Herr Zuchtriegel, wenn in unseren mittelalterlichen Innenstädten gebaut wird und das Wort Archäologie fällt, dann stöhnen Planer und Bauherren gelegentlich mal auf. Können Sie das verstehen?
GABRIEL ZUCHTRIEGEL : Ja, auf jeden Fall. Ich glaube, es ist unsere Aufgabe als Archäologen, uns mit diesem Unbehagen, das da manchmal zutage tritt, auseinanderzusetzen. In Italien ist das Problem ja wahrscheinlich noch dringender, denn hier gibt es wirklich überall Reste. Nicht nur aus der mittelalterlichen Besiedlung, sondern vor allem aus der römischen Antike, also Villen, Infrastruktur, Aquädukte, Gräber. Hinzu kommt, was uns Etrusker, Griechen und andere hinterlassen haben. Ich denke, wir müssen einfach deutlicher vermitteln, was eigentlich der Wert dieser Funde ist. Das kann Verständnis schaffen, dass manche Projekte länger dauern oder vielleicht umgestaltet werden müssen, um diesen Funden Rechenschaft zu tragen.
Und was kann, was soll die Gesellschaft beitragen zu mehr Wertschätzung für diese besonderen Boden-Schätze?
ZUCHTRIEGEL: Das hat viel mit Wissen zu tun. Und die Frage kommt somit wieder zurück zu uns Archäologen: Was können wir tun mit unseren Museen und archäologischen Parks, um mehr Verständnis zu schaffen?
Anders als andere Kunstwerke sprechen archäologische Funde oft nicht so unmittelbar zu ihren Besuchern, zumindest nicht so direkt wie hier in Pompeji. Mauerreste, Münzen oder Schriftzeichen sind oft abstrakt und erklärungsbedürftig. Was gibt es an neuen Vermittlungsansätzen?
ZUCHTRIEGEL: Ich sehe diesen Nachteil eigentlich gar nicht. Die Bedingungen für das Gespräch mit der Gesellschaft sind sehr gut. Denn was heute interessiert, ist ja nicht mehr nur die große Kunst, sondern ein Einblick in das Leben von Menschen vor unserer Zeit. Das spricht viele an, und dazu können wir etwas anbieten.
Hier in Süddeutschland, zuletzt bei Allensbach, werden immer wieder Grab- und Hinrichtungsstätten entdeckt. Im Sinne einer respektvollen Archäologie: Wie geht man mit solchen Überresten von Menschen, mit solchen Orten um, wie erinnert man daran?
ZUCHTRIEGEL: Das ist ein ethisches Problem, das sich umso mehr stellt, je näher wir dem zeitlich kommen. In Pompeji sind wir mit Opfern des Vesuv-Ausbruchs vor fast 2000 Jahren konfrontiert. Wir haben Abgüsse von ihren Körperformen, ihrer Kleidung, oft auch ihrer Gesichter. Das sind Kinder, Frauen und Männer, denen man quasi ins Gesicht schauen kann. Sind die Funde neuer, stellt sich die Frage umso dringlicher, und wenn uns nur noch wenige Generationen trennen, kommt die Ebene der Erinnerung, die auch etwas Persönliches hat, hinzu. Wir werden dem am besten gerecht, wenn wir die Geschichten dieser Menschen so gut es geht rekonstruieren und sie erzählen.
Kann sich die Archäologie so etwas wie Diskretion erlauben? Über Funde auch mal den Mantel des Schweigens breiten?
ZUCHTRIEGEL: Nein, das können wir nicht. Wir haben eine wissenschaftliche Verantwortung, denn jede Ausgrabung ist immer auch eine Form der Zerstörung. Das kann man nicht beliebig wiederholen, also müssen wir alle Erkenntnis gewinnen, die sich gewinnen lässt. Es wäre nicht richtig, nicht die beste Methodik anzuwenden, um möglichst viel herauszufinden. Respekt ist dann aber bei der Präsentation der Ergebnisse gefragt, gerade wenn wir Dinge finden, die verstörend wirken können.
Sie haben vorhin gesagt: Heute stellt Archäologie andere Fragen. Es geht nicht mehr so sehr um die Großen und Mächtigen, um die Kunstgeschichte, und mehr um die Erforschung der Lebensumstände. Ist das nicht gerade hier in Pompeji auch langsam auserzählt? Warum graben Sie immer weiter? Und was rückt als Nächstes in den Blickpunkt?
ZUCHTRIEGEL: Ich glaube, wir sind eher noch am Anfang. Unsere Fragen haben sich extrem erweitert, und das ist bei weitem nicht abgeschlossen – wie in der ganzen historischen Forschung. Das hatte zunächst ja einen geradezu kosmologischen Ansatz, sollte eine Universalgeschichte schreiben und war zeitweise ja auch theologisch untermauert: Weltgeschichte als eine Art Heilsgeschichte, in der alles mit allem zusammenhängt. Heute sehen wir mehr die Vielfalt, das Widersprüchliche, die vielen verschiedenen Geschichten. Bestimmte Ansprüche, bestimmte Ideen, bestimmte Konzepte werden vielleicht auch aufgegeben in dieser Entwicklung.
Das heißt, auch in Pompeji gibt es noch genug zu entdecken, und man wird nie sagen: Jetzt haben wir alles erforscht, jetzt kommt der Käseglocke drüber und wir bewahren es jetzt so, wie es ist.
ZUCHTRIEGEL: Das Bewahren ist zweifellos eine große Herausforderung, hier und anderswo. Aber ich glaube nicht, dass das Fragen an ein Ende kommt. Wie sollte das Ende so einer Erzählung auch aussehen? Wer das herzustellen versucht, stößt dann wieder andere Gegenerzählungen und Kommentare und Antworten an.
