen Hundesalon handelt. Für die Familie wird das zu einer Zerreißprobe. Mit beeindruckender Lockerheit spielt das Werk mit kulturellen Klischees und der türkischen Sprache im deutschen Text. Die Autorin Ayshe Bosse hat selbst türkische Wurzeln. „Eine Autorin ohne solche Insiderkenntnisse würde vielleicht davor eher zurückschrecken, weil sie befürchten müsste, nicht politisch korrekt zu sein“, sagt Literaturwissenschaftlerin Karin Vach. Sie ist nicht nur Professorin an der Pädagogischen Hochschule in Heidelberg, sondern auch Vorsitzende der Kritikerjury für den Deutschen Jugendliteraturpreis, die „Pembo“ vergangenes Jahr nominiert hat. Und Vach hat im Lauf der letzten Jahre im Kinderbuch nämlich nicht nur festgestellt, dass Vielfalt dort größeren Raum eingenommen hat – sondern auch, dass sich die Erzählweise verändert hat. Sehr häufig seien es jetzt Ich-Erzählungen, in denen eine persönliche Sicht zum Ausdruck komme. Sie nennt als Beispiel Bücher über Flüchtende – eines der ganz großen Themen der letzten Jahre. Sie seien zunächst aus einer distanzierteren Perspektive erzählt worden, die Figuren wurden so zu Objekten. Mittlerweile überwiege eine subjektivere Perspektive, die Protagonisten sind Handelnde, die ihre Ängste, Hoffnungen und Gefühle zum Ausdruck bringen.

    Kinderbuchexpertin Karin Vach: Wie man richtig lebt wird nun stärker pädagogisiert

    So positiv Vach die Vielfalt in Kinderbüchern beurteilt, wie das Thema umgesetzt wird, sieht sie auch kontrovers. „Wie man richtig lebt, das wird nun stärker pädagogisiert.“ Der Zeigefinger also, der in Kinder- und Jugendbüchern so gern abgemahnt wird, und doch nie ganz vermieden werden kann. Denn Kinder- und Jugendliteratur, so stellt es Vach dar, könne nie nur literarisch beurteilt werden, sie sei immer auch unter dem Aspekt der Vermittlung zu betrachten. Sie stehe im Spannungsfeld zwischen Pädagogik und Ästhetik. Im Moment beobachtet Vach zum Teil eine Kombination von Aufklärungsanspruch der 70er Jahre und Heile-Welt-Darstellung, wie wir sie aus den 1950er Jahren kennen. Einen Rückschritt sieht sie darin allemal.

    Karin Fach ist Literaturwissenschaftlerin an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg.
    Karin Fach ist Literaturwissenschaftlerin an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg. Foto: Christoph Taterka

    Erziehung statt Erzählung also, Autoren, die zu Aktivisten werden, ist das die Zukunft des Kinderbuchs? Zum Glück nicht, denn es gibt eine Fülle von Büchern, die das meisterhaft umschiffen und dennoch zeigen, wie vielfältig die Lebenswelt von Kindern ist. Auch Karin Vach fällt gleich eines ein: „Irgendwo ist immer Süden“ (Woow Books), im letzten Jahr Gewinner des Deutschen Jugendliteraturpreises in der Sparte Kinderbuch. Ina lebt mit ihrer arbeitslosen Mutter in einer Sozialsiedlung. Für einen Sommerurlaub ist kein Geld da – eine demütigende Erfahrung für das Mädchen, das in der Schule von den Traumurlauben der Klassenkameraden und -kameradinnen hört. In ihrer Verzweiflung erzählt Ina, dass sie in den Süden reist. Ihr Mitschüler Vilmer hilft ihr dabei, dass die Notlüge nicht auffliegt. Es geht um prekäre Lebensverhältnisse und die seelische Not, die daraus für ein Kind erwächst. Trotzdem macht Marianne Kaurins Buch Mut, ohne zu belehren. Dazu ist es mit Witz und Esprit geschrieben – auch kein Fehler, denn das sollen Kinderbücher ja vor allem: Spaß am Lesen vermitteln.

    Diskutieren Sie mit
    0 Kommentare
    Dieser Artikel kann nicht mehr kommentiert werden