Der Film zeigt Sie als einen ausgesprochenen Familienmenschen. Wie wichtig war es Ihnen, diesen Aspekt zu zeigen?
WARIS DIRIE: Das war auf jeden Fall wichtig, da ich auch in einer Surfer-Familie aufgewachsen bin. Meine Eltern, Eugen und Ulla und meine Schwester Britt sind 1978 nach Gran Canaria ausgewandert und haben dort ein Surfzentrum aufgemacht. Das wollte ich natürlich auch meiner Familie weitergeben. Wir sind alle Surfer in der Familie, deswegen war es schon wichtig, dass das auch rüberkommt. Ein Leben ohne Familie könnte ich mir auch gar nicht vorstellen.
Sie flohen vor einer Zwangsheirat aus Somalia Anfang der 80er nach England, wo Sie zur Model-Ikone avancierten und danach einen Feldzug gegen weibliche Genitalverstümmelung starteten. Sie verfassten den autobiografischen Bestseller „Wüstenblume”, aus dem auch ein Film und ein Musical wurden. Was treibt Sie eigentlich an?
WARIS DIRIE: Das Gleiche könnte ich Sie auch fragen. Warum stehen Sie morgens auf? Wir haben doch alle keine andere Wahl, als in der Früh aus dem Bett zu steigen. Und der Grund dafür hängt davon ab, was wir vom Leben wollen.
Was wollen Sie?
DIRIE: Ich will, dass mir das Leben ein schönes Gefühl gibt. Und dafür brauche ich rein nichts, nur die Natur. Ich kann selbst auf Kleidung verzichten. Lieber stehe ich nackt in der Wüste oder schwimme im Ozean. Das reicht mir völlig. Und dieses spirituelle Gefühl hält mich geistig gesund.
Allerdings bewegen Sie sich in der schnelllebigen westlichen Zivilisation, wo Sie auch Ihre Karriere machten. Mögen Sie diesen Rhythmus?
DIRIE: Ich würde viel lieber langsamer machen. Aber wenn du in dieser Welt auf die Bremse trittst, dann überholt sie dich. Also musst du deine Stiefel anziehen, dich bewegen und dich dem ganzen Wettbewerb stellen.
Wie stark ist noch Ihre Verbindung zu Ihrer Familie in Somalia?
DIRIE: Ich habe weiter Kontakt mit meiner Mutter. Sie ist um die 80 Jahre. Als sie krank war, habe ich sie nach Wien bringen lassen, wo ich wohne. Aber das war nichts für sie. Sie konnte es hier nicht aushalten. Ständig hat sie gefragt: ‚Wann geht es wieder zurück? Wo sind meine Ziegen? Bringst du mich denn nach Hause?‘ Diesen Sommer hatte sie wieder gesundheitliche Probleme, aber da kam sie in ein Krankenhaus in Addis Abeba.
Hat sie überhaupt verstanden, was Sie auf Ihrem Lebensweg erreichten?
DIRIE: Nein, dafür hat sie keinen Begriff. Als wir im Flughafen in Wien am Gepäckkarussell warteten, kamen alle möglichen Leute auf mich zu und wollten Autogramme. Und sie meinte: „Woher kennst du die alle?“ Ich sagte: „Die mögen mich, aber kenne sie nicht. Ich habe sie nie getroffen.“ Aber sie ließ sich nicht beirren: „Was bist du nur für ein Mensch? Die kennen dich und du bist total unhöflich zu ihnen. Was ist los mit dir?“ Es war unmöglich, ihr das zu erklären. Aber ich finde ihre Haltung trotzdem fantastisch.
Verbringen Sie noch Zeit in der Wüste?
DIRIE: Was soll ich in der verdammten Wüste? Die hat mich doch fast umgebracht. Ich muss mein Leben leben. Wenn ich in die Wüste will, dann gehe ich in meiner Imagination dorthin.
Stattdessen leben Sie in Wien, ein krasser Gegensatz...
DIRIE: Als ich zum ersten Mal nach Wien gekommen bin, habe ich mich sofort heimisch gefühlt. Ich glaube, ich habe in einem früheren Dasein schon mal hier gelebt. Die Stadt hat irgendetwas Besonderes. Ja, sie Stadt ist langweilig, hier passiert nicht viel. Die Menschen sind stumm, ihre Gesichter verschlossen Aber ich mag diese Ruhe und Einfachheit. Abgesehen davon habe ich hier sehr schöne Natur.