IHR JÜNGSTES BUCH HEISST „ZAUBER DES UNTERGANGS“. WARUM IST DAS ÖFFENTLICHE INTERESSE AN HISTORISCHEN FUNDEN BESONDERS GROSS, WENN SICH UNS ÜBERRASCHEND ETWAS SCHRECKLICHES OFFENBART, ZUM BEISPIEL NACH DER AUSGRABUNG EINER HINRICHTUNGSSTÄTTE?:
ZUCHTRIEGEL : Ich glaube, Stephen King hat einmal gesagt, dass diese ganze Faszination auf das Thema Tod zurückgeführt werden kann. Und das umso mehr, wenn es dafür Vorboten gibt – wie hier in Pompeji die Erdbeben und die toten Vögel – und dann das entsetzliche Hinauszögern des Schrecklichen folgt. Da spielen die literarischen Umsetzungen der Pompeji-Geschichte eine große Rolle. Aber auch der Umstand, dass man sich heute nicht mehr so mit dem Tod auseinandersetzt, dass der verdrängt wird. In Alltagsritualen spielt der Tod, im Vergleich zu vergangenen Gesellschaften, kaum eine Rolle mehr, dieses ständige Erinnern daran, dass wir eigentlich überhaupt nicht wissen, wie lange wir hier sind. Und so war das vielleicht auch mit den Hinrichtungen, das war ein öffentliches Spektakel, zu dem auch Kinder mitgebracht wurden. Auch die grausame Folter mit Todesfolge war ein Teil der historischen Realität.
Was hinterlassen wir heute? Was teilen wir den Archäologen in 500 oder 2000 Jahren mit über unser Leben hier und heute?
ZUCHTRIEGEL : Wir hinterlassen unvergleichlich mehr als das, was wir aus der Vergangenheit haben. Wir haben mit unseren Bauten die Landschaft grundlegend verändert. Pompeji war eine mittelgroße Stadt zu ihrer Zeit. Wie groß ist eine mittelgroße Stadt zu unserer Zeit, woraus besteht sie alles? Das sind Flächen, die man mit unseren heutigen archäologischen Möglichkeiten überhaupt nicht bewältigen könnte. Und wir bringen eine ganz neue stratigrafische Schicht ein, die des Plastikzeitalters. Hoffentlich wird es eine Zeit geben, in der nicht mehr jeder Kubikzentimeter durchsetzt ist von Mikroplastik.
Was, glauben Sie, wird keine Spuren hinterlassen, wenn wir es nicht unseren Nachfahren bewusst mitgeben? Wird man in ein paar hundert Jahren mit einem USB-Stick noch etwas anfangen können?
ZUCHTRIEGEL: Was die Umstellung aufs Digitale mit sich bringt für die Archäologie der Zukunft, können wir noch gar nicht absehen. Ohne die entsprechenden Lesegeräte ist das alles null und nichtig. Anders als eine in Stein gehauene Inschrift oder ein Fundament. Das ist übrigens nicht neu – wir haben aus der Antike kaum Papyrus, das kam fast alles über Abschriften zu uns. Auch die Zeitungen und Bücher von heute werden irgendwann keine nutzbare Quelle mehr sein.
Als Sie am Gymnasium im oberschwäbischen Wilhelmsdorf Abitur gemacht haben, und jemand Ihnen mitgeteilt hätte, dass Sie einmal die berühmteste Ausgrabung der Welt leiten dürfen – was hätten Sie gesagt?
ZUCHTRIEGEL: Es wäre mir vollkommen unrealistisch und unglaubwürdig erschienen. Und zugleich bin ich dankbar für diese Kindheit und Jugend im ländlichen Oberschwaben. Diese Erfahrung und auch diese Landschaft begleiten mich immer, eine kleine Welt, die auch Geborgenheit verströmte. Aus dieser bin ich dann in die große weite Welt hinausgegangen, in ein anderes Land mit einer anderen Sprache. Dass ich einmal so viel Verantwortung haben könnte, das lag mir fern. Mein Horizont damals war Ravensburg, das war die Stadt.
Zur Person: Gabriel Zuchtriegel, geboren 1981 in Weingarten bei Ravensburg, ist seit 1. April 2021 Direktor des Archäologischen Parks von Pompeji. Damit hat er die Gesamtverantwortung für die vielleicht bedeutendste Ausgrabungsstätte der Welt. Durch einen Ausbruch des Vesuv wurde die Stadt südlich von Neapel im Jahr 79 nach Christus schlagartig von einer Stein- und Aschewolke bedeckt. Damit wurde das Leben dort gleichsam eingefroren und die Gebäude, Teile ihrer Innenausstattung sowie zahlreiche Wandgemälde bis zum Beginn der Grabungen im 18. Jahrhundert konserviert. Zuchtriegel studierte an der Humboldt-Universität zu Berlin und erlangte an der Universität Bonn seinen Doktortitel. Es schlossen sich Forschungsaufenthalte in Italien an, bevor er zum Direktor des Archäologischen Parks von Paestum und Velia ernannt wurde, ebenfalls eine sehr bedeutsame Fundstätte in Süditalien. Seine Berufung nach Pompeji wurde in Italien mit gemischten Reaktionen aufgenommen, obwohl er bereits zuvor zusätzlich zur deutschen auch die italienische Staatsbürgerschaft angenommen hatte. Zuchtriegel hat vielfach publiziert. Besonders lesenswert ist sein Buch „Vom Zauber des Untergangs. Was Pompeji über uns erzählt“ aus dem Jahr 2023 (Propyläen Verlag, 240 Seiten, 32 Euro).
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