Ihr Buch „Simply Jamie” soll zeigen, dass Kochen schnell und einfach gehen kann. Warum die Eile? Ist es schwerer geworden, die Menschen an den Herd zu bewegen?
JAMIE OLIVER : Tatsächlich wurde in Großbritannien noch nie so wenig gekocht wie heute. Wir können das unter anderem deshalb so genau sagen, weil wir wissen, was die Leute kaufen, und das sind keine frischen Zutaten wie Gemüse, sondern vor allem Gerichte zum Aufwärmen und vorverarbeitete Lebensmittel. Vor 25 Jahren, als ich mit meiner ersten Show „The Naked Chef” (Der nackte Koch) auf Sendung ging, nahmen sich die Menschen im Königreich im Schnitt 46 Minuten pro Tag Zeit zum Kochen. Vor der Pandemie waren es im Durchschnitt 23 Minuten und laut aktuellen Daten sind es heute schätzungsweise noch 19 Minuten.
Woran liegt das?
OLIVER: Die Menschen haben wenig Selbstvertrauen, wenn es ums Kochen geht. Viele haben schließlich weder in ihrem Elternhaus noch in der Schule gelernt, wie man das macht – das gilt für Großbritannien genauso wie für Deutschland. Wenn sie es dann versuchen, haben sie schnell das Gefühl, gescheitert zu sein, weil es nicht gut genug schmeckt. Dann bestellen sie lieber etwas. In der Hierarchie der Entscheidungen steht überdies immer die Bequemlichkeit an erster Stelle, dann kommt der Preis und am Schluss steht dann erst die Gesundheit.
Dabei ist es doch eigentlich leicht, sich Informationen zum Kochen über das Internet anzueignen, könnte man meinen.
OLIVER: Durch die sozialen Medien, durch Tiktok, Instagram und so weiter ist die Welt natürlich kleiner geworden. So wissen die Deutschen und die Briten sicherlich über viel mehr Dinge Bescheid als früher, aber sie wissen nicht viel über diese vielen Dinge. Das gilt auch fürs Kochen.
Wie meinen Sie das?
OLIVER: Wenn man in jungen Jahren etwa von den Eltern kochen lernt, verinnerlicht man es, indem man es tut, etwa wenn man Nudeln zubereitet. Man denkt nicht darüber nach. Doch durch die Wiederholung dieser Tätigkeit wissen die Kinder später einfach, dass sie auf 100 Gramm Mehl ein Ei geben müssen. Einfach so. Wenn Kinder auf Bäume klettern und auf Spielplätzen spielen und dabei körperliche Geschicklichkeit entwickeln, dann tun sie das auch unbewusst. So haben unsere Urgroßeltern in Deutschland und auch in Großbritannien kochen gelernt, beim Schälen, Hacken, Würfeln, Zerkleinern, Rühren. Deren kulinarisches Geschick war in der Tat sehr hoch. Heute lernen Kinder das nicht mehr auf diese Weise und das Geschick geht verloren.
Das Interesse an Informationen zum Thema Essen und Kochen scheint aber ungebrochen.
OLIVER: Klar, das Publikum ist begeistert vom Essen, es kennt die Haute Cuisine, aber die Grundgrammatik ist nicht vorhanden. Darüber mache ich mir wirklich Sorgen. Alles, was mit Kochen, Kunst, Musik oder ähnlichem zu tun hat, geht schnell für immer verloren. Daher lautet im Grunde mein Appell an die Öffentlichkeit: Ihr könnt das! Es gibt Nudelgerichte, die man in wenigen Minuten kochen kann und eine Hühnerbrust, eine Zutat, die oft immer gleich serviert wird, kann neu und interessant zubereitet werden. Und das ist dann viel leckerer, gesünder und günstiger als alles, was man mit einer App bestellen kann.
Was wäre denn da ein Beispiel?
OLIVER: Ein Gericht wie Gochujang-Hühnchen mit Nudeln als Ofengericht steht für mich für diese unkomplizierte Art zu kochen. Gochujang ist eine scharfe, fermentierte koreanische Gewürzpaste mit einem wirklich interessanten Geschmacksprofil, die die meisten Deutschen und Briten noch nie probiert haben. Mit Gochujang bekommen die Hähnchenschenkel eine knusprige Haut, man erhält schöne krosse Nudeln und köstlichen Spitzkohl. Die Zubereitung geht schnell, der Backofen macht das gewissermaßen alleine. Wenn man von der Arbeit kommt, schiebt man das Blech nach dem Belegen einfach hinein. Während das Gericht gart, kann man eine Dusche nehmen, sich unterhalten oder telefonieren und das Haus riecht nach gutem Essen.
