Herr Sloterdijk, Sie haben sich – in Umkehrung des bekannten Wortes Max Webers, er sei, "religiös unmusikalisch" – kürzlich als "religiös musikalisch" bezeichnet. Bekennend sind sie aus früheren Jahren im orangen Gewand der Buddhisten in Erinnerung. Können Sie etwas mit Weihnachten anfangen? Feiern Sie Heiligabend?
Peter Sloterdijk: Ja, im Rahmen einer familiären Tradition. Meine Frau kommt aus einem protestantischen Haushalt. Da ist es üblich, ein Weihnachtsfest zu organisieren, insbesondere für Kinder und Großeltern, doch auch ein wenig in eigener Sache, und an diesem Brauch ändert sich mit den Jahren wenig. Ich habe für das Brauchtümliche weniger Sinn, aber es gibt nichts in mir, was sich dagegen sträubt.
Im eigentlichen Sinne religiös ist der Anlass also für Sie nicht?
Sloterdijk: Nicht als Anlass im engeren rituellen Bezug. Natürlich denke ich darüber nach, was eine Aussage wie die, dass Gott Mensch wurde, zu bedeuten hat, und warum das am besten zur Zeit der Wintersonnwende geschieht. Der moderne Mensch neigt eher dazu, wissen zu wollen, wie es zugegangen sein muss, damit ein Affe Mensch werden konnte. In der Ideengeschichte der Menschheit wurde die Menschwerdung sowohl von oben her wie von unten her gedacht. Bei diesem Befund ist es im Grunde geblieben, nur dass die Mehrheit der Heutigen das Menschwerden als evolutionäres Bottom-Up-Drama versteht. Das menschliche Phänomen bleibt aber so unwahrscheinlich, dass eine Erklärung von oben gar nicht so abwegig ist.
In Ihrem aktuellen Buch, "Den Himmel zum Sprechen bringen", stellen Sie die Religion im menschheitsgeschichtlichen Panorama als ein Werk der Poesie dar. Lebt im Weihnachtsfest etwas Poesieartiges fort?
Sloterdijk: Unbedingt. Die westliche Zivilisation hat mit ihrem Kult des Kindes eine starke dichterische Aufladung in das Weihnachtsfest gelegt. Es gibt in unserer kulturellen Grammatik so etwas wie eine Pädolatrie, eine Kindesanbetung, die vor allem mit dem Neugeborenen assoziiert ist. Diese Empfindungsweise reicht über die Grenzen des Christentums hinaus, doch ist das Erstaunliche am Faktum des menschlichen Lebens in der alteuropäischen Überlieferung mit dem Mythos von der Geburt des göttlichen Kindes besonders eng verbunden.
Also das Wundern und das Wunder der Geburt als solcher?
Sloterdijk: Verwunderung ist berechtigt, zumal bei Homo sapiens das Kind mit einem schweren Makel zur Welt kommt, dem der vollkommenen Unselbstständigkeit. Das Kleinkind existiert als das schlechthin an andere ausgelieferte Wesen, das nur im Brutkasten der mütterlichen Fürsorge überleben kann. Daher ist die menschliche Geburt immer ein Hinweis auf die Tatsache, dass es den Mythos des Helden nicht gäbe, wenn nicht etwas Älteres existierte, das ihm vorangegangen sein muss. Der Mythos des Helden ist ein Selbstständigkeitsmythos. Der Mythos des Kindes betont hingegen, dass das Leben, auch das des späteren Helden, in der Unselbstständigkeit beginnt, ausgesetzt in die Wildnis, in den Nil, auf der Flucht.
Selbst beim Heiland …
Sloterdijk: Deswegen hat die surrealistische Kunst einen wichtigen Punkt getroffen, als Max Ernst 1926 sein bekanntes Gemälde "Die Jungfrau züchtigt das Jesuskind vor drei Zeugen" präsentierte. Auf ihm versohlt Maria ihren nackten Sprössling, wobei dessen Heiligenschein zu Boden rollt. Das erinnert daran, dass auch religionsintern ein ständiger Wettkampf zwischen zwei mythologischen Systemen stattfindet, dem der Selbstständigkeit und dem der Unselbstständigkeit. Die Kreuzigung beginnt früher als vermutet, schon mit der Erziehung durch die resolute Frau Mutter. Die mittelalterlichen Katholiken wussten schon, warum sie die Dyade aus Mutter und Kind anbeteten.
