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Jubiläum: Geschichte an Fäden: Die Augsburger Puppenkiste feiert ihren 75. Geburtstag

Jubiläum

Geschichte an Fäden: Die Augsburger Puppenkiste feiert ihren 75. Geburtstag

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    Kam aus dem Eis, eroberte die Herzen: Das Urmel zählt zu den großen Publikumslieblingen von Generationen, zu den Stars aus der Augsburger Puppenkiste.
    Kam aus dem Eis, eroberte die Herzen: Das Urmel zählt zu den großen Publikumslieblingen von Generationen, zu den Stars aus der Augsburger Puppenkiste. Foto: Augsburger Puppenkiste

    In Augsburg gibt es einen magischen Ort, dort können Schweine sprechen. Sogar fliegen. Und dieser Zauber setzt sich gerade in Bewegung, fast lautlos, im Dämmerlicht – hinter den Kulissen der Puppenkiste. Der Beleuchter drückt im fahlen Schein seines Laptops die Knöpfe, die Lichtkegel strahlen konzentriert auf einen kleinen, tischbreiten Fleck Bühne. Jeder, der nun im Dunklen seine Nase hoch zu den Spielbrücken reckt, um zu sehen, wer dort zweimannhoch oben die Fäden zieht, muss aufpassen, mit der Stirn nicht gegen die Puppen zu stoßen, die von der Decke baumeln. In der Warteschleife hängen: Elvis, ein Clown, das Rotkäppchen. 

    Und so übersieht man fast, dass da ein Schwein in der Luft schwebt. Das Tier aus Holz rührt schon seine Haxen, trabt an, noch bevor es einen Huf auf die Bühne setzt. Dann: tapp, tapp, klacker, Auftritt. „Das königliche Haus- und Hofschwein meldet sich zum Einsatz“, spricht das Rüsseltier, bürgerlich: „Grunznase“. Und so flaniert es zwischen König und Prinz, lässt die rosa Schlappohren wackeln in einer Miniatur-Märchenschlosskulisse. Die Probe zu „Rapunzel“ läuft am Schnürchen. 

    Die Puppenkiste feiert mit "Rapunzel" ihren 75. Geburtstag

    Dieses Märchen ist das nächste Kapitel in einer Geschichte von Drachen, Scheinriesen und Blechbüchsenrittern, von Urmel und Jim Knopf. Eine Bühnengeschichte, die davon lebt und daran hängt, dass Holz lebt. Am 26. Februar 2023 feiert die Augsburger Puppenkiste „Rapunzels“ Premiere – und ihren 75. Geburtstag. 

    Dieser Kalendertag im Februar ist nicht wie jeder, nicht für Augsburg, schon zweimal nicht für die Puppenkiste. Es war die Nacht zum 26. Februar 1944, da fielen Bomben auf die Stadt. 594 Flugzeuge griffen an, 730 Menschen verloren ihr Leben, der Kern der Stadt sein altes Gesicht. Das Stadttheater brannte und in den Trümmern lag am Ende auch ein kleines Puppentheater in Asche. Walter Oehmichen, Oberspielleiter am Theater der Stadt, hatte sich diesen „Puppenschrein“ gezimmert. Ein Türrahmentheater, schnell ab- und aufgebaut. Für die Kinder der Schauspieler, der Musiker, der Theaterbelegschaft, hatte Walter an diesem Tag noch eine Vorführung gegeben. Aber der „Puppenschrein“, er verbrannte in der Nacht. Bis auf eine kleine Rosette. 

    Ein Puppenspieler in den Kriegswirren, bald auch im Kriegseinsatz: 1944 fand sich der Soldat Walter Oehmichen in einem Lazarett in Darmstadt wieder, fern von seiner Frau Rose, den Töchtern Hannelore und Ulla. Hier lernte er aber einen Mann kennen, der ihm etwas beibrachte: Wie man aus Holz ein Wesen schnitzt. Und sein Enkel Klaus Marschall weiß heute, wie die Legende weiterging: „Er kehrte zurück mit einem Skelett und einem Storch.“ Adebar und Sensemann, Geburt und Tod. Anfang und Ende. „Und das Skelett ist nach wie vor bei uns im Einsatz“, sagt der Mann, der heute die Puppenkiste leitet. 