So gut das klingt, zur Wahrheit in Großbritannien gehört aber doch auch, dass in manchen Familien hauptsächlich aus finanziellen Gründen womöglich gar nicht oder nur wenig gekocht wird.
OLIVER : Ja, etwa 2,1 Millionen Kinder im Vereinigten Königreich haben aus diesem Grund Anspruch auf kostenlose Mahlzeiten in der Schule. Das sind etwa ein Viertel aller Schüler. Sie kommen aus Familien, die insgesamt weniger als 7200 Pfund (rund 8600 Euro) im Jahr verdienen. Es handelt sich also um sehr arme Familien. Jedes entwickelte Land sollte so etwas für Kinder anbieten, um die Schwächsten zu versorgen.
Sie setzen sich seit Jahren für besseres Schulessen in Großbritannien ein. Was hat sich seitdem verbessert?
OLIVER: Vor 17 Jahren gab es sehr strenge Regeln, wenn man Hundefutter für den Verkauf in Supermärkten herstellen wollte, aber keine für das Essen in Schulen. Das war unsere Mentalität. Davon ausgehend hat sich vieles verbessert. Wir haben jetzt Richtlinien und gesetzliche Standards für ein gutes Mittagessen für Kinder unterschiedlichen Alters als Referenz. In Großbritannien gibt es etwa 25.000 Schulen, die auf Hügeln, in Tälern oder auf kleinen Inseln liegen. Dort arbeiten Tausende Küchen und Köche. Kommt es da zu Problemen? Ja, natürlich. Können wir herausfinden, welche Probleme das sind? Nicht wirklich, denn es wird nicht erfasst, wer sich an die Vorschriften hält und wer nicht. Aber wir machen definitiv Fortschritte und werden immer besser, und das ist sicher eine gute Entwicklung.
Das deutsche Schulessen steht aktuell massiv in der Kritik. Je nach Schule ist es gewissermaßen Glückssache, ob ein Kind eine gesunde Mahlzeit bekommt oder eben nicht.
OLIVER : Deutschland hat viel zu bieten. Die Menschen und Unternehmen sind innovativ, technisch versiert und kreativ. Aber in den politischen Entscheidungen spiegelt sich das nicht unbedingt wider. Veränderungen lassen auf sich warten. In Deutschland gehen mehrere Millionen Kinder an rund 190 Tagen pro Jahr zur Schule. Das ist doch eine riesengroße Chance, um positiv auf die Ernährung des Nachwuchses einzuwirken und damit in die Zukunft des Landes zu investieren. Wenn ein Kind ein gutes Frühstück und eine ausgewogene Mahlzeit bekommt, hat es bessere Möglichkeiten, gute Noten zu erreichen, die Schule gesünder zu verlassen und als Erwachsener und Elternteil länger gesund zu bleiben. Das wäre die beste Verwendung deutscher Steuergelder.
Was könnte man über das Essen hinaus in Schulen noch verändern, um das Ernährungsverhalten zu verbessern?
OLIVER : Wenn ein Kind in Deutschland die Schule verlässt, sollte es zehn wichtige Rezepte kochen können, die Grundlagen der Ernährung verstehen und wissen, woher die Lebensmittel kommen und wie sie auf den Körper wirken. Das Wichtigste ist, dass sie lecker kochen können, egal ob sie arm, reich sind oder der Mittelschicht angehören. Denn Übergewicht oder gesundheitliche Probleme hängen oft mit der Ernährung zusammen. Wenn ich also für Bildung zuständig wäre, würde ich hier einen Schwerpunkt setzen. Aber ich glaube, dass Lebenskompetenzen in den vergangenen 30 Jahren vernachlässigt wurden, und ich verstehe nicht wirklich, warum. Ich glaube, sie werden als Luxus angesehen und nicht als Notwendigkeit.
Deutsches Essen hat in Großbritannien nicht unbedingt den besten Ruf. Wie sehen Sie das?
