Selten ist der Mensch so optimistisch wie zum Jahreswechsel. Das gilt für Menschen in der ganzen Welt, überall werden – meist gegen jede Erfahrung – zu Beginn eines neuen Jahres neue Träume gesponnen, gerne in gewöhnungsbedürftigen Ritualen. Die Italiener löffeln Linsen, weil sie sich davon Wohlstand erhoffen, schließlich sehen Linsen irgendwie aus wie Geld. In Dänemark springen viele Menschen genau um Mitternacht von einem Stuhl oder gar einem Tisch sozusagen direkt ins (glückliche) neue Jahr, in Brasilien hüpft man über sieben kleine Wellen.
Die Kolumbianer packen sich einen leeren Koffer und spurten damit einmal quer durch ihre Nachbarschaft, das soll viele glückliche Reisen in den nächsten zwölf Monaten garantieren. Und dann sind da noch die Spanier, die sich zum Jahreswechsel den Mund vollstopfen, mit zwölf Trauben, eine Glückstraube also pro Monat.
Dieser Optimismus gilt auch für die Deutschen, denen selten übertriebene Zuversicht nachgesagt wird, immerhin ist die „German Angst“ international ein geflügelter Begriff. Aber an Silvester ist davon wenig zu spüren, da wird bundesweit gehofft und gewünscht, gute Gesundheit natürlich, mitunter gar die wahre Liebe, in jedem Fall aber jede Menge schöne und gute Dinge.
Wir leben in seltsamen politischen Zeiten
Und doch war ich zuletzt Gast bei einer Diskussionsveranstaltung, in der ein Redner darauf hinwies, das sei ja alles richtig, so viele gute Wünsche würden nun gerade ausgesprochen, auf so viel Besseres für die nächsten zwölf Monate gehofft, wie schön das sei! Doch gebe es aus seiner Sicht eine große Ausnahme: Dass es politisch ein gutes neues Jahr, ein besseres Jahr werde, diesen Wunsch oder auch diese Überzeugung habe er schon sehr lange nicht mehr gehört, so der Redner.
Als er dies sagte, schwirrte beifälliges Murmeln durch die Reihen der Zuhörer, es wurde sehr viel genickt. Und tatsächlich lässt sich in den letzten Tagen des Jahres 2019 – und zum Beginn des Jahres 2020 und damit auch eines neuen Jahrzehnts – eines feststellen: Wir leben in seltsamen (politischen) Zeiten. Und ob diese besser werden? Das zu wünschen, traut sich offenbar kaum jemand zu. Wohl, weil dieser Wunsch so schwer erfüllbar wirkt.
Das gilt natürlich für die große weite Welt, für die Weltpolitik ganz generell. Der häufigste Satz, der in Deutschland im vergangenen Jahr über den US-Präsidenten fiel – historisch gesehen wohl unser engster denkbarer Verbündeter – lautete: „Das kann er doch nicht ernst meinen!“
Doch Donald Trump meinte es ernst, bitterernst, entsprechend tief ist die Verbitterung auf dieser Seite des Atlantiks. Das Land der Freiheit ist in der Wahrnehmung vieler Deutscher das Land des Donald Trump geworden – das gilt selbst für Kanzlerin Angela Merkel, eine glühende Amerika-Freundin, die diesen bemerkenswerten Satz über das Verhältnis zu den USA sagte: "Die Zeiten, in denen wir uns auf andere völlig verlassen konnten, die sind ein Stück vorbei. Wir Europäer müssen unser Schicksal wirklich in die eigene Hand nehmen."
Die Schattenseiten des digitalen Wandels
Das Meinungsforschungsinstitut Allensbach hat gerade ermittelt, dass 76 Prozent der Deutschen diesem Satz zustimmen. Das ist beunruhigend. Noch ein wenig beunruhigender ist allerdings, dass weniger als die Hälfte der Befragten glauben, diese neue Unabhängigkeit von den USA werde den Europäern sicherheitspolitisch auch gelingen.
Doch diese rasante Veränderung in der internationalen Ordnung ist ja nicht die einzige Neuverortung, die so viele gerade so verwirrt. Denn zum Ende der 2010er Jahre drängt sich bei vielen das Gefühl auf, wir erlebten aktuell eine der rasantesten Umbruchphasen der Menschheitsgeschichte: Wir sind auf jeden Fall endgültig angekommen im digitalen Zeitalter, in der Industrie 4.0 (oder schon 5.0?). Aber, eine Frage drängt sich auf, zum Jahresende und zum Jahrzehntsende: Was genau ist dieser Fortschritt eigentlich, was bringt er uns überhaupt? Wie bringt er uns voran?