    Die Geschichte der Puppenkiste beginnt mit Walter Oehmichen

    Walter habe nur ein Ziel nach dem Krieg gehabt: Über die Runden kommen mit der Kunst. Aber wann würde das Stadttheater wieder öffnen? Mit einem selbst gebauten Mickey-Maus-Theater habe er bei den US-Amerikanern für Lebensmittel gespielt, und bei Oehmichens zu Hause wurde weiter geschnitzt, gehobelt. Bis der 26. Februar 1948 kam. Auf den Tag vier Jahre nach der Bombennacht ging im alten Heilig-Geist-Spital zum ersten Mal die berühmte Holzklappe auf: „Augsburger Puppenkiste – Oehmichens Marionettentheater“. Es begann das Märchen von Kater Mikesch, dem Bock Bobesch und Schwein Paschik. 

    Aber Puppentheater, so kurz nach dem Krieg? Wo eben noch der Faschismus regierte? „Natürlich war das auch die Flucht in eine andere Welt“, sagt Klaus Marschall heute. Doch Walter habe Prinzipien gehabt: Unterhaltung für Kinder und Erwachsene wollte er bieten, mit Ernst, mit Anspruch und Moral in der Geschicht’. 

    Dafür muss sich der Mensch einlassen auf das Spiel mit dem Holz, und „das funktioniert auch heute noch“, findet Marschall. Das spürt der 61-Jährige, sobald er seine Hauptfigur bei den Fäden nimmt, die wichtigste in der Kiste: Kasperl. Spitzer Hut, frech für vier, schwäbelnd, Marschall gibt ihm seine Stimme. 

    Frech für vier: der Kasper aus der Puppenkiste.
    Frech für vier: der Kasper aus der Puppenkiste. Foto: Augsburger Puppenkiste, dpa

    Einmal, da sei im Theater eine Horde von Journalisten zu Gast gewesen, die Stifte in der Hand, seriöse Fragen im Block. „Am Ende haben sich aber alle nur mit dem Kaschperl unterhalten.“ Er lächelt jetzt in seinen grauen Bart, als er sich an einen Auftritt in einer Schule erinnert. Ein Lehrer hielt eine lange, lange Begrüßungsrede. „Da stand ich schon mit dem Kaschperl bereit, etwas abseits“, sagt Marschall. „Und ich hab’ auch den Kaschperl warten lassen.“ Die Figur ließ er wackeln, sie schaute sich um – und die Kinder hätten nur noch Augen für Kasperl gehabt. Das sei der Trick: Lebendig spielen, schon bevor der erste die Puppe sieht. Zappeln, auch wenn die Figur gerade schweigt. 

    Der Kasperl ist die wichtigste Figur der Augsburger Puppenkiste

    „Der kann auch alles sagen, man verzeiht ihm eigentlich alles“, sagt Marschall über den Kasperl. Darin liegt auch der Witz des Kabaretts in der Puppenkiste, eine 70-jährige Tradition im Haus. Obama und Söder traten hier schon auf, Helmut Kohl und George W. Bush, denn sie alle haben einen Holzkopfdoppelgänger. Im aktuellen Kabarett muss Wirtschaftsminister Robert Habeck in einer „Wetten, dass..?“-Kulisse zur Baggerwette antreten. Bis die kleine Baumaschine qualmt. 

    Edmund Stoiber, Angela Merkel und Kurt Beck als Stargäste im Kabarett bei der Augsburger Puppenkiste, mit Theaterchef Klaus Marschall.
    Edmund Stoiber, Angela Merkel und Kurt Beck als Stargäste im Kabarett bei der Augsburger Puppenkiste, mit Theaterchef Klaus Marschall. Foto: Fred Schöllhorn

    Ulk mit Puppe? Im Spiel der Figur kann aber auch Unheimliches lauern. Ab und an sogar ein Gramm Wahnsinn, wenn die leblose Materie sich plötzlich bewegt, sich die Sinne täuschen. Mit diesem Effekt hat sich auch die Literatur befasst: Der arme Nathanael verfällt in E.T.A. Hoffmanns Gruselmär’ vom „Sandmann“ dem Reiz einer graziösen Puppe: „Er umschlang die schöne Olimpia“. Und Goethe, wie kam er auf seinen Faust? Weil er über Puppen staunte. Der Faust-Stoff zählt zu den Ur-Klassikern des Figurentheaters und eine Vorstellung muss Goethe den Kopf verdreht haben: „Die bedeutende Puppenspielfabel klang und summte gar vieltönig in mir wieder!“ Jahre und einen Urfaust später war er dann vollendet: der Tragödie erster Teil. 

    Warum Menschen auf Puppen starren, das hat sich auch Heinrich von Kleist gefragt. Von der Trägheit der Materie wisse die Marionette nichts, schreibt er – „weil die Kraft, die sie in die Lüfte erhebt, größer ist, als jene, die sie an der Erde fesselt“. Feine Worte. Aber dann lästert er mit einem Freund über eine ihm bekannte Tänzerin: „Was würde unsre gute G... darum geben, wenn sie sechzig Pfund leichter wäre“ – und an den Fäden hinge. 

    Klaus Marschall erzählt von kleinen Pannen bei der Puppenkiste

    Es ist fast ein Tanz, der jetzt hinter der Puppenkistenbühne beginnt. Szenenwechsel, drei Frauen schieben Rapunzels Turm schnell aus dem Licht – er ist höhenverstellbar, wenn sie kräftig an einer Kurbel drehen. Und auf Schienen rollen sie das nächste Bild auf die Bühne: das Gemach des Königs mit purpurnem Bett, Paravent und Kerzenleuchtern. Auftritt: der Regent. 

    „Zu jeder Puppe gehört ein Mensch“, sagt Klaus Marschall. Ein Satz, der fast philosophisch klingt, für den aber Schweiß fließt. Mit den Kreuzen in den Fingern beugen sich die Spieler über die Spielbrücke und lenken ihre Puppe aus der Vogelperspektive. Und da geschieht’s: Des Königs Fuß steht in einem ungesunden, spitzen Winkel vom Bein ab. Wäre das ein Schauspieler aus Fleisch, Blut, Knöcheln, hätte man ihm umsonst „Hals und Beinbruch!“ gewünscht. 

    Verflixt, aber schnell zugenäht, denn sich zu verheddern, bis der Zwirn reißt, das passiert. „Deshalb hat ein Puppenspieler auch immer eine Schere in seiner Tasche.“ Tragikomische Szenen löst das aus: Vom tapferen Schneiderlein löste sich schon einmal der Kopf am Faden. Dem Wolf, der die sieben Geißlein jagt, dem holperte der Fuß dem Bein hinterher. 

    Was braucht man als Puppenspieler bei der Puppenkiste?

    Was es braucht, um solche Momente zu überstehen? Um ein guter Puppenkisten-Puppenspieler zu werden? 

    Erstens: Idealismus. „Wir arbeiten, wenn die anderen frei haben“, sagt Marschall. Im Winter wird es heiß, zwischen Advent und Neujahr schiebt die Belegschaft Zwölf-Stunden-Tage. 

    Zweitens: Fingerfertigkeit. Üben, üben, üben, bis das Kreuz leicht in den Fingern liegt. „Nach drei Jahren gibt es dann eine Nebenrolle, aber da ist man noch nicht reif für eine Hauptrolle“, sagt der Chef. Dafür brauche es schon sechs Jahre Arbeit am Faden, bei „durchschnittlicher Begabung“. 

