Die niederländische Autorin Jente Posthuma war hierzulande bisher ein unbeschriebenes Blatt. Das dürfte sich nun ändern, denn mit „Woran ich lieber nicht denke“ (stand im letzten Jahr auf der Shortlist des International Booker Prize) ist nun in deutscher Übersetzung ein außerordentlich beklemmender Roman erschienen, der sich um Suizid, Trauer und eine übergroße Geschwisterliebe dreht.
„Waterboarding, sagte ich zu meiner Mutter. Jemand legt einem ein Tuch aufs Gesicht und schüttet ständig Wasser drauf. Das fühlt sich an wie Ertrinken. Das ist Ertrinken.“ Mit diesen nüchternen, aber unter die Haut gehenden Sätzen wird der Roman über zwei Zwillingskinder eröffnet. Eine Atmosphäre aus Angst, Mobbing und Verzweiflung wird zum Begleiter bei der Lektüre.
Jente Posthuma schreibt über ein Zwillingspaar, bei dem einer sich das Leben genommen hat
Die 51-jährige, in Amsterdam lebende Jente Posthuma lässt die Schwester auf ihre gemeinsame Zeit mit dem geliebten Bruder zurückblicken, der Suizid begangen hatte. Er war mit dem Fahrrad in den Fluss gefahren, als die Zwillinge 35 Jahre alt waren.
Die Schwester berichtet von einer Kindheit, die von gleichgültigen Eltern und Mobbing in der Schule geprägt war. Der Bruder war nur 45 Minuten älter, nannte sich „Eins“ und die Schwester (wie selbstverständlich) „Zwei“. Auch im emotionalen Ranking bei den Eltern hatte der Bruder die Nase vorn. Die Mutter konnte weder Nähe ertragen noch Nähe schenken. Der Vater hatte die Familie früh verlassen. Im Alter von achtzehn Jahren zogen die Geschwister zusammen zum Studium in die Stadt, wo sie jeweils ein eigenes Stockwerk bezogen – sie auf der Westseite eines Parks, ihr Bruder auf der Ostseite. Zwischen ihnen lagen nur dreihundert Meter und doch fühlte sich für die Schwester die räumliche Trennung „gewaltig“ an. Nach einer Kindheit als Außenseiter scheint der Bruder sein Leben als junger Erwachsener mit Elan anzugehen. Wie seine Schwester studiert er Englisch, wird Manager in einer Schwulenbar, beginnt, sein Leben leben...
Durchaus humorvoll werden die ausgeprägten Marotten der Schwester nachgezeichnet
Durchgängig steht bei Autorin Jente Posthuma aber das Leiden der Schwester, der Zwei, im Mittelpunkt – und wie sie immer um die Gunst ihres Bruders kämpfte. Die schläft nach dem Tod des Bruders vermehrt auf der anderen Seite des Parks – in dem Haus, das er bewohnt hatte, wo sie seine Kleider trägt und an seinem Küchentisch sitzt. Man spürt ihre Verzweiflung, ihre Einsamkeit – aber auch die ihres Mannes Leo, der hilflos zusehen muss, wie er seine Frau an ihren toten Bruder verliert. Der Roman zeichnet durchaus humorvoll auch die ausgeprägten Marotten der Schwester nach. 142 bunte Pullover umfasste ihre Sammlung, als sie konstatierte: „Es wurde Zeit, in Therapie zu gehen.“
Trauer, kaum zu beschreibender Schmerz und ein Höchstmaß an Ausweglosigkeit dominieren das Denken und Fühlen der Schwester. Sie klammert sich an den Strohhalm der Erinnerung: „Wenn ich niemanden mehr habe, wird mein Bruder immer da sein.“
„Woran ich lieber nicht denke“ ist ein trauriges und tiefgehendes Buch über den schmerzhaften Verlust, aber Jente Posthuma schafft es glänzend, eine ungekünstelte Atmosphäre der Tragikomik zu evozieren. Den Namen der Niederländerin ist einer, den man sich als Leser merken sollte.
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