OLIVER: Ich finde, die deutsche Küche ist sehr, sehr gut und ihre Geschichte ist wirklich spannend. Es gibt etwa im Schwarzwald und in Bayern, aber natürlich nicht nur dort großartige Köche und faszinierende Gerichte. Aber ich glaube, Deutschland hat sich – wie Großbritannien im Übrigen auch – in der Vergangenheit falsch vermarktet. Ich meine, schauen Sie sich die Italiener an und die Begeisterung für ihre Tomatengerichte. Die Tomaten sind nicht einmal ihre eigenen. Sie kamen aus Südamerika nach Europa. Vor 400 Jahren gab es in Italien nichts Rotes zu essen, alles war braun. Aber die Italiener haben viel Energie investiert, um sich besser zu vermarkten. Vielleicht können die Deutschen und auch die Engländer davon etwas lernen.
Haben Sie denn ein deutsches Lieblingsgericht?
OLIVER: Es gibt tolle Pilzgerichte, Knödel, leckeres, langsam gegartes Fleisch, tolle Eintöpfe und Ragouts und Schmorgerichte, die mir das Gefühl geben, als würde ich an wirklich charmanten Orten, mit wirklich gutem Wein und wirklich gutem Bier, fest umarmt und geküsst werden. Und was die meisten Briten nicht wissen – und das ist wieder typisch britisch – ist, dass vieles von dem, was wir für britisch halten, eigentlich deutsch ist und dass viele traditionelle britische Gerichte und Techniken zur Wurstherstellung deutsche Einflüsse haben.
Weihnachten ist das Fest, bei dem sich alles um traditionelle Gerichte dreht. Was kommt denn bei Ihnen auf den Tisch?
OLIVER : Es gibt immer einen Truthahn, ganz klassisch, mit all den Beilagen und Soßen. Aber ich bereite auch gerne eine Gans zu, eine leckere gebratene Gans, das ist ja auch sehr deutsch. Und ich probiere auch gerne mal etwas anderes aus. Das kann eine Porchetta sein. Ich mag also das Italienische, was man „arrosto misto“ nennen würde. Da gibt es gebratenen Truthahn, gebratenes Schwein, gebratene Gans und dann kann jeder ein wenig von allem haben. Die Leute sagen ja oft: „Oh, das mag ich nicht.“ Und dann probieren sie es und mögen es doch. Danach habe ich all diese wunderbaren Reste für die Tage nach Weihnachten.
Das klingt ambitioniert. Haben Sie einen Tipp, wie man das Weihnachtsessen stressreich gestalten kann?
OLIVER: Meine Philosophie für Weihnachten ist, dass man so geplant vorgehen muss wie bei der Landung eines Flugzeugs. Man muss wissen, was man kochen will, wie lange es dauert und dann werden die Vorbereitungen von diesem Zeitpunkt aus rückwärts getaktet. Man kann kleine Dinge im Voraus zubereiten und sie im Kühlschrank oder in der Tiefkühltruhe aufbewahren, etwa bunte Eiswürfel für Cocktails. Der Tisch kann schon gedeckt werden. Im Prinzip ist wirklich vieles im Vorfeld möglich. Auch wenn man von Natur aus eher chaotisch ist, kann man sich mit einer guten Organisation später mehr Zeit nehmen, um sich mit der Familie zu entspannen, und das Essen schmeckt dann auch deutlich besser. Denn bei einem Abendessen, bei dem der Gastgeber gestresst ist und schwitzt, weil er zu viel zu tun hat, möchte niemand dabei sein.
Zur Person: Jamie Oliver, geboren 1975 in Clavering in der Grafschaft Essex, lernte das Kochen im Pub seiner Eltern. Mit der Kochsendung „The Naked Chef“, so auch sein Spitzname, wurde er vor 25 Jahren zum Star und zum Bestsellerautor. Seine Kochbücher haben sich fast 50 Millionen Mal verkauft und wurden in 36 Sprachen übersetzt. Der vielseitige Unternehmer engagiert sich politisch für gesunde Ernährung für Kinder und startete eine Kampagne für das Unterrichtsfach Ernährungslehre. Vor kurzem ist sein Kochbuch „Simply Jamie“ ( Dorling Kindersley Verlag, 288 Seiten, 29,95 Euro) erschienen. Seit 2000 ist Jamie Oliver mit Juliette Norton verheiratet. Zusammen haben sie drei Töchter und zwei Söhne.
.
Um kommentieren zu können, müssen Sie angemeldet sein.
Registrieren sie sichSie haben ein Konto? Hier anmelden