Zu Ihrem Leben gehören auch Ihre beiden erwachsenen Söhne. Inwieweit kennen die Ihre Geschichte?
DIRIE: Die war ihnen scheißegal. Ursprünglich kannten sie sie gar nicht, bis sie dann eines Tages den Film über mich gesehen haben. Ansonsten waren sie immer sehr irritiert, wenn Fremde mich angesprochen haben – ähnlich wie meine eigene Mutter.
Sind Ihre beiden Söhne, von denen der eine schon erwachsen ist, ähnlich wie Sie?
DIRIE: Sie haben eine ganz andere Einstellung. Schließlich kennen sie nicht das Leben, wie ich es gelebt habe. Sie haben nicht die Narben an den Füßen wie ich. Sie wachen in einer Welt auf, wo sie von Technik umgeben sind. Das prägt natürlich die ganze Lebenseinstellung. Die Generation, zu der sie gehören, ist selbstsüchtig, gierig und verdammt faul.
Was hoffentlich nicht auf Ihre Söhne zutrifft?
DIRIE: Ich habe schon versucht, das Bestmögliche aus ihnen herauszuholen und gute Menschen aus ihnen zu machen. Aber ich kann ihnen nicht alles beibringen, am Ende des Tages müssen sie ihre eigenen Lebensentscheidungen treffen. Mein Erster ist mit 26 immerhin schon ein großer Mann – kein Baby.
Aber was genau werfen Sie der modernen Generation vor?
DIRIE: Dass sie sich nicht um die Natur kümmert. Wir Menschen sind zum Feind der Natur geworden. Und es wird immer schlimmer. Aber die Natur wird kommen und uns zerstören. Es sei denn, wir alle wachen auf und fangen an, uns um sie zu kümmern. Das machen wir aber wohl erst, wenn sie uns wirklich wehtut. Inzwischen spüren wir ja den Klimawandel am eigenen Leib. Aber diese großen Jungs, die die ganze Macht haben, jagen nur ihren Profiten hinterher. Dabei haben sie doch auch Kinder, Familien, Enkel, denen sie die Erde hinterlassen. Warum tun sie nichts?
Haben Sie zumindest Ihren Söhnen dieses Bewusstsein für die Natur vermittelt?
DIRIE: Natürlich. Das ist mein Job. Und ihnen blieb gar nichts anderes übrig, als mir zuzuhören. Ich habe ihnen regelrecht eingebläut, dass sie ihr Leben nachhaltig führen. Jeden Tag habe ich das getan. Letztlich muss alles bei der Erziehung ansetzen. Das versuche ich auch mit meiner Stiftung bei Jugendlichen in Afrika zu erreichen. Sie müssen es schaffen, ein richtiges Leben zu führen.
Sie haben ja von den „großen Jungs“ gesprochen, die die Welt regieren. Welcher Typ Mann ist für Sie persönlich interessant?
DIRIE: Ich will einen sensiblen Mann. Mehr brauche ich nicht. Denn wenn ein Mann sensibel ist, dann bedeutet das, dass er die Welt kennt. Er kann seine Gefühle ausdrücken. Was ich nicht ausstehen kann, sind selbstsüchtige Männer mit großem Ego. Ein Mann soll bodenständig sein und ein großes Herz haben. Mit so jemandem komme ich am besten klar.
Nun scheinen aber Männer generell sensibler für die Bedürfnisse von Frauen zu werden. Finden Sie das nicht?
DIRIE: Es gibt dabei ein Problem. Dazu muss ich ein bisschen ausholen. Ich bin eine Person, die Menschen liebt. Ich mag es mit ihnen zu spielen, zu sprechen, sie auf nette Weise aufzuziehen und zum Lachen zu bringen. Ich will dieses Lachen in ihrem Gesicht sehen. Aber inzwischen wagen es Männer nicht mehr, dich anzuschauen und sich mit dir zu unterhalten. Sie sind total distanziert. Und warum? Weil sie Angst haben. Sie fürchten, dass was Schlimmes passiert und ich gegen sie Klage einreiche, wenn sie sich darauf einlassen. Und das alles nur wegen dieser verdammten Bewegung. Für mich ist das total schlecht, denn ich mag es zu flirten. Aber das ist jetzt tot. Dabei bin ich voller Respekt. Ich würde nie einem Mann, der sich okay benimmt, etwas Schlechtes hinterhersagen.