    Drittens: Teamfähigkeit. „Man muss sich riechen können“, sagt Marschall, denn eng wird es auf der Brücke. „Man sieht ja, wie viel Platz die Puppen auf der Bühne haben.“ Und viel mehr Ellenbogenraum bleibt auch den Spielern nicht. 

    Deshalb können Bewerber auch mit Sportlichkeit punkten. Sie müssen in Sekunden Positionen tauschen, sie reichen sich Kreuz samt Puppe weiter – damit ist es schier unmöglich, die Figuren als Spieler live zu sprechen. Eben Prinz, plötzlich Diener, aber wen hat man jetzt am Faden? „Wir spielen die Stimmen deshalb vom Band“, erklärt Marschall. Nur zu Beginn, in der Ära seines Großvaters, arbeiteten noch Synchronsprecher im Bühnenschatten.

    75 Jahre Augsburger Puppenkiste - ein Blick hinter die Kulissen.
    75 Jahre Augsburger Puppenkiste - ein Blick hinter die Kulissen. Foto: Ulrich Wagner

    Mit den Marionetten beginn Klaus Marschalls Erinnerung

    Keine Erinnerung ohne Puppe, mit den Marionetten vor der Nase begann Klaus Marschalls Leben: „Mein Laufstall stand in der Werkstatt“, erzählt er. Bei Großvater und Großmutter verbrachte er seine Kindheit. „In der Wohnung meiner Großeltern lag die Schnitzwerkstatt meiner Mutter und im selben Raum die Kostümwerkstatt meiner Großmutter.“ Die Puppenschar wurde größer und Klaus wuchs heran. „Jim Knopf hat dasselbe Geburtsjahr wie ich.“ Mitte der 70er gab er dann sein Debüt in der Kiste – unverhofft. Er saß an seinen Hausaufgaben, da klingelte das Telefon. Seine Eltern. Ein Spieler sei ausgefallen, er müsse schnell einspringen – fünf Minuten später stand das Taxi zur Kiste vor der Tür. 

    An seine erste, feste Rolle kann sich Klaus Marschall nicht mehr erinnern. War es ein Schaf in „Wie das Eselchen das Christkind suchte“? Ein Räuber bei den Bremer Stadtmusikanten? Was es war, es gefiel dem Jungen wohl. Nur kurz mal, als mit der Pubertät bei ihm ein bisschen Trotz und Scham aufkam, da habe er den Job seiner Eltern lieber verschwiegen. Was die beiden beruflich machen? „Ach, wir ham a klein’s Gschäft“, habe er da genuschelt. „Das ist heute noch so, Die Jugendlichen von 12 bis 18 erreichen wir nicht“, sagt Marschall. Aber dann kommen sie wieder, als Studierende. Sie besuchen Wagners Ring in Puppentheaterversion, auch das Polit-Kabarett – und selbst die Kindervorstellungen. 

    Spricht einer von Puppentheater, dann erscheinen Kater Mikesch und Lukas der Lokomotivführer in allen Köpfen. Vielleicht auch noch Kermit von den Muppets und Elmo aus der Sesamstraße. Aber bis heute bleibt die Augsburger Puppenkiste einzigartig in ihrer Größe und ihrem Status in der Szene. „Es war von Anfang an ein perfektes Aushängeschild“, sagt Matthias Träger, „und das Schild hängt immer noch“. Er ist der Vorsitzende des Verbands Deutscher Puppentheater – und natürlich selbst Figurenspieler. 

    Wie wichtig ist die Puppenkiste für die Figurentheater-Szene?

    Allgemeingut sei die Puppenkiste, so sehr, dass junge Menschen heute in Videos auf Tiktok die Augsburger Puppen nachahmen, die Arme und Beine schütteln. „Wer kann das von sich behaupten?“ Aber trotzdem pocht der Verbandschef darauf, dass seine Sparte deutlich mehr zu bieten hat. Diese Kunst tummelt sich heute unter dem großen Begriff „Puppen-Figuren-Objekttheater“, sie kennt verschiedenste Strömungen und Schulen. Puppenspiel mischt sich heute hinein in das Tanztheater, in das Schauspiel, und bis zu den Bayreuther Festspielen, die Puppen eine Bühne bieten. Matthias Träger sieht da auch einen Trumpf in der Hand seiner Sparte: „Wir sind unheimlich flexibel“ – seit Jahrhunderten sind die Figuren schnell ein- und ausgepackt, von Jahrmarkt zur nächsten Schule gebracht, dann ins Theater. 