Und dazu müssen wir halt an vielen Stellen ein eher ernüchterndes Fortschritts-Fazit ziehen, das gilt ja beileibe nicht nur für unser Verhältnis zu den USA. Dieses Jahrzehnt, das am 31. Dezember zu Ende geht, begann ziemlich genau mit einem "Arabischen Frühling", den viele Beobachter als die erste demokratische Aufstandsbewegung bezeichneten, die durch soziale Medien entstanden sei. Aber es endet mit einem Nahen Osten, der zerklüfteter wirkt denn je, in dem sich manche die Diktatoren von einst zurückwünschen, und einige von denen auch brutaler und fester im Sattel sitzen als je zuvor. Wir blickten zu Beginn dieses Jahrzehnts auf ein riesiges Land, China, über das viele damals gesagt haben, der Fortschritt des Internets werde dort schon bald für Demokratisierung sorgen müssen. Aber am Ende des Jahrzehnts muss man feststellen, dass sich genau dort eine Überwachungs-Autokratie etabliert hat, denn natürlich haben auch Autokraten verstanden, wie sie ihre Untertanen mit elektronischer Hilfe ganz genau vermessen und überwachen können.
Vor einer Dekade erlebten wir kollektive Begeisterung über den digitalen Wandel – jetzt ist der wahre Luxus "Digital Detox", die Offline-Zeit für die wenigen, die sich diese leisten können. Und der Wunsch danach erklärt sich durchaus auch aus der Angst, ob erst unsere Schlüsselindustrien und dann vielleicht wir selber irgendwie überflüssig werden – so wie in Hollywood die größten Stars und Kassenschlager längst animierte Comic-Helden sind, nicht Schauspielstars aus Fleisch und Blut.
Die 2010er begannen mit dem Aufräumen nach der Weltfinanzkrise, als alles auf dem Prüfstand stand, auch der Gedanke, ob der Kapitalismus überhaupt nicht für immer diskreditiert sei, angesichts der vielen Milliarden Euro und Dollar, mit denen genau diese Banker gerettet werden mussten, die eben diese Milliarden verzockt oder sich selbst eingesteckt hatten. Ganz hat er sich davon nicht erholt, dieser Kapitalismus, selbst wenn Deutschland – und speziell unsere Region – ein echtes Boom-Jahrzehnt hinter sich hat (und auch, immer noch, ein ziemlich gutes 2019).
Doch zu dessen Ausklang fragen sich viele: Haben wir die Weichen richtig gestellt, damit so etwas sich nicht wiederholt? Und stehen wir, speziell in Deutschland, so gut da nach diesem guten Jahrzehnt oder haben uns andere Länder, andere Weltgegenden längst abgehängt?
Gerade die vergangenen zwölf Monate ließen daran erhebliche Zweifel aufkommen. Insbesondere gilt das für die deutsche Autoindustrie. Bestes Beispiel dafür: Das jährliche Hochamt der PS-Anbetung – die Internationale Automobil-Ausstellung (IAA) in Frankfurt – wurde dieses Jahr unfreiwillig Sinnbild für all die Bremsspuren in der Branche.
Was hält die GroKo am Leben? Angst.
Die Veranstaltung war nicht nur eher mäßig besucht, auch kam der wichtigsten Lobbyorganisation der Autoindustrie mitten während der Ausstellung ihr Präsident abhanden, er hatte sich mit den Autobossen zerstritten. Hängen blieb das Bild, in dem dieser scheidende Präsident mit bedröppelter Miene neben der Kanzlerin (sie kam immerhin noch!) auf der IAA saß. Autohelden sehen anders, optimistischer, aus. Elon Musk, der Tesla-Pionier, sowieso. Nun bahnen sich neue Auto-Ehen an, etwa zwischen Opel und PSA/Fiat, aber diese muten eher an wie Zwangsehen, sie haben zunehmend Endspielcharakter. Viele zehntausende Jobs könnten in den nächsten Jahren allein in der deutschen Autoindustrie wegfallen, setzt sich die E-Mobilität – die so viel weniger Ingenieurskunst verlangt – wirklich endgültig durch. Und überrascht uns, dass in einer Forsa-Umfrage gerade vier von fünf Deutschen zu Protokoll gegeben haben, das Risiko, sozial abzusteigen, sei aus ihrer Sicht heute größer als in vorherigen Generationen?
Diese Unsicherheit erfasst aber auch – oder sogar vor allem – das politische Deutschland. Und die Enttäuschung dazu hat für viele Bürger zunehmend einen Namen: Angela Merkel, die als Kanzlerin weiter im Amt ist, aber an vielen Tagen diesen Anschein nicht einmal mehr zu erwecken versucht.
Zum Jahresende, da auch Merkels Große Koalition in Berlin schon aus SPD-Verunsicherung wieder mal auf der Intensivstation zu liegen scheint und die große politische Unsicherheit uns auch ins neue Jahr begleiten wird, muss man an einen Umstand erinnern (und wir haben dies als Redaktion vorher getan, wollen es jedoch zum Jahreswechsel noch einmal betonen): Angela Merkel ist zu ihrer vierten Amtszeit als Kanzlerin der Bundesrepublik Deutschland nicht zwangsverpflichtet worden. Sie hat sich beworben.
Sie hat 2016 dafür sogar ganz konkrete Gründe angeführt. In Zeiten des Populismus sei eine weitere Kandidatur alles andere als trivial, gab sie zu bedenken – "weder für das Land noch für die Partei noch – ich sage es ganz bewusst in dieser Reihenfolge – für mich persönlich." Merkel spielte damals kokett die eigene Rolle herunter, kein Mensch alleine könne die Dinge in Deutschland, Europa oder der Welt zum Guten wenden. Doch letztlich empfahl sie sich durchaus genau für diese Rolle – nicht bloß als Stabilitätsanker, sondern auch als Gestalterin, in Deutschland, in Europa, in einer Welt im Wandel.
Die Deutschen haben Merkel noch einmal gewählt. Aber weil sie eben ein Versprechen abgegeben hat, diese letzten Amtsjahre sinnvoll zu nutzen, ergibt sich für Merkel nun eine Verpflichtung: zu erkennen, dass sie diese gestaltende Rolle nicht mehr ausfüllen kann.
Wir erleben gerade – und werden sie, darauf deuten alle Anzeichen hin, auch im kommenden Jahr weiter erleben – eine absurde politische Phase, die nicht weniger absurd wird, weil es in anderen Ländern noch absurder zugeht. Aber wir hatten in Deutschland noch nie eine Kanzlerin, die zwar im Amt, aber nicht "in charge" ist. Eine CDU-Parteivorsitzende, die jeden Tag Kanzlerin werden will, aber (fast) jeden Tag Fehler macht. Und einen Koalitionspartner, der am Mitregieren verzweifelt.
Die Große Koalition kann keine Zukunft gestalten
In so einer Konstellation kann man Gegenwart verwalten. Diese Große Koalition bewegt rein statistisch gesehen nicht so Kleines. Aber man kann keine Zukunft gestalten. Das müssen wir Deutsche gar nicht alleine sagen, das sagen uns auch andere. Die New York Times hat gerade kühl konstatiert, Merkels "Zombie-Koalition" wolle einfach nicht sterben.
Was hält diese am Leben? Angst. Die CDU fürchtet Neuwahlen, weil die Grünen dann viel stärker würden. Die SPD-Mandatsträger fürchten sie, weil sie dann (noch) schwächer würden. Und dann ist da noch die Angst vor der AfD.
Natürlich sind Neuwahlen keine gute Option. Aber ist panische Furcht vor Neuwahlen besser? Es gäbe ja noch viel zu tun, heißt es aus den Volksparteien, etwa die deutsche EU-Ratspräsidentschaft 2020, da dürfe das Land nicht mitten in der Machtfindung stecken. Doch wer erwartet von dieser Koalition ernsthaft eine visionäre deutsche EU-Präsidentschaft?
Sie, der man es in ihrer Uneitelkeit am ehesten zugetraut hätte, hat ihren Abschied verpatzt. Natürlich ist ihr Platz in der Geschichte sicher. Viele werden dieser Kanzlerin nachtrauern, in Deutschland und der Welt.
Aber wenn Merkel wirklich gelegen ist an der Reihenfolge von "Land, Partei, Person", müsste sie dann nicht den Mut finden, einen Neuanfang früher zuzulassen, dann eigentlich schon im Jahr 2020, nicht erst mit dem amtszeittechnisch vorgesehenen Ableben ihrer Koalition Ende 2021?
Fest steht, mit Blick auf Bayern: Die CSU wird diese Entwicklung aufmerksam verfolgen, schon als Schwesterpartei der CDU. Aber aktiv betreiben werden die bayerischen Christsozialen jede Auflösungstendenz nicht. Das liegt einmal daran, dass die Partei auch mehr als ein Jahr nach ihrem (gemessen am Selbstanspruch der CSU) sehr bescheidenen Abschneiden bei der bayerischen Landtagswahl vor allem mit der Selbsterneuerung beschäftigt ist. Ministerpräsident und Parteichef Markus Söder treibt diese in einem Tempo voran, dass manchen Parteichefs schwindelig wird – gleichzeitig aber, gerade im Rest der Republik, auch Söders eigene Popularitätswerte in überraschend schwindelerregende Höhen gestiegen sind.
Es liegt aber auch daran, dass zumindest die aktuellen CSU-Tonangeber offenbar begriffen haben, dass eine Partei, die alle paar Tage Koalitionen zerstören will, vom Wähler eher nicht geschätzt wird. Daher muss man erstaunt feststellen: Die vor kurzem noch so zerstritten und angespannt wirkende CSU wirkt derzeit wie der vielleicht einzige Stabilitätsanker der deutschen Politik …
Aber vielleicht verlieren wir uns nun schon wieder im Klein-Klein der Parteipolitik. Vielleicht müssen wir an der Stelle weiter denken, weil mehr auf dem Spiel steht. Geht es wirklich nur um die Frage einer Minderheitsregierung in Berlin, neue Koalitionsformen oder auch um das Problem, wie viele von Trumps Tweets nun glatt gelogen sind oder nur halb?
Es gibt kein Recht auf eigene Fakten
Geht es nicht darum, ob unsere Demokratie überhaupt noch so funktionieren kann, wie wir uns das erhoffen? Manche wollen diese von links abschaffen. Andere wollen diese von rechts abschaffen. Und es stellt sich die Frage, wie sich überhaupt noch Informationen vermitteln lassen, selbst für die Mitte der Gesellschaft.
Das gilt für die USA, in denen Fox News den Trump-Anhänger und ihm selbst eine sehr eigene Wirklichkeit zimmert. Es gilt für Brasilien, wo Fake News, massenhaft verbreitet über Nachrichtennetzwerke wie WhatsApp, einem zuvor stets verlachten Rechtspopulisten ins Präsidentenamt verhalfen. Für Russland, wo journalistische Recherche lebensgefährlich sein kann, aber auch geografisch weit näher in Polen oder Ungarn, wo derlei (kritische) Recherche von den jeweiligen Regierungen gar nicht geschätzt wird.
Wir erleben es aber in Deutschland, wo Recherche zwar nicht offen behindert wird. Aber eine Debattenkultur schon unter Gefahr gerät, wenn zu bestimmten Themen jeder das Recht auf seine eigenen Fakten einzufordern scheint.
Wir haben dies ganz nah, mitten in Augsburg, gerade erst erleben müssen, nach dem furchtbaren Tötungsdelikt auf dem Königsplatz. Schon kurz nach der Tat war in "sozialen Netzwerken" vielen ganz vieles klar. Etwa, dass eine Vertuschung der Täternationalität liefe, orchestriert, na klar, von Medien. Nur, klar war da noch gar nichts. Es wurde ermittelt, es wurden Fakten zusammengetragen, es wurde recherchiert. Man muss – Handwerk! – in solchen Fällen alles untersuchen, alle Fakten prüfen. Wir alle müssen Fakten zusammentragen, Fakten auch beschützen, damit diese Gesellschaft funktioniert. Ohne faktentreue Medien klappt Demokratie nicht. Ohne den Fakten verpflichtete Polizisten ebenfalls nicht.
Das ist unsere Währung als freie Presse, genau wie die der Justiz. Und diese verliert auch nicht ihren Wert nach der Festnahme der mutmaßlichen Täter – als manche der zuvor so lauten Beobachter enttäuscht wirkten, dass es sich nicht um "echte" Flüchtlinge handelte, aber doch erleichtert, dass diese immerhin Migrationshintergrund aufwiesen (es ist übrigens erstaunlich, wie viele sich wahnsinnig für Täter interessieren, für Opfer jedoch erstaunlich wenig). Und es minderte den Zorn auch nicht, der der Polizei weiter entgegenschlug, aber auch uns Medien.
Weder die Polizei noch wir Medien machen es uns leicht, wenn es um die Nennung von Nationalitäten geht. Polizisten wägen das Ermittlungsinteresse ab, wir das öffentliche Interesse. Uns für derlei Abwägung zu beschimpfen, verhöhnt demokratische Abwägung, die uns gerade von Autokratien unterscheidet. Wir machen es uns übrigens auch nicht leicht, wenn es um die "Flüchtlingspolitik" geht. Wir gehen keineswegs blauäugig davon aus, dass in dieser Hinsicht schon alles "geschafft" ist – sowohl was die (jahrelangen) Mühen von Integrationspolitik anbelangt, Ausländerkriminalität und kulturelle Herausforderungen, die beide keineswegs zu verschweigen sind – aber eben auch die Gefahr von Hass und Gewalt gegen Ausländer, Flüchtlinge oder, wie furchtbar in diesem Jahr an der Synagogentür in Halle zu besichtigen, gegen Juden.
Viele der wütendsten Zuschriften in solchen Debatten enden übrigens mit dem Hinweis, auch "alternative Medien" würden informieren. Es ist natürlich das Recht eines jeden Demokraten, sich eigenen Medien zuzuwenden. Aber es gibt in einer Demokratie kein Recht auf eigene Fakten.
Parteien, Kirche, Vereine: Manche Institutionen sollten bewahrt werden
Doch die zentrale Frage bleibt: Wer kann sich solchen Zersetzungs-und Zersplitterungstendenzen entgegenstellen? Können wir da noch auf "Institutionen" hoffen? Viele derer, die sich dazu lange zählten, sind erschüttert. Manche Erschütterungen sind auch gut: Es schadet etwa nicht, dass Herausgeber der ehrwürdigen Frankfurter Allgemeinen Zeitung, wenn sie in ihrem Männerkollegium gönnerhaft die Kanzlerin empfangen und davon Fotos verbreiten, im Netz eher schnell nicht mehr als Institution gefeiert, sondern verspottet werden als alte weiße Männer in nicht ganz so gut sitzenden Anzügen … und wo wir schon bei uns Medien sind. Ein schlauer Kommentator hat gerade geschrieben: "Auf Twitter kann man nicht ex cathedra sprechen", das galt uns Medien-Institutionen. Er hat recht, es ist im Zweifel auch gut so, dass wir Journalisten im Zeitalter der sozialen Netzwerke nicht mehr so unantastbar, nicht von unserer journalistischen Kanzel das Immergleiche predigen und als absolute Wahrheit verkaufen können.
Wir dürfen darüber aber nicht vergessen, dass es schon gut wäre, wenn man über Fakten nicht immer neu verhandeln müsste. Und auch, dass nicht jede "Institution" so völlig leicht ersetzbar ist. Was haben etwa die Volksparteien für ein Jahr, für ein Jahrzehnt hinter sich? Die SPD, na klar, aber auch die Union. Sind sie nur zwischenzeitlich erschüttert oder doch schon fast "zerstört", wie es ein Youtube-Star mit blauen Haaren gerade versucht hat? Manche Institution muss eben nicht partout gestürmt werden, sie sollte auch bewahrt werden. Die Volksparteien etwa, die Kirchengemeinde, Vereine natürlich, das große Ganze, der gesellschaftliche Kitt, der Gesellschaften irgendwie zusammenhält.
Das nicht zu vergessen, dazu sollten wir uns alle nächstes Jahr gemeinsam anstrengen. Ich wünsche Ihnen, da bleibe ich doch so optimistisch wie am Anfang beschrieben, nur das Beste für das Jahr 2020.
Wir wollen wissen, was Sie denken: Die Augsburger Allgemeine arbeitet daher mit dem Meinungsforschungsinstitut Civey zusammen. Was es mit den repräsentativen Umfragen auf sich hat und warum Sie sich registrieren sollten, lesen Sie hier.