Herr Mortensen, Ihr Regiedebüt „Falling” wurde durch den Tod Ihrer Mutter inspiriert. Angeblich stand sie jetzt auch Pate für die weibliche Hauptfigur von „The Dead Don’t Hurt“. Betreiben Sie so etwas wie Trauerarbeit?
VIGGO MORTENSEN: Vielleicht. Ich versuche einfach zu reflektieren, wie sie war und wie sie mich beeinflusst hat. Es könnte ein Weg sein, um meine Erinnerung und meine Wertschätzung ihrer Person zu vertiefen. Selbst wenn das fiktive Geschichten sind, gibt es da sicherlich psychologische Zusammenhänge.
Welche Gemeinsamkeiten gibt es zwischen Ihrer Mutter und der weiblichen Heldin Ihres neuen Films, die sich im männerdominierten Wilden Westen zu behaupten versucht?
MORTENSEN: Auf jeden Fall Charakterstärke. Beide interessieren sich für andere Menschen. Beide waren bzw. sind sie gewöhnliche Frauen, die mit den gesellschaftlichen Schranken ihrer Zeit konfrontiert waren, die ihnen von den Männern auferlegt waren. Meine Mutter war Hausfrau und Mutter von drei Söhnen, die sie zwischen den 1950ern und 1970ern großzog. Innerhalb dieser Grenzen hat sie sich bewegt, so wie meine Protagonistin. Keine der beiden Frauen hat sie mit irgendeinem magischen Trick überwunden, aber jede hatte ihre eigene individuelle Denkweise, die sie sich von niemand nehmen ließ.
Viele Generationen sind mit männlichen Filmhelden groß geworden – wie Sie sie ja auch immer wieder gespielt haben. Wollten Sie dieser Tradition bewusst Ihre Protagonistin entgegensetzen?
MORTENSEN: Ich habe schon das Bedürfnis, Frauen im Mittelpunkt einer Geschichte zu sehen, aber bei „The Dead Don’t Hurt“ hatte ich keine ideologischen oder politischen Motive. Ich war einfach neugierig, wie sich so eine Frau im Umfeld eines Westerns behaupten würde. Ich wollte auch keine so überlebensgroße Figur wie Marlene Dietrich oder Claudia Cardinale, oder eine Heldin, die zur Waffe greift, um alle Bösewichte erschießt. Das sind nur Fantasiegestalten, ich wollte ganz gewöhnliche Frauen.
Durch welche Frauen sind Sie als Schauspieler geprägt worden?
MORTENSEN: Das fängt natürlich mit meiner Mutter an. Sie hat mich schon ins Kino mitgenommen, als ich erst drei oder vier war. Danach hat sie immer mit mir über die Geschichte des Films gesprochen, was für mich wichtig war. Schauspielerinnen, die einen bleibenden Eindruck bei mir hinterließen, waren Meryl Streep in „Sophies Entscheidung“ oder Liv Ullmann und Ingrid Bergman in „Herbstsonate“ oder Maria Falconetti in „Die Passion der Jungfrau von Orléans“. Ich habe mich gefragt: Wie sind sie imstande, diese emotionale Wirkung in mir hervorzurufen? Was muss dann dafür tun?
Es gibt den klassischen Satz, dass Männer Frauen nicht verstehen können. Ist der wahr?
MORTENSEN: Überhaupt nicht. Ebenso wenig wie der Satz, dass Frauen Männer nicht verstehen können. Das hört sich natürlich nett an, aber effektiv ist das nur ein Klischee. Wobei es durchaus Leute gibt, die das glauben. Bei „The Dead Don’t Hurt“ haben mir Journalistinnen gesagt, sie seien erstaunt, dass die Dialoge der Frau von einem Mann geschrieben wurden. Warum soll das nicht möglich sein? Warum sollen Frauen nicht über Männer schreiben? Warum sollen Frauen keine Filme über Männer drehen?
