Warum geht einer der populärsten und für seinen Einfallsreichtum und seinen Humor von mir heiß bewunderten Schriftsteller unserer Gegenwart nicht ins Fernsehen? Vor was haben Sie Angst?
WALTER MOERS: Eine prominente Person zu werden. Das stelle ich mir schrecklich vor. Man muss Selfies mit wildfremden Leuten machen und, wenn man nicht aufpasst, landet man zum Schluss im "Dschungelcamp".
Apropos Fernsehen. Ihren ersten Zamonien-Roman „Die 13 ½ Leben des Käpt’n Blaubär“ haben Sie aus Frust geschrieben, um sich Ihren Blaubären wieder anzueignen, der im Fernsehen verflacht wurde. War dieser Roman so etwas wie die literarische Unabhängigkeitserklärung des Autors Walter Moers?
MOERS: Jedenfalls hat der Roman-Blaubär den Fernseh-Blaubär mittlerweile überlebt. Die Produktion der Fernsehserie wurde irgendwann eingestellt, aber der Roman läuft immer noch prima. Und die Rechte am Blaubär liegen wieder bei mir. Insofern ist die Wiederaneignung gelungen, finde ich.
Wir sind beide deutsche Nachkriegskinder der alten Bundesrepublik. Welche Rolle spielte das Gelobte Land, die USA, für die Erschaffung und Entwicklung Ihrer fiktiven Welt Zamonien?
MOERS: Eine sehr große. Schon in meiner Kindheit und Jugend hat die amerikanische Kultur für mich eine wichtige Rolle gespielt, besonders Filme, Comics und Literatur. Später bin ich viel in den USA gereist. Die fiktive Karte von Zamonien ist der topographischen Karte von Amerika sehr ähnlich. Viele Motive, Figuren oder Schauplätze haben da ihren Ursprung.
Diese Rache am Medium Fernsehen ist Ihnen gelungen - Zamonien ist aus der Phantasiewelt von uns Leserinnen und Lesern nicht mehr wegzudenken, genau wie Mittelerde oder Hogwarts. Ist die wichtigste Botschaft der Literatur vielleicht der Hinweis darauf, dass es immer ein Woanders gibt, andere Orte und andere Zeiten, in der Menschen oder andere Wesen anders leben und andere Regeln und Normen gelten?
MOERS: Auf diese Frage würde ich gerne mit einem Zitat eines der größten Schriftsteller Zamoniens antworten. "Für eine Reise muss man nicht das Haus verlassen. Die phantastischsten Reisen sind die im eigenen Kopf." Gryphius von Odenhobler hat das gesagt.
In „Die Insel der Tausend Leuchttürme“ lassen Sie Ihren zamonischen Bestsellerautor Hildegunst von Mythenmetz ein Comeback erleben und schicken ihn auf Kur. Ist der notorische Hypochonder und Abschweifer Mythenmetz inzwischen zu Ihrem alter Ego geworden?
MOERS: Ja, das war ein schleichender Prozess, ich habe das zuerst gar nicht gemerkt. Ich habe tatsächlich geglaubt, dass ich da eine literarische Figur erschaffe. Mittlerweile werden meine Texte von dieser Figur verfasst, die sich selbst erfindet und immer weiter ausbaut. Das ist aber sehr praktisch, ich brauche selber eigentlich gar nichts mehr zu tun.
Warum sind Inseln seit Kirke, Shakespeares „Sturm“ und Robinson Crusoe so besondere Orte für Literatur?
MOERS: "Die Schatzinsel" nicht zu vergessen! Wenn ein Roman auf einer Insel spielt, erhöhen sich seine Chancen auf eine Verfilmung und den Nobelpreis exponentiell: "Der Weiße Hai", "Der Herr der Fliegen"... Mein eigener Inselroman hat allerdings hauptsächlich mit einem traumatischen Kindheitserlebnis zu tun. Ich wurde im Alter von fünf Jahren zu einer Asthmakur verschickt, drei Monate lang, ohne Eltern auf das winterliche Norderney. Ich habe ein ganzes Leben gebraucht, um mich davon zu erholen und das jetzt endlich literarisch zu verarbeiten
Im Grunde schreiben Sie Reiseromane. Man könnte auch von mittelalterlichen Questen sprechen. Was reizt Sie an dieser Form?
MOERS: Die meisten langfristig brauchbaren Ideen hatte ich auf Reisen. Das Reisen ist immer ein Jagen und Sammeln von Ideen, während die eigentliche Schreib- und Illustrationsarbeit meistens zu Hause stattfindet. Deswegen sind Notizbücher meine wichtigsten Arbeitsmittel. Und Koffer.
Sie lassen in diesem Roman Ihre maritime Phantasie wirklich die Zügel schießen und beschenken uns mit neuen Wesen wie dem „Sharkodil“, dem Quaquappa und der „Hummdudel“ und nicht zu vergessen mit einer ganz neuen Sportart, dem „Kraakenfieken“. Wie kommen Sie auf Ihre genialen Namen?
MOERS: Dafür gibt es viele Mittel, aber das Internet benutze ich dafür grundsätzlich nicht. Viel lieber echte Lexika oder andere Nachschlagewerke. Eine Zeitlang habe ich mir bei jeder Taxifahrt in New York den Namen des Fahrers aufgeschrieben. Exotischere Namen findet man sonst nirgendwo.
Sie haben in den Zamonien-Romanen ein eigenes Wort erfunden für die Inspirationskraft großer Schriftsteller: das Orm. Wie steht es um das Orm von Walter Moers im 66. Lebensjahr?
MOERS: Ich kann eigentlich nicht klagen, danke der Nachfrage! Ideen habe ich andauernd. Das Problem ist, dass die meisten nichts taugen. Die eigentliche Arbeit ist, die guten Ideen rauszufiltern.
„Lass einfach die langweiligen Sachen aus, erzähle nur die spannenden Teile“, haben Sie mal eine Figur sagen lassen, und auf diesen Nenner könnte man auch die Poetik der rasant erzählten Romane von Walter Moers bringen. Was ist für den Erzähler Walter Moers heute spannend?
MOERS: Ich finde es immer noch aufregend, in meinen Romanen mit unterschiedlichen Stilformen und Illustrationsarten zu experimentieren. Deswegen ist mein neues Buch ein Briefroman und in einer Bleistifttechnik illustriert, die ich bisher noch nicht ausprobiert habe. Dass der Briefroman heutzutage als veraltete Form gilt und der Bleistift als unsexy, hat mich dabei eher angetrieben als gehindert. Es gibt kein nachhaltigeres Zeichenwerkzeug als einen Bleistift. In dieser Hinsicht bin ich sozusagen retrosexuell veranlagt.
Von Beginn an illustrieren Sie Ihre Bücher selbst, das perfekt inszenierte Wechselspiel von Text und Bild bis hin zur Typografie, zum farbigen Kopfschnitt und Umschlagpapier ist zum Markenzeichen Ihrer Zamonien-Romane geworden. Wieso hängen Schreiben und Zeichnen für Sie unweigerlich zusammen?
MOERS: Ich habe als Comiczeichner angefangen, und ich fürchte, dass ich das eigentlich immer noch bin. Heute sind meine Texte und Illustrationen nur ausführlicher und detaillierter geworden. Bild und Text hängen in meiner Arbeit aber immer noch untrennbar zusammen, egal, ob ich Romane, Comics oder Storyboards mache. Ohne Bilder kann ich nicht schreiben.
Vor dem Romancier Walter Moers stand der Comicautor Walter Moers, der das Kleine Arschloch erfand, den alten Sack und Adolf, die Nazisau … Was ist aus Ihrer Lust an der Provokation geworden?
MOERS: Ob man es mir glaubt oder nicht: Ich wollte eigentlich noch nie irgendjemanden provozieren. Ich dachte damals schon, dass das andere Humoristen vor mir alles schon viel gründlicher erledigt hatten, wie die Monty Pythons zum Beispiel. Ich fand es einfach ganz selbstverständlich, so eine Art von Humor zu machen.
Jede Zeit besitzt einen anderen Sinn für Humor. Nach einigen kurzen Jahren, in denen die Ironie Trumpf war, erleben wir nun eine Phase des moralischen Rigorismus. Was bedeutet das für einen Autor, der immer mit den Mitteln von Komik, Humor und Satire gearbeitet hat?
MOERS: Mit dem Humor ist das so ähnlich wie mit dem Alkohol: Wenn man ihn nicht verträgt, sollte man die Finger davonlassen. Ich glaube nicht daran, dass das Publikum heutzutage humorloser geworden ist oder weniger interessiert an provokantem Humor. Die sozialen Medien bieten nur einer Minderheit von Bedenkenträgern immer mehr Möglichkeiten, den Humoristen und ihrem Publikum den Spaß zu verderben. Lustig finde ich das natürlich nicht.
Wäre heute Figuren wie das kleine Arschloch, der alte Sack oder Adolf, die Nazisau noch vorstellbar oder würde man Sie dafür auf dem Altar der politischen Korrektheit kreuzigen?
MOERS: Wenn ich das heute als junger Autor genauso machen würde wie damals, würde ich keinen Verlag mehr finden, der sich traut, das zu drucken, fürchte ich.
In diesem Jahr wird Loriot hundert. Trotz Jean Paul, trotz Theodor Fontane, Thomas Mann und Kurt Tucholsky ist der deutsche Humor international eher berüchtigt. Woran liegt das eigentlich?
MOERS: An Adolf Hitler?
Wie ist es Ihnen gelungen, dem zu Recht gefürchteten deutschen Schubladendenken zu entkommen?
MOERS: In jeder Form von Zivilisation gibt es einen natürlichen Respekt vor Geisteskranken.
Sie machen sich – Stichwort Dölerich Hirnfidler, ein Anagramm von Friedrich Hölderlin – gern über die literarische Tradition lustig. Andererseits halten Sie diese durch Ihr Werk ja gerade lebendig – ihre Zamonien-Romane sind ja Liebeserklärungen an die Macht der Literatur. Was hat Literatur im Leben von Walter Moers bedeutet?
MOERS: In meiner Kindheit und Jugend war ich ein Vielleser und Bücherfresser. So wie ein Kamel, das für eine Wüstenreise auftankt. Davon habe ich lange gezehrt.
Und heute?
MOERS: Heutzutage lese ich lieber die Bücher, die mich einmal beeindruckt haben, immer wieder. Wenn sie wirklich gut waren, kann man darin mehr Neues entdecken als bei der wahllosen Lektüre zeitgenössischer Autoren. Man muss sich ja die noch verbleibende Lebenszeit immer sorgfältiger einteilen.
Heute wird ja oft Literatur aus einer Position der Defensive betrachtet – trotz J.K. Rowling, trotz Stephen King und Walter Moers. Konstatieren auch Sie einen Bedeutungsverlust der Literatur seit der guten alten Zeit von Böll, Grass, Walser & Christia Wolf? Oder ist Ihnen um die Literatur nicht bange?
MOERS: Da nennen Sie genau die Autoren, mit denen man mir in meiner Schulzeit den Spaß am Lesen austreiben wollte. Ich habe immer die angelsächsische Literatur bevorzugt.
Kleiner König Kalle Wirsch, Jim Knopf, nicht zu vergessen das Urmel: wie wichtig war die Augsburger Puppenkiste für Walter Moers?
MOERS: Außerordentlich wichtig. Ich würde sogar soweit gehen, zu behaupten, dass Frau Mahlzahn, der weibliche Drache aus JIM KNOPF, die ursprüngliche Inspiration für meine Figur Hildegunst von Mythenmetz sein könnte. Frau Mahlzahn hat mich als Kind enorm beeindruckt.
Zur Person
Walter Moers, 1957 in Mönchengladbach geboren, ist der bekannteste Unbekannte im deutschen Literaturbetrieb. Der Schriftsteller und Zeichner, der mit seinen Comics wie "Das kleine Arschloch" berühmt wurde, hat sich Mitte der 90er Jahre komplett aus der Öffentlichkeit zurückgezogen. 1999 veröffentlichte er sein literarisches Debüt mit "Die 13 ½ Leben des Käpt’n Blaubär" und erschuf sein Reich Zamonien, aus dem er als Alter Ego Hildegunst von Mythenmetz seine große Fangemeinde seitdem mit feinster fantastischer Literatur versorgt, unter anderem mit "Die Stadt der träumenden Bücher", "Der Schrecksenmeister", "Das Labyrinth der träumenden Bücher" und nun mit seinem zehnten Zamonien-Roman "Die Insel der Tausend Leuchttürme" (Penguin, 656 Seiten, 42 Euro). Für die Sendung "druckfrisch" gab der Bestsellerautor dem Literaturkritiker Denis Scheck eines seiner seltenen Interviews - in Gestalt einer Marionette auf der Bühne der Augsburger Puppenkiste.