Die Poesie, als die Sie die Religion beschreiben, ist nicht mit einer einfachen Erfindung zu verwechseln. Und auch nicht damit, wie es gerne psychologisierend heißt, dass der Mensch seine Bedürfnisse und Bedrängnisse in einen Himmel projiziert. Vielmehr beschreiben Sie, wie der Mensch als das sprechende Wesen mit seinen Ahnungen und Ängsten von Beginn an in seinen Dichtungen Götter thematisiert. Gehört die Religion also wesentlich zu uns als Wesen, die sich ihrer Existenz sprachlich vergewissern?
Sloterdijk: Das Poetische an den Göttern zeigte sich, sobald sie als die ursprünglichen Akteure konzipiert wurden, das heißt als handlungsmächtige Wesen, die sich etwas vornehmen und bewirken konnten. Wo ein Gott ist, kann eine Welt nicht weit sein, und wo man eine Welt sieht, liegt es nahe, auf Götter zu schließen. In der Mythologie der Selbstständigkeit sind Götter und Helden vor den Menschen da – sie können etwas tun und bewirken, indes die Menschen zunächst von der Empfindung beherrscht sind, dass sie wenig zuwege bringen. Den Göttern und ihren menschlichen Favoriten sprach man Handlungsfähigkeit zu: Sie lenkten das Schicksal der Menschen und setzten Vorbilder. Und erst mit der Zeit wird die Handlungsfähigkeit von der Götter- und Heroenwelt in die Menschenwelt herübergezogen. Dies ist gleichsam die Ur-Operation des dichterischen Verhaltens: dass man Taten statuiert, wo vorher nur Ereignisse und "Erleidnisse" zu notieren waren.
Bis dahin blieb einem nur die Ansprechbarkeit des Himmels, Götter, an die man ein Gebet richten konnte …
Sloterdijk: Ansprechbar ist der Himmel, weil dort eine Tatmächtigkeit angesammelt ist, von der man für die Menschenwelt etwas abzweigen will. Die ursprüngliche Poesie besteht in der Ausweitung der Handlungszone. Durch die Akkumulation der Tatkraft auf der Menschenseite zieht die theopoetische Dichtung den Himmel auf die Erde.
Ganz zum Ende Ihres Buches schreiben Sie, dass diese Existenz- und Götter-Dichtungen längst nicht auserzählt sind. Was nun die Tatkraft betrifft: Sind wir nicht genau am anderen Ende angekommen? Die Propheten der Künstlichen Intelligenz sprechen ja konkret davon, dass der Mensch die neuen Götter selbst schafft und durch Verschmelzung mit ihnen selber unsterblich werden wird …
Sloterdijk: Tatsächlich sind Ingenieure heute imstande, Teile menschlichen Verhaltens so genau zu beschreiben, dass daraus Anleitungen für Computerprogramme werden. Sie haben gelernt, ihre Handlungen exakt in Einzelschritte zu zerlegen, bis es gelungen ist, Abbildungen des Handelns in Maschinen zu projizieren. Dieser Zuwachs an Können bedeutet paradoxerweise für die bloßen User von Computern einen Schritt in die Unselbstständigkeit. Der Philosoph Gotthard Günther hat schon vor 70 Jahren in seiner Theorie der Kybernetik davon gesprochen, dass menschliche Subjektivität in die Sphäre des Maschinenhaften "abfließt". Die Metapher vom Abfließen beunruhigt die Menschen inzwischen mehr und mehr. Man bekommt das Gefühl, auszubluten, während immer mehr Tatmacht auf die Maschinenseite überwechselt. Bis am Ende ein blutleerer Mensch einer aufgerüsteten Zone zweiter Maschinen gegenübersteht, die das Menschliche parodieren.
Aber sind diese Menschmaschinengötter nicht genauso etwas Religiöses?
Sloterdijk: Das lässt sich für mich nicht erkennen. Das religiöse Empfinden war ja immer verbunden mit einer Bewunderung der Überlegenheit des göttlichen Pols. Ob dieses Gefühl sich jemals in Bezug auf das Maschinenwesen wiederholen wird? Ich kann das nicht beurteilen, da mir die Fähigkeit zur Mystifikation der Maschinen fehlt.
Was wir derweil mit der Religion in der Gegenwart erleben, ist Ihrer Ansicht nach eine historisch völlig neue Situation. Sie schreiben: "Zum ersten Mal ist die Religion bzw. die Religiosität frei". Warum das?
Sloterdijk: Die ganze bisherige Geschichte der Religionen ist an Gemeinschaftsbildungen gebunden. Hierin sind sich die Religionshistoriker, Soziologen und Theologen einig. Religion war nie eine Privatangelegenheit, und sie wurde es auch in der Moderne nicht wirklich, auch wenn sie immer privater, intimer und literarischer wurde. Als man nach dem Dreißigjährigen Krieg in Europa die Religionsfreiheit zugestand, in verschiedenen Dialekten, war ja immer gemeint, gläubige Menschen sollten die Freiheit behalten, sich zu konfessionellen Kulten zu versammeln. Es war zunächst nicht die Freiheit des stillen Kämmerleins gemeint, fürs Erste war der Gemeinsamkeitsaspekt führend. Darum blieb die Religion letztlich eine Angelegenheit des Ritus. Der Ritus war die eigentliche Verfassung der Gemeinschaft, und die Vergemeinschaftung lief über religiöse Rituale. Ich behaupte nun, dass die Religion heute zum ersten Mal in der Geschichte von dieser Funktion entlastet ist. Alle bisherigen religiösen Funktionen – von der Taufe der Kinder bis zur Beerdigung der Alten und von der Einweihung von Gebäuden bis hin zur Eheschließung und zu den Amtseiden – sind in der modernen Gesellschaft durch weltliche Ersatzrituale abgelöst worden. Es gibt eigentlich nichts mehr, was die Religion für sich alleine hat, nicht einmal die Totenfeier. Das heißt aber, die Religion ist frei geworden: Sie braucht zu nichts mehr gut zu sein, sie muss nicht mehr funktionieren, sie hat keinen gesellschaftlichen Funktionsauftrag, der nicht auch anders wahrgenommen werden könnte. Und diese erhabene Sinnlosigkeit und Undienlichkeit des religiösen Empfindens ist der Grund ihrer Freiheit.
Ist das eine gute Nachricht?
Sloterdijk: Im Prinzip ja. Wo man sie gelten lässt, wird das religiöse Empfinden entfanatisiert. Es ist abgelöst von der Gemeinschaftsbildung; es steht damit auf einer Stufe mit klassischer Musik, die schon länger das Privileg genießt, zu nichts gut sein zu müssen. Sie dürfen Beethovens Fünfte parodieren, soviel sie wollen, niemand wird Sie unter dem Vorwand umbringen, seine musikalischen Gefühle seien verletzt worden. Wo Religion weiterhin fanatisch auftritt, ist sie unfrei und fungiert immer noch als Prothese, an der ein schwaches Ego im Verein mit anderen Schwachen durch die Welt humpelt.
Sie müsste also letztlich ganz nutzlos sein. Gleichzeitig zitieren Sie Nietzsche: "Ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum." Wenn die Götterdichtung immer schon zum Menschsein gehört hat: Was heißt das für Atheisten? Widerspricht Gottlosigkeit der Natur des Menschen? Lässt sich so eigentlich gar nicht leben?
Sloterdijk: Hier muss man die Begriffe abwägen. Das Phänomen, dass Menschen sich von etwas Höherem angesprochen fühlen, das sie selber artikulieren, ist weit gespannt. Der Monotheismus bildet lediglich eine Provinz des Transzendenten. Man soll nicht vergessen: "Gottlosigkeit" galt bis vor kurzem als Hochverrat an der Gemeinschaft. Atheisten wurden als Asoziale verdächtigt. In einigen islamischen Ländern wird offene Ungläubigkeit oder Apostasie noch immer mit der Todesstrafe bedroht. Doch nichts ist so absurd wie der Zwang, einer Bekenntnisgruppe anzugehören. Dass dies begriffen wurde, ist der Vorzug des Lebens unter modernen Verfassungen.
Aber wenn die Religion funktionslos geworden ist, sind doch auch Institutionen wie die Kirchen überflüssig?
Sloterdijk: Nicht alles, was überflüssig ist, muss abgeschafft werden. Das Gefühl einer kosmologischen Verortung der Existenz zwischen Anfang und Ende braucht in der Moderne keine institutionelle Grundlage. Es verlangt nach Sprache, nach Ausdrucksmitteln, aber nicht unbedingt nach Kirche und Kultgemeinschaft. Andererseits sind Gemeinschaftsbildungen um ein starkes Symbol völlig legitim, solange sie nicht herrschen wollen.
Ist der säkularisierte Staat tatsächlich schon in der Lage, alles, was die Kirche noch leistet, auch in karitativer und sozialer Hinsicht abzulösen?
Sloterdijk: Faktisch hat er das schon seit langem getan, indem er sich zum Sozialstaat wandelte. Bei uns anfangs auch unter dem Druck der katholischen Partei im Reichstag nach 1880. Der säkulare Staat hindert kirchliche oder religiöse Institutionen aber in keiner Weise daran, weiterhin auf ihren Feldern tätig zu sein. Nicht alles, was Seelsorge war, ist in Psychotherapie überführt worden. Nicht alles, was Caritas war, ist in den Sozialstaat aufgelöst worden. Aber die Tendenz geht ganz eindeutig dorthin. Der Staat hat durchaus ein eigenes Interesse daran, die Kompetenz der Religionen in diesen Bereichen zu erhalten. In Deutschland ist festzustellen, dass die Kirchen, nach den öffentlichen Diensten, die größten Arbeitgeber geblieben sind. Sie bilden einen unsichtbaren Ersten Stand.
Aber nur, wenn sie frei von Sozialarbeit ist, kommt die Religion zu Ihrem Kern?
Sloterdijk: Richtig, weil das ihre Zurückführung auf die ursprüngliche Regung beinhaltet: auf das Staunen des Lebens angesichts seiner eigenen Existenz. Mehr kann die Religion nicht verlangen. Sie sollte es auch nicht. Sie besiedelt die Stelle, wo Selbstgefühl in Mitgefühl übergeht. Doch sie hat Jahrtausende lang den Bogen überspannt und sich als metaphysische Hure der Macht wichtig gemacht. Es ist eine Wohltat der Moderne, dass die Überspannungen zurückgebaut wurden.
Glaubensgemeinschaften kann es dann nur noch in Form von Kommunikationsgemeinschaften geben, oder?
Sloterdijk: Seit dem 16. und 17. Jahrhundert wandeln sich die Konfessionsgemeinschaften Europas in das, was man ein Publikum nennt. Die Entstehung einer Öffentlichkeit zeigt, dass eine Gesellschaft sich auf den Weg in die Moderne gemacht hat. Freiheit schließt Abstand zu den Zwangsritualen ein, die allen traditionellen Lebensformen innewohnten.
Ist es dann aber nicht auch ein Widerspruch in sich, wenn es in einer modernen Gesellschaft wie der unseren noch Parteien wie die CSU oder CDU gibt, die den Religionsbezug im Namen tragen?
Sloterdijk: De facto wird die "christliche Demokratie" in unseren Breitengraden zunehmend anachronistisch. Sie war in Deutschland nach 1945 als moralisches Kurprogramm plausibel und mehrheitsfähig. Doch sie hatte bereits im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts unter dem Namen Zentrum ziemlich erfolgreich als Sprachrohr des politischen Katholizismus fungiert. Sie trug den Widerstand des Südens – diesseits und jenseits der Alpen – gegen den Primat des protestantischen Nordens ins Berliner Parlament. Während der Weimarer Republik spielte sie vorübergehend eine staatstragende Rolle. In Italien, dem Mutterland der democrazia cristiana, ist sie nach der Offenlegung ihrer Korruptheit implodiert und löste sich ab 1993 in Splitterparteien auf.
Früher waren die Religionen für Gesellschaften nützlich, um einen Zusammenhalt, ein Wir zu bilden. Was an ihre Stelle treten könnte, nennen Sie "informiert Empathie". Was meint das?
Sloterdijk: Größere politisch formatierte Kultur- oder Staatsgemeinschaften sollten ja ein Minimum an Kooperationsfähigkeit entwickeln, und diese hängt letzten Endes an der Fähigkeit einer Population, gemeinsame Empfindungen in Bezug auf gemeinsame Problemlagen zu entwickeln. Das kann man heute angesichts unserer Pandemiesorgen gut erkennen. Informierte Empathie bedeutet da, dass Gesellschaften in gewissen Grenzen auch Einfühlungs- und Diskussionsgemeinschaften sein sollen. Deswegen sind Massenmedien vonnöten, auch Literaturen und andere mediale Instrumente, die so etwas wie gemeinsame Sensibilisierungen zu erzeugen helfen. Öffentlich sichtbare Religion kann in solchen Zusammenhängen eine plausible Rolle spielen.
Und wie beurteilen Sie den aktuellen Zustand dieser "informierten Empathie" als Grundlage des Zusammenhalts in unserer Gesellschaft, etwa am Beispiel der Pandemie?
Sloterdijk: Wir sehen, wie die informierte Empathie an Grenzen stößt. In Deutschland ist es eine sperrige Minderheit, die die Empathiegemeinschaft verweigert. In den USA hat sich eine fast bürgerkriegsartige Spaltung der Gesellschaft vollzogen – sie trennt Leute, die ihre Betroffenheit von der Pandemie-Sorge zugeben, und solche, die ihre Betroffenheit leugnen. Das spricht dafür, dass die Konstruktion von Gesellschaften als emotional minimal-gleichgestimmte Empfindungsräume immer prekärer wird. Man dürfte sich nicht wundern, wenn die so zerklüfteten Gesellschaften eines Tages psychopolitisch bankrott machen.
Auch dann kann Religion nicht helfen?
Sloterdijk: Sie würde nach allem, was wir wissen, Bürgerkriegspartei werden und in historisch bekannte Verirrungen zurückfallen.
Was kann dann helfen?
Sloterdijk: Es müsste eine übergeordnete Instanz jenseits der streitenden Parteien sichtbar werden. Die Rede von den Menschenrechten leistet das offenkundig nicht, denn bis auf weiteres lassen sie sich nicht effektiv universalisieren. Die Vorsprecher vieler "people of colour" sehen in ihnen eine kolonialistische List, und die chinesischen Führer eine Verführung zur individualistischen Auflösung.
Vor Jahren haben Sie gesagt, dass unsere Systeme im Grunde nur noch das blinde Vorwärtsstürzen kennen. Das Einzige, was helfen könnte, wäre ein Innehalten: Anhalten, Um-sich-Blicken, Neuorientierung. Könnte die Corona-Krise mit ihren erzwungenen Stillständen nicht diese zuvor utopisch scheinende Zäsur bedeuten?
Sloterdijk: Der neue Lockdown beschert den Menschen im Land eine Art von unfreiwilliger Meditation. Der Staat ist jedoch kein beglaubigter Zen-Meister. Man wartet ungeduldig den Anfang des neuen Jahrs ab, um wieder loszulegen. Alle Welt fordert die Rückkehr zur Normalität. In wenigen Tagen fängt das Rennen um die Impfstoffe an. Die Geimpften werden ungeduldig sein, in die Startpositionen ihrer gewohnten Tätigkeiten zurückzukehren. Man sieht nicht, woher das Gebot des Innehaltens kommen könnte.
Und woher neue Götter kommen könnten, sieht man auch nicht?
Sloterdijk: Kämen die neuen Götter aus Schornsteinen, dann wären sie schon da. Man kann aus C02 aber keine Gottheit machen. Eher aus der atmosphärischen Hülle des Planeten. Die will nicht liturgisch verehrt sein, sie muss nur mit Sorgfalt respektiert werden. Vielleicht wird die kollektive Klimasensibilität die letzte Weltreligion sein, überdies die erste, die alle erreicht. Ihren Häretikern darf man schwere Zeiten vorhersagen.
Zur Person
Peter Sloterdijk, geboren 1947 in Karlsruhe, ist einer der renommiertesten Denker der Gegenwart – und ungeheuer produktiv. Praktisch jedes Jahr erscheint ein neues Buch des bis zu seiner Emeritierung in seiner Heimat lehrenden Philosophieprofessors, darunter systematische Werke, aber zuletzt auch die Denktagebücher "Zeilen und Tage". Sein zweibändiges Werk "Kritik der zynischen Vernunft" von 1983 ist mit über 150 000 verkauften Exemplaren eines der erfolgreichsten philosophischen Werke des 20. Jahrhunderts – Publikumsschriften wie die eines Richard David Precht nicht eingerechnet. Mit ihm wie mit vielen anderen – vor allem auch der andere deutsche Großdenker der Gegenwart, Jürgen Habermas – lieferte sich Sloterdijk immer wieder viel beachtete Debatten zu aktuellen Themen, sei es in der Flüchtlingskrise, zur Steuer- oder zur Europapolitik. Begleitet von Rüdiger Safranski moderierte Peter Sloterdijk von 2002 bis 2012 auch "Das philosophische Quartett" im ZDF. Er lebt in vierter Ehe mit der Journalistin Beatrice Sloterdijk in Berlin und der Provence. Sein aktuelles Buch heißt "Den Himmel zum Sprechen bringen" (Suhrkamp, 352 Seiten, 26 Euro). (ws)
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