Herr Carpendale, vergleicht man die neuen Orchester-Versionen mit den Originalen, fällt auf: Sie singen heute viel besser als in den Siebzigern.
Howard Carpendale: Vielen Dank, und wissen Sie, was: Ich finde das auch. Damals habe ich noch gar nicht verstanden, was ich da sang. Ich habe jedes Wort phonetisch gelernt. Auf den Symphonie-Alben bin ich von meiner Gesangsleistung jetzt endlich dort angekommen, wo ich immer hinwollte. Auch wenn sich das komisch anhört von jemandem, der seit fünfzig Jahren dabei ist.
Auf den Neuaufnahmen etwa von „Du fängst den Wind niemals ein“ oder „Da nahm er seine Gitarre“ klingen Sie persönlicher und näher dran.
Carpendale: Die Lieder haben eine wunderbare Wärme. Man hört ihnen die vielen Jahre auf dem Buckel nicht an. Ich habe gemerkt, dass es ein sehr großer Unterschied ist, mit einem Orchester zu singen. Ich habe einen ganz neuen Flow in der Stimme, viel mehr Nuancen und Interpretationsmöglichkeiten.
„Wie frei willst du sein“ ist ein Duett mit Kerstin Ott. Sie beide kennen sich schon von „Wegen dir (Nachts, wenn alles schläft)“.
Carpendale: Wir sind Freunde geworden. Irgendwann kam sie auf mich zu und hat mich gefragt, ob sie mich drücken dürfte. Sie durfte. Ein paar Wochen später trafen und drückten wir uns wieder. Als ich sie fragte, ob sie einen Titel mit mir singen wollte, war ich überrascht, dass sie sich „Wie frei willst du sein“ ausgesucht hat. Ich finde, unsere Version ist sehr schön geworden.
Was ist die Geschichte hinter dem Lied?
Carpendale: In den 70er Jahren war es in einer Partnerschaft gang und gäbe zu sagen „Ich brauche mehr Platz“. Als meine damalige Frau Claudia zu mir meinte, sie könne sich mehr Freiheiten vorstellen, erzählte ich das dem Songtexter Fred Jay und er fragte: „Wie frei will sie sein?“ So ist dieser Text entstanden.
Wollte Ihre Ex-Frau freier sein als Sie?
Carpendale: Ach, das ist über vierzig Jahre her. Die genauen Worte, die gefallen sind, weiß ich nicht mehr. Unsere Ehe hat sieben Jahre lang gehalten. Und wir sind immer noch dicke Freunde. Die ganze Familie ist eine starke Gemeinschaft.
Wie wichtig ist es Ihnen, auch innerhalb einer Beziehung sein eigenes Ding zu machen?
Carpendale: Ich denke, nur zwei freie Menschen können einander wirklich lieben. Abhängigkeit ist nie gut.
Der erste Teil der „Symphonie des Lebens“ war und ist sehr erfolgreich und seit einem Jahr in den Charts. Sie wären jetzt eigentlich auf Tournee.
Carpendale: Ich hatte in meiner Karriere seit 1966 tolle Phasen und auch manchmal schwierigere Zeiten ... Wir haben die Tour aufgrund der aktuellen Situation in den Herbst 2021 verschoben und ich bin absolut 50:50 mit meinem Gefühl, ob sie stattfinden kann oder nicht.
Howard Carpendale - seine Karriere
Als 20-Jähriger ging er nach Europa.
Carpendale hat 25 Millionen Tonträger verkauft.
Der Sänger war einmal eine Sportskanone – er wurde südafrikanischer Jugendmeister im Kugelstoßen und spielte in der deutschen Rugby-Bundesliga.
Mit seiner Frau Donnice Pierce lebt er in München, wo er sein aktuelles Album „Symphonie meines Lebens“ eingespielt hat.
Ihr Sohn Cass lebt in Pittsburgh/ Pennsylvania. Wann haben Sie ihn zuletzt persönlich gesehen?
Carpendale: Im Frühjahr. Eine Woche vor Corona war ich noch in Amerika. Wissen Sie, ich mache mir gerade viele Gedanken. In den USA liegen 300 oder 400 Millionen Gewehre rum, die meisten davon im Besitz von Republikanern. Diese Wahl ist schon extrem brisant. Ich gucke gerade viel amerikanisches Fernsehen, CNN vor allem. Auch nach den Wahlen wird das Land schwere Wochen vor sich haben. Nach all seinen Fehlern und nachdem er selbst infiziert im Krankenhaus lag, nimmt Trump Corona immer noch nicht ernst. Mich fasziniert und erschüttert, wie er ständig solch einen Quatsch erzählen kann, und die Leute glauben es ihm auch noch.
Es sieht ja so aus, als würde Joe Biden gewinnen.
Carpendale: Joe Biden ist ein netter weiser alter Mann. Er kann nur eine Übergangslösung sein. Die USA brauchen dringend jemand Jüngeres, die oder der einen wirklichen Draht zum Publikum hat. Jemanden wie Jacinda Ardern in Neuseeland, die mich wirklich beeindruckt. Ich denke, Bidens Vize Kamala Harris ist eine gute Wahl. Ich kann mir vorstellen, dass sie in zwei Jahren übernimmt, sollte Joe Biden die Wahl gewinnen.
Sie kennen Donald Trump flüchtig vom Golfspielen in Florida.
Carpendale: Er war mir nicht sympathisch, aber er ist nur ein Symptom, nicht die Ursache. Donald Trump ist das Resultat einer Politik, die jahrzehntelang nur dem oberen Drittel der Bevölkerung genutzt hat. Steuerreform hieß immer: mehr Geld für die Reichen. Die Menschen fühlen sich mit Recht abgehängt. In Los Angeles stehen mittlerweile 6000 Zelte auf den Bürgersteigen, in denen die Obdachlosen leben. Das ganze amerikanische System ist marode. Man kann nur hoffen, dass es keinen Bürgerkrieg gibt.
In der neuen Version Ihres Liedes „Ein paar sind immer über den Wolken“ besingen Sie unter anderem Barack Obama. Vermissen Sie ihn?
Carpendale: Auch Obama war kein perfekter Präsident. Aber er hat Charme, strahlt Ruhe und Souveränität aus und weiß bis heute, wie man ein Publikum erobert. Showgeschäft und Politik liegen in vielen Dingen nah beieinander. Angela Merkel macht einen tollen Job, aber sie ist keine Motivationsgöttin.
Was können Sie als Künstler tun, um die Stimmung zu heben?
Carpendale: Tatsächlich berühren meine Orchester-Alben die Leute sehr. Viele Menschen haben einen Hunger nach Nostalgie. Wir Künstler spielen gerade jetