Nina, Ihr Album heißt nicht nur „Unity“, also „Einheit“, Sie singen darauf auch viel über Zusammenhalt und Solidarität.
Nina Hagen: Diese Werte sind doch die Grundlage von allem! Gott, die Liebe, das Leben jetzt und das Leben in der kommenden Dimension, nachdem man die sterbliche Hülle verlassen hat – darum geht es doch beim Menschsein. Ich verstehe unter „Unity“ die Vereinigung im Sinne des Christentums, die in Gottes Liebe gründet.
Wer hat eigentlich Ihre Liebe zum Christentum entfacht?
Hagen: Einer der ersten Christen, der mich tief beeindruckt und begeistert hat, war Heinrich Böll. Ich habe meinen Freund Heinrich bei Wolf Biermann im Wohnzimmer kennengelernt, er war ein ganz toller Mensch. Ich war tief beeindruckt, wie er mit mir, damals fast noch ein Kind, auf Augenhöhe über Gott und die Welt geredet hat.
Sie haben sich auch in Ihrer Kunst immer wieder mit dem Glauben befasst, haben 2010 das Gospelalbum „Personal Jesus“ veröffentlicht und haben bei Konzerten in den vergangenen Jahren gern vertonte Gedichte von Bertolt Brecht aufgeführt, die alle etwas mit dem Christsein zu tun haben.
Hagen: Ich fand es superspannend, dass der junge Brecht schon mit 15 als Schüler in Augsburg sein erstes Theaterstück mit dem Titel „Die Bibel“ geschrieben hat. Die Bibel war sein Lieblingsbuch. Und ich habe von klein auf für Brecht geschwärmt, er war gewissermaßen meine Grundlage. Schon mit elf Jahren war ich regelmäßiger Gast in seinem Theater Berliner Ensemble in Ostberlin, wo ich mir den ganzen Brecht von vorne bis hinten reingezogen habe, „Mutter Courage“, „Die Dreigroschenoper“, ich liebe und verehre diese Stücke. Nicht zuletzt wegen Bertolt Brecht ist aus mir die Künstlerin geworden, die ich bin.
Die meisten Leute da draußen halten Sie eher für stark vom Punk beeinflusst.
Hagen: Ja, und das ist nicht richtig. Ich bin kein Punk. In diese Schublade werde ich immer gesteckt, aber das ist die völlig falsche Schublade. Wenn, dann will ich in die Schublade mit Bertolt Brecht und Kurt Weill rein. Die beiden, dazu Böll und Biermann, diese Menschen haben mich als Teenager geprägt, das sind alles lauter Freiheitskämpfer.
Wie steht es denn aus Ihrer Sicht im Jahr 2022 um die Freiheit?
Hagen: Boah, noch so eine große Frage. Sie ist nicht selbstverständlich, und wir müssen etwas tun, damit sie uns erhalten bleibt. Unser großer Luxus ist, dass wir uns informieren können. Das sollten wir ausnutzen. Nichts ist so schmerzhaft wie Unwissenheit, denn aus ihr folgt die Durcheinanderwerferei von Wahrheiten, Halbwahrheiten und Unwahrheiten. Fake News bedrohen die Freiheit. Nichts ist schöner, als sich auf reale Fakten stützen zu können.
Machen Ihnen da die sogenannten sozialen Medien Sorgen?
Hagen: Dort sind sehr viele aggressive Menschen unterwegs, die andere Leute beschimpfen, anstatt friedlich miteinander zu diskutieren. Schrecklich finde ich das. Auch ich werde im Netz angefeindet und in Töpfe geworfen, in die ich nicht reingehöre. Man wirft mir vor, transphob zu sein, weil ich mich für eine Selbsthilfeorganisation von Frauen engagiere, die nach oder während einer Transformation ins männliche Geschlecht feststellen, dass dieser Weg für sie nicht der richtige ist, und dann zurückwollen in ihre ursprüngliche Identität. Also fürs Protokoll: Ich bin null transphob, meine liebste Freundin ist ein transsexueller Mensch, ich setze mich zeit meines Lebens für die Anliegen und Rechte der LGBTQ-Community ein. Manchmal habe ich den Eindruck, ich bin nur noch auf dieser Welt, um mich zu verteidigen und gegen Vorwürfe zu wehren.
Sie sind Opfer von mehreren Fake-Konten im Netz geworden. Leute haben in Ihrem Namen Querdenkerquatsch gepostet. Wie haben Sie sich dabei gefühlt?
Hagen: Ich habe meine Anwälte angerufen und versucht, mit rechtsstaatlichen Mitteln dafür zu sorgen, dass das aufhört. Ich lasse mich nicht vereinnahmen. Schon gar nicht kann man einfach meine Identität klauen. Inzwischen beteilige ich mich kaum noch an den verbal verletzenden Schlagabtauschen im Internet. Ich komme nicht mehr damit hinterher, alles zu schlichten. Ich will doch einfach nur Freundschaft, Liebe und Musik in die Welt tragen und keine Kontroversen befeuern.
Wie kam es zu dem Plattenvertrag mit Grönland Records, der Firma von Herbert Grönemeyer?
Hagen: Ich bin jahrelang falsch beraten und hintergangen worden von einem Manager, dem ich per Vertrag die Macht über mein künstlerisches Wirken gegeben hatte. Von diesem Management ist mir übel mitgespielt worden, ich hatte lange Zeit nicht einmal meine eigene EC-Karte. Seit ich mich von diesem bösen, mir nicht guttuenden Menschen getrennt habe, arbeite ich mit meinem guten alten Freund Stefan Plank zusammen. Stefan ist der Sohn von Conny Plank, der einer der revolutionärsten deutschen Rockmusikproduzenten war, unter anderem mit Kraftwerk und den Eurythmics arbeitete und leider viel zu früh von uns gegangen ist. Stefan kenne ich, seit er ein Junge war, ich war befreundet mit seiner Mutter Christa Fast und habe in Connys Studio ein paar meiner Alben aufgenommen. Ich bin total froh, dass ich mit Stefan zusammen ein Künstlermanagement-Team auf Augenhöhe bilde. Wir sind zusammen zu Grönland Records gegangen, und dort bin ich quasi als altes Zirkuspferd für gut genug betrachtet worden, um mit mir noch mal eine neue Zirkusnummer einzustudieren. Und jetzt haben wir „Unity“.
Was löst der Ukraine-Krieg in Ihnen aus?
Hagen: Seit ewigen Zeiten rufe ich zu friedlichen, diplomatischen, menschlichen Diskursen auf. Heutzutage würde man mich wohl wieder beschimpfen als Schwerter-zu-Pflugscharen-Romantikerin. Eine Freundin von mir hat neulich so ein lustiges Wort gesagt, sie meinte, wir sind „Dreckspazifistinnen“. Leute, die sich für Frieden und für Friedensverhandlungen einsetzen, die werden gerade überhaupt nicht ernst genommen. Diese Welt hat nicht viel übrig für Menschen, die keinen Bock auf Waffen und auf Rüstung haben.
Deutschland hatte mit allem Militärischen ja auch viele Jahre lang nur wenig am Hut. Das hat sich jetzt durch die aktuellen Umstände notgedrungen verändert.
Hagen: Ich bin schrecklich enttäuscht darüber, wie sich die ganze Weltpolitik wegentwickelt hat von einem friedlichen Miteinander. Mein guter Freund Dennis Kucinich, der zweimal in den USA um die Präsidentschaft gekämpft hat, in Cleveland/ Ohio der jüngste Bürgermeister in der Geschichte der USA war und jahrzehntelang als Kongressmitglied für die Demokraten im Senat saß, ist auf gleich drei der neuen Songs vertreten. Bei „16 Tons“ habe ich Worte von ihm gesampelt, und bei „Atomwaffensperrvertrag“ ist er mit Ausschnitten aus einer Rede auch mit dabei. Dennis jedenfalls hat sich immer für den Frieden eingesetzt. Es erfüllt mich mit Glück, dass es Menschen wie Dennis Kucinich gibt, die sich nicht verbiegen lassen und die sich für friedliche und diplomatische Mittel einsetzen, um Menschenleben zu schützen. In einer Zeit, in der alle Knöpfe in Richtung Eskalation gedreht werden und sich die meisten in der Politik von der Diplomatie abwenden, sind konstruktiv denkende und handelnde Menschen wie Dennis wichtiger denn je.
Behalten Sie trotz allem Ihre Zuversicht?
Hagen: Als Christin kann ich meine Zuversicht gar nicht verlieren. Ich glaube volles Rohr an die Liebe. Gott ist Licht ohne jede Finsternis, er ist Quell allen Lebens. Wenn wir uns nur einfach gegenseitig lieb haben könnten, dann werden sich unsere versteinerten Herzen erweichen.
Freuen Sie sich auf Weihnachten?
Hagen: Ich freue mich vor allem darüber, dass ich am Leben bin, dass es mich gibt, dass es meine Kinder gibt, dass es mein Enkelkind gibt, dass es den lieben Gott gibt und dass ich anderen Menschen etwas Gutes tun kann. Auf Weihnachten freue ich mich auch, vor allem auf die Ruhe und das Friedliche an den Tagen.
Über Angela Merkel müssen wir noch kurz sprechen. Was haben Sie gedacht, als die Ihren alten DDR-Hit „Du hast den Farbfilm vergessen“ für den Großen Zapfenstreich zum Abschied aus dem Kanzleramt ausgesucht hat?
Hagen: Ich war überrascht – so wie die meisten anderen Menschen auch. Aber es ist natürlich ihre Sache, welche Songs sie für ihr Leben als schön und wichtig und wegbegleitend ansieht.
Sie hatten nur einmal persönlich mit Merkel zu tun, 1992 bei einem Auftritt in „Talk im Turm“. Die Diskussion drehte sich um Therapiemöglichkeiten von Suchtkranken. Sie hatten unterschiedliche Ansichten, und man kann es nicht anders sagen: Sie sind ausfällig geworden.
Hagen: Ich bekam von ihr auf meine Fragen keine Antworten, sondern nur so einen teilnahmslosen Blick. Dann bin ich ausgeflippt und nach Hause gegangen. Heute tut es mir leid, dass ich geschrien habe und nicht sachlich geblieben bin. Meine Geduld war einfach am Ende.
Sind Sie mit den Jahren versöhnlicher geworden?
Hagen: Christin zu sein ist eine Lebensschule. Man wird nie ein perfekter Mensch sein, aber man übt sich darin, zu schlichten statt zu richten. Es gibt Leute in meinem Alter, die machen andere immer noch lautstark und cholerisch nieder, sie maßregeln und demütigen, und es ist furchtbar, mit anzusehen, wie Menschen anderen Menschen Angst einjagen. Dass ich so ein Mensch nicht mehr bin, verdanke ich meinem guten Ratgeber, der Bibel. Ich habe gelernt, Böses nicht mit Bösem, sondern immer nur mit Gutem zu beantworten.