Sie heben auf den Wandel der Geschlechterbilder auch in „The Dead Don’t Hurt“ ab, wo die Traumfigur eines Ritters zu sehen ist, der teilweise ein männliches und teilweise ein weibliches Gesicht hat.
MORTENSEN: Darin zeigt sich ein natürlicher Prozess. Ich glaube, dass die Menschen einfach nicht immer die gleiche Darstellung sehen, sondern andere Blickwinkel kennenlernen wollen. In diesem Fall zeigen wir beispielsweise, wie es einer Frau ergeht, deren Mann in den Krieg zieht. Wir sehen nichts vom Schicksal des Mannes. Wir kennen zum Beispiel die klassischen Heldenporträts. Aber jeder, der sich heldenhaft verhält, kann auch Angst und Zweifel haben. Und das finde ich viel interessanter. Ich frage mich: Warum ändern die Menschen ihr Verhalten? Unter welchen Umständen denken sie anders? Kann es sein, dass eine Figur, die normalerweise vom Helden gerettet wird, sich selbst rettet? Allerdings gibt es das Problem, dass die Finanziers eines Films immer dieselben Geschichten haben wollen. Wenn du etwas Neues versuchst, dann musst du hartnäckig bleiben und mit einem geringeren Budget auskommen. Denn niemand steckt viel Geld in ein Projekt, das neue Wege beschreitet.
Ist es Ihnen im realen Leben passiert, dass Sie gerettet werden mussten?
MORTENSEN: Mir fällt jetzt nur ein Beispiel an, als ich sechs oder sieben war. Ich bin da eine Klippe hochgeklettert, während mein Vater gerade geschlafen hat. Und als ich oben angekommen war, schaute ich in die Tiefe und bekam es mit der Angst zu tun. Ich schrie, bis mein Vater aufwachte und mir wieder herunterhalf. Aber als Filmemacher brauche ich immer Hilfe. Ich kann so ein Projekt nicht alleine stemmen. Ich schaffe das nur mit der Unterstützung meiner Mitstreiter, und das bedeutet, dass ich die ganze Zeit über für ihre Vorschläge aufgeschlossen sein muss. Das macht auch mehr Spaß, und der Film wird besser. Das ist eine Lektion, die ich von den guten Regisseuren gelernt habe, mit denen ich arbeiten konnte. Es kommt insgesamt weniger auf Heldentum an, du musst einfach hartnäckig bleiben. Mach einfach weiter. Und das ist das, was ich auch im Film zeige.
Sie haben vom Einfluss Ihrer Mutter gesprochen. Was haben Sie als Vater Ihrem inzwischen 36-jährigen Sohn vermittelt, den Sie alleine großgezogen haben?
MORTENSEN: Wahrscheinlich kann er das besser ausdrücken als ich. Aber ich glaube, ich habe ihm einfach zugehört und mich für das interessiert, was er gemacht hat. Zugegebenermaßen machte ich mir ein bisschen Sorgen, als er die Uni beendete und noch keine Entscheidung für seinen späteren Beruf getroffen hatte. Ich sagte ihm: „Die Hauptsache ist, dass du etwas machst. Du musst aktiv bleiben und immer etwas Neues dazu lernen. Stelle Fragen. Das Leben ist kurz. Lerne so viel, wie du kannst. Aber richte dich nicht nach dem, was andere tun. Mache dein eigenes Ding.“
Sie sprachen die Begrenztheit unserer Lebensspanne an – die auch im Zentrum Ihrer beiden Filme steht. Haben Sie damit Ihren Frieden gemacht?
MORTENSEN: Nein, keineswegs. Ich bin absolut nicht damit einverstanden. Als ich ein kleiner Junge war, hat mir meine Mutter erklärt, dass ich eines Tages sterben werde – so wie die Hunde, Pferde und die alten Menschen in unserer Familie. Und der Gedanke hat mir nicht gefallen. Ich habe mich nicht vor dem Tod gefürchtet, sondern dachte mir: So ein Mist. Ich will doch noch so viele Dinge tun. Warum gibt’s dafür nur eine begrenzte Zeitspanne? Und so empfinde ich immer noch.