Doch verleiht diese Bewegung den Frauen nicht mehr Stärke?
DIRIE: Wir waren immer stark. Wir waren stark genug, dich auf die Welt zu bringen und dich als Baby zu tragen. Natürlich fühlen sich manche Männer davon eingeschüchtert, dass Frauen mehr Rechte bekommen, weil sie den Boss spielen wollen. Und die werden dann gewalttätig. Aber viele wissen jetzt nicht mehr, wie sie sich gegenüber Frauen verhalten sollen, die sie nicht kennen. Sie können sich nicht mehr ganz normal in der Bar mit mir unterhalten. Denn es ist für mich viel leichter, ihnen Probleme zu machen als sie mir. Was früher einfacher, normaler Spaß war, geht nicht mehr. Ich weiß nicht, wohin das noch führen soll.
Sie haben in Ihrem Leben viel Schmerz erfahren und große Entbehrungen durchgemacht, bevor Sie Ihre Weltkarriere begannen. Warum haben Sie eigentlich nie die Liebe zu den Menschen verloren?
DIRIE: Erstens: Ich bin anders als alle anderen. Zweitens: So viel Schmerz habe ich auch nicht erlebt. Ja, als Kind haben mich ein paar Leute festgehalten und man hat mir etwas angetan. Aber für uns in Afrika war das so normal wie Zähneputzen. Das war keine große Sache. Erst später habe ich begriffen, dass das falsch war. Es gab keinen Grund, das zu tun. Aber ich habe deshalb keine Schmerzen. Es ist passiert und ich kann es nicht ändern. Also musste ich mit meinem Leben weitermachen. Das war keine Sache, gegen die ich ankämpfen konnte. Ich sehe das Positive in den Dingen. Ich kann verdammt noch mal so viel Sex haben wie ich will – echten Sex. Mein Körper ist im Großen und Ganzen heil. Und so habe ich kein Problem, mein Leben zu führen, wie ich es will. Und ich will den Leuten Freude und Liebe vermitteln. Ich sehe so viele schöne Dinge um mich. Ich sehe die Liebe. Ich bin Künstlerin, ich male. Und ich sehe die Natur. Sie ist meine Herrscherin, meine Liebe, meine Religion. Es gibt nichts, was ich mehr verehre. Sie hat mich zu dem gemacht, was ich bin.
Können Sie sagen, was die wichtigste Erkenntnis Ihres Lebens ist?
DIRIE: Ich liebe mich selbst. Das musst du auch tun, Baby. Und weil ich mich so sehr liebe, will ich den Menschen vermitteln, was ich fühle. Egal wie, egal ob im großen oder kleinen Stil, egal wie, ich möchte einfach meine Liebe geben. Und das kann ich nur allen Menschen sagen: Liebt, liebt, liebt!
Zur Person
Waris Dirie, geboren 1965 als Tochter einer somalischen Nomadenfamilie, machte als Topmodel international Karriere, wurde mit ihrem Buch "Wüstenblume" zur Bestsellerautorin und engagierte sich als UN-Sonderbotschafterin im Kampf gegen weibliche Genitalverstümmelungen, die sie selbst als Fünfjährige erlitten hat. Dirie war mit 13 Jahren aus der Wüste geflohen, als sie verheiratet werden sollte, lebte dann bei Verwandten in Mogadischu. Später zog sie nach London, wo sie vom Fotografen Terence Donovan entdeckt wurde. Im Deutschen Theater in München ist bis zum 15. Oktober das Musical "Wüstenblume" zu sehen, in dem ihre Lebensgeschichte erzählt wird – von Gil Mehmert (Buch) und Uwe Fahrenkrog-Petersen (Musik) wurde der Stoff für die Bühne adaptiert. Dirie lebt mit ihrem jüngeren Sohn Leon in Wien.