    Gut 150 Bühnen zähle der Verband heute, mit gut 300 Spielern. Wie viel es insgesamt sind, im deutschsprachigen Raum? Das könne er nur schätzen, sagt Träger: Gut 1000 Figurenspieler dürften es sein. 

    Eine Reihe voller Doppelgänger. Einzigartig bleiben aber diese Stars der Augsburger Puppenkiste.
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    Die Augsburger Puppenkiste

    Max Kruses Urmel, Michael Endes Jim Knopf und von Paul Maar das Sams – die Größen unter den Kinderbuchautoren haben ihre Helden aber der Kiste anvertraut. Vor allem, als die Ära der großen Filmproduktionen in diesem Theater anbrach. Ein Schriftsteller, der nicht für, sondern über die Puppenkiste geschrieben hat, ist Thomas Hettche. Dem Augsburger Puppentheater hat er im Roman „Herzfaden“ seine Liebe erklärt, 2020 war er für den Deutschen Buchpreis nominiert. 

    „Klaus Marschall zitiert ja immer seinen Vater, der gesagt haben soll: Wir wedeln nur mit einem Stück Holz, aber in der Fantasie wird es lebendig. Ich glaube, genau darin liegt die Magie von Puppen“, sagt Hettche. Aber stimmt das noch? Selbst in Netflix-Zeiten? „Die digitale Welt versetzt uns in immer perfektere Illusionen. Im Vergleich dazu ist Puppentheater furchtbar einfach. Aber gerade deshalb zeigt es uns, worauf es ankommt: Dass unsere Fantasie als Zuschauer die imaginäre Welt erst erschafft.“ 

    Thomas Hettche verrät, wie seine Liebe zur Puppenkiste begann

    Hettche erzählt gerne von seiner Kindheit auf dem Dorf. Im Fernsehen flog das Raumschiff Enterprise, Flipper keckerte und bei „Daktari“ schielte ein Löwe namens Clarence in die Kamera. Aber eine Bühne? Ein Theater? Außer Reichweite für Hettche. „Doch als die Puppenkiste im

    Seine Heldin in „Herzfaden“ ist nun weder Mama Wutz noch Frau Waas. Es ist Hannelore Marschall, genannt „Hatü“: „Sie gehörte zur Generation meiner Eltern, die im Nationalsozialismus und im Krieg groß geworden und als Kinder im Faschismus gnadenlos ideologisiert worden sind. Da habe ich viel aus meiner eigenen Familiengeschichte wiedererkannt. Aber vor allem hat mich beeindruckt, dass Hannelore sich nach dieser Zeit für das genaue Gegenteil entschieden hat, für die Freiheit in der Kunst. Das hat mich beeindruckt.“ 

    Eine Familie von Schauspielern waren die Oehmichens, Walter zählte zu Gustav Gründgens’ Freunden. Doch in der übernächsten Generation lernten zwei junge Männer zuerst ein Handwerk: Jürgen Marschall der Maler, sein Bruder Klaus der Schaufenstergestalter und Dekorateur. 

    Das hatte schließlich Zweck und Ziel: Bis heute arbeiten Menschen aus unterschiedlichsten Berufen an diesem Theater, sehr viele aus dem Handwerk. „Sie sind ja nicht nur Puppenspieler“, erklärt Klaus Marschall. In der Nebenrolle arbeiten sie in der hauseigenen Schneiderei, der Malerwerkstatt, im Tonstudio, alles geschieht hier unter einem Dach. 