Wie kommen Sie dann mit diesem Bewusstsein klar?
MORTENSEN: Nachdem ich keine andere Wahl habe, versuche ich das Meiste aus diesem Leben herauszuholen. Ich gebe mich auch nicht geschlagen, indem ich Drogen nehme oder passiv auf der Couch herumsitze und auf das Ende warte. Ich bin kein Mensch, der aufgibt. Natürlich habe ich Phasen, wo ich depressiv bin und mich wie ein Besiegter fühle – wenn die Dinge nicht so laufen, wie ich sie mir vorstelle oder wenn jemand stirbt, den ich sehr vermisse. Aber was soll ich tun? Letztlich schaltet sich dann wieder meine Hartnäckigkeit ein und ich mache weiter. Philosophisch gesehen könnte man sagen, das bringt alles nichts. Warum putze ich mir die Zähne? Warum halte ich an der roten Ampel, wenn ich sowieso sterbe? Klar, so kann man denken, aber ich gebe nicht auf. Nicht weil ich mein Schicksal ignoriere, sondern weil ich die Haltung habe: Solange ich hier auf Erden bin, möchte ich etwas erreichen.
Sie haben zahlreiche Figuren verkörpert, die sich vom Tod nicht einschüchtern lassen und weitermachen. Es gibt das Gerücht, dass Sie eine davon wieder verkörpern: Kann es sein, dass Sie in den geplanten neuen „Herr der Ringe“-Filmen wieder den Aragorn spielen?
MORTENSEN: Ich habe keine Ahnung. Bis jetzt habe ich mich mit den Filmemachern noch nicht dazu ausgetauscht. Vielleicht wird es Gespräche geben, wenn ich die Promotion für diesen Film beende. Aber noch habe ich kein Drehbuch gesehen. Und man müsste mich wohl auch technisch verjüngen.
Diese Rolle wird vermutlich in Ihrem Schaffen immer einen besonderen Platz einnehmen?
MORTENSEN: Selbstverständlich. Es war eine großartige Erfahrung. Ich liebe das gesamte Tolkien-Universum, und zwar nicht nur wegen Tolkien, sondern weil er Dinge aus den keltischen und nordischen Mythologien entliehen hat, für die ich mich immer interessiert habe. Aber davon abgesehen bleiben Gedichte schreiben und Regieführen Teil meines Schaffens. Streng genommen sind sie für mich wichtiger denn je.
Zur Person: Viggo Mortensen wurde mit seiner Rolle als „Aragorn“ in der „Herr der Ringe“-Trilogie zum Superstar. In seiner Kindheit kam der US-Amerikaner viel herum, die Familie lebte in Argentinien, Venezuela, Dänemark und Schweden. Er studierte Politik und Spanisch, schlug sich mit Gelegenheitsjobs durch und ließ sich in New York zum Schauspieler ausbilden. Nach mehreren Auftritten vor der Kamera spielte er ab 2001 in den „Herr der Ringe“-Filmen mit und wurde zum gefeierten Weltstar. Der 65-Jährige ist nicht nur Schauspieler, sondern auch Regisseur, Lyriker und Musiker, er hat mehrere Gedichtbände und Jazz-Alben veröffentlicht. Mortensen spricht mehrere Sprachen und ist begeisterter Westernreiter. Die kleine Narbe über seiner Oberlippe zog er sich während einer Halloweenparty an einem Stacheldrahtzaun zu. Mortensen ist mit der spanischen Schauspielerin Ariadna Gil liiert und lebt in Madrid. Jetzt ist er im Western „The Dead Don’t Hurt“ zu sehen, bei dem er auch Regie führte.
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