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Joachim Meyerhoff: Neuer Roman über die Beziehung zu seiner Mutter

Literatur

Joachim Meyerhoff: Ach, diese Mutter, diese wunderbare Mutter

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    Wie eine seitenlange Umarmung: Joachim Meyerhoff stellt im neuen Buch seine Mutter ins Zentrum.
    Wie eine seitenlange Umarmung: Joachim Meyerhoff stellt im neuen Buch seine Mutter ins Zentrum. Foto: Jens Kalaene, dpa

    „Mit Mitte fünfzig zog ich für mehrere Wochen zu meiner Mutter aufs Land nach Schleswig-Holstein, wo sie unweit der Ostsee auf einem weitläufigen, ja parkähnlichen Grundstück lebt. Ich redete mir ein, sie bedürfe dringend meines Beistands, dabei war sie kerngesund, offensiv vital, sah mit ihren sechsundachtzig Jahren fantastisch aus und kam bestens allein zurecht. Ich hingegen war derjenige, der nicht mehr klarkam und dem viele Fäden gerissen waren.“ Das ist der Einstieg in den neuen Roman von Joachim Meyerhoff mit dem Titel „Man kann auch in die Höhe fallen“. Acht Zeilen auf Seite 9 und das Wesentliche ist gesagt: Krise, Mutter, Meer. Und man kann sich vorstellen, wie der eingeschworene Meyerhoff-Fan sich bei diesen Zeilen schon wieder ganz zuhause fühlt im Œuvre und frohlockt: Wunderbar, das wird gut! Wird es das aber?

    Auf sechs Bände ist der autofiktionale Zyklus „Alle Toten fliegen hoch“ mit diesem Buch angewachsen, sein Erfolg als Schriftsteller steht dem als Theaterschauspieler schon lange nicht mehr nach – in beiden Berufen ist Meyerhoff preisgekrönt. Weil er mit der Schwerkraft spielen kann: Das Schwere erst leicht machen, dann wieder schwer, es erst durch den Boden krachen und dann wieder schweben lassen. Aber der Mann, der da zu Beginn des Buches auf dem Berliner Sofa liegt – „Wie ein geschmolzener Käse war ich in jede Ritze des Sofas hineingeflossen, hatte das Sitzmöbel mit mir selbst überbacken“ – kann gerade nur noch schwer. Nach seinem 2018 erlittenen Schlaganfall wird er eine „wesensfremde Gereiztheit“ nicht mehr los und die Stadt Berlin, in die er mit der Familie von Wien aus zwecks Neuanfang gezogen ist, entpuppt sich „als Säurebad, das tagtäglich meine Inspiration zerfraß“. Überhaupt Berlin, Kampfplatz, tagsüber stößt er in der U-Bahn einen Mann nach einem lauten Nieser erschrocken zu Boden, nachts lässt er hilflos zu, wie ein Unbekannter sein Fahrrad zertrümmert – einfach so. Dann feiert sein Sohn Geburtstag, Härtetest natürlich, und der Mann im Roman rastet aus – so schlimm, dass er sich abgrundtief schämt und schließlich zu seiner Mutter aufs Land fährt: „Ohne wirklich zu begreifen, wie es dazu gekommen war, war ich zu einem Nervenbündel geworden, dessen Unausgeglichenheit für die mir nahestehenden Menschen mehr und mehr zur Zumutung wurde.“

    Der Schriftsteller sucht nach Stoff und Sinn – und nach der Leichtigkeit

    Soweit zum Schriftsteller, der also im erbärmlichen Zustand am Bahnhof in Schleswig ankommt, innerhalb von wenigen Wochen von der Mutter wieder aufs Gleis gestellt wird, während sie mit ihren 86 Jahren auch ansonsten alles am Laufen hält: Mit dem Aufsitzrasenmäher über die Latifundien rattert, werkelt, kocht, bäckt, repariert, holzhackt, schwimmt und abends einen Whiskey einnimmt. Wenn sie nachts nicht schlafen kann, geht sie hinaus zum Unkrautzupfen. Und auch den Sohn bringt sie in Bewegung, jede Aufgabe zieht eine neue nach sich. Eine Überlebensstrategie, wie er irgendwann erkennt. Diese Mutter ist klug, patent, positiv, kurzum fantastisch und Meyerhoff beschreibt sie unfassbar zärtlich – eine seitenlange Umarmung: Ach, diese Mutter, diese wunderbare Mutter. Mit sich selbst springt er härter um, gäbe es einen Preis für selbstironische Nabelschau, hätte ihn Meyerhoff auch. Wie der Schriftsteller an der Ostsee, so kommt aber auch dieses Buch erst langsam in Fahrt: Meyerhoff switcht zwischen melancholischen Kindheitserinnerungen, hinreißend komischen Theateranekdoten, und Report aus dem Mutter-Refugium, sucht nach Stoff und Sinn, schlingert und springt. Aber die Leichtigkeit lässt sich nicht einfordern, je näher er an die Gegenwart kommt, je geringer die Distanz zum Erlebten, umso mehr ist sein Ringen mit dem Roman zu spüren. Es schreibt, siehe Anfang, ein Mann, dem viele Fäden gerissen waren … Mutter und Mutterwitz helfen Mann und Roman über die Krise hinweg.

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