    Gustl Bayrhammer und Marianne Sägebrecht gaben ihre Stimme

    Und dieser Ton macht das Stück, denn auch in den Stimmen liegt auch das Schauspiel. Bayerische Granden wie Gustl Bayrhammer und Marianne Sägebrecht haben der Puppenkiste schon ihre Stimme geliehen. Der deutsche Synchronsprecher von Danny DeVito? Hat das „Kleine Gespenst“ gesprochen. Punk-Drummer Bela B von den Ärzten hat mit den Puppen schon ein Musikvideo gefilmt und sprach den Hahn der Bremer Stadtmusikanten. 

    Auch jedes Mitglied aus dem Haus Marschall-Oehmichen hat ein zweites Ich, ein drittes, viertes – viele. Gründer Walter Oehmichen sprach den „Der Kaiser von Mandala“, vor dem Jim Knopf knickste, aber auch den König der Tierwelt in „Der Löwe ist los“. Zudem war er der Forscher Professor Habkuk, das verkannte Biologengenie mit Brille, Entdecker des Urmels. 

    Walters Frau Rose schneiderte den Puppen Kleider ans Holz. Sie wurde allerdings auch zur Frau Waas – der spitznasigen Gemischtwarenhändlerin von Lummerland und Jim Knopfs Herzensmutter. 

    Hanns-Joachim Marschall stieß 1951 zur Kiste, sechs Jahre später heiratete er Oehmichens Tochter Hannelore – und er „tschischhhelte“ den Waran Wawa, der sich vor dem Urmel in seine Muschel verkriecht, mit Schiebermütze und gestreckter Zunge. Auch den Halbdrachen Nepomuk sprach er, der so gern ein ganzer wäre. 

    Hannelore Marschall, "Hatü", war die Seele der Puppenkiste

    Nur Hannelore, „Hatü“, fand ihre Hauptrolle am Schreinereitisch. Mit 13 Jahren, die Eltern hatten es ihr doch verboten, griff sie heimlich zum Schnitzmesser. 6000 Puppen hat sie einen Körper, ein Gesicht, ein Wesen gegeben. Ihr Wunsch war, Bühnenbilder zu entwerfen, doch sie übernahm die Schnitzwerkstatt. Die Puppenmacher nehmen heute noch Maß an ihren Figuren, erklärt der Chef: „Sie halten sich an den Stil meiner Mutter, nach wie vor.“ 

    Ein Puppen-TV-Debüt in Schwarz-Weiß, aber mit Jägerschüssen: Die Fernsehkarriere dieser Puppen begann vor 70 Jahren mit Prokofjews Märchen „Peter und der Wolf“. Walter Oemichen und sein Hausautor Manfred Jenning beschlossen dann 1959 manche Stücke sogar nur noch für Film und Fernsehen zu produzieren. Mehr als nur abgefilmtes Theater, Inszeniertes für den Bildschirm. Es müssen Szenenschlachten gewesen sein, so wie es der Puppenkisten-Chef heute schildert: Gut 40 verschiedene Dekorationen brauchte allein Jim Knopf, für Lummerland, die Wüste, den Kaiserpalast. Klaus Marschall war es selbst, der für diese Filmaufnahmen den Ozean bewegte. Einmal die Klarsichtfolie geschüttelt, und die Lok Emma schipperte über das Folien-Meer. 

    Mit Filmen wie diesen erreichte die Puppenkiste ein bundesweites Publikum am Schirm – aber vor allem kamen die Drehpausen dem Team gelegen, um das Sommerloch zu füllen, die träge, heiße Zeit im alten Spitalbau. So installierten sie im Foyer, unter den Rundbögen, ein Studio. Das Kassenhäuschen taugte als Tonkabine, in der Garderobe stand die Kamera. 

    Das Urmel verbringt seinen Ruhestand im Puppenkisten-Museum

    Und heute? Das Urmel ist immer noch grün hinter den Ohren und grün bis zur Schwanzspitze. Aber das Drachenkind mit Schnuller ist heute eben – Rentner. Im Museum der Puppenkiste, das ein Verein pflegt, darf es auf der Insel Titiwu seinen Ruhestand leben, mit seiner Schweinsmama Wutz. Gleich in der Nachbarschaft, um die Ecke, liegt auch die Lummerland-Filmszene, wo die Piraten der Wilden 13 Kurs auf den Strand nehmen. 

    Diese Puppen waren nie für das Theater gemacht, nur für die Kameras des Bayerischen und Hessischen Rundfunks, später auch für das Kino. In der Augsburger Kiste spielen die Figuren heute immer weiter, aus dieser aber, der Bildschirmkiste, haben sie vorläufig Abschied genommen: Zuletzt hat das Theater 2016 noch die Weihnachtsgeschichte verfilmt, der Kinderkanal hatte die Puppenkiste aber schon 2010 aus seinem ständigen TV-Programm genommen. Das Urteil der Kika-Senderbosse über die Puppen: leicht angestaubt, etwas veraltet, aus der Zeit gefallen. 

    Trotzdem, wird sich das Theater wieder einmal an die Kamera trauen? „Wir hätten tolle Ideen für einen Kinofilm“, sagt Marschall, aber dafür bräuchte es schon starke Partner. Jedes Filmprojekt sei ein Risiko. Und hat die Kiste die Coronajahre wirklich gut überstanden? Klaus Marschall spricht da mit Vorsicht: „Wir leben eigentlich immer aus der Hoffnung heraus.“ Was ihn hoffen lässt, sind die Menschen hinter der Bühne: „Die nächste Generation ist sehr aktiv dabei“, sagt er. „Meine Tochter ist auf der Spielbrücke, mein Sohn arbeitet mit, auch ihre jeweiligen Partner.“ Die nächste Puppenübergabe scheint gesichert. 

    Nachgefragt bei Klaus Marschall: Was macht eine gute Puppe aus?

    Aber nun zum Herzstück, zum Herz am Faden: Was macht denn eine gute Puppe aus? „Das weiß man erst am Schluss, wenn sie auftritt“, erklärt Marschall. Wirkt sie nett oder bös, und soll das auch so sein? Drehen sich die Gelenke? Sind die Beine gleichlang, oder hinkt die Figur? Die Kleider, fallen sie gut, fallen sie leicht, oder verfängt sich der Hut im Faden? 

    Figuren, aus Lindenholz geschnitzt: Ein Einblick in die der Schnitzwerkstatt der Puppenkiste.
    Figuren, aus Lindenholz geschnitzt: Ein Einblick in die der Schnitzwerkstatt der Puppenkiste. Foto: Ulrich Wagner

    Kopf, Hände, Füße sind aus Lindenholz geschnitzt. Es ist weich und fasert nicht wie Fichte oder Kiefer. Dabei muss es zehn Jahre gelagert haben, vor dem ersten Schnitz, denn das Material Holz arbeitet weiter. Es rührt sich von allein. 

    Die Fäden wiederum sind Schusterzwirn, erklärt Marschall, sprich: scharf gedrehter Baumwollfaden. Das Leben einer normalen Puppe – außer es sei ein Hundertfüßler, den mehrere Spieler bedienen müssen – hängt an zehn dieser Zwirne. Zwei Haltefäden an den Schultern, die das Gewicht tragen. Drei am Kopf, links, rechts, Mitte, um nicken und das Haupt neigen zu können. Zudem zwei an den Händen, zwei an den Knien „und einen am Hintern“, sagt Marschall. „Damit sich die Puppe am Ende verbeugen kann.“

    Wegen Geldsorgen ist die Zukunft der Augsburger Puppenkiste ungewiss. Warum es dennoch Grund für Optimismus gibt, verrät Puppenkiste-Chef Klaus Marschall im Podcast "Augsburg, meine Stadt". Außerdem sagt er, warum das Figurentheater auch nach 75 Jahren noch fasziniert und was passiert, wenn während einer Vorstellung ein Faden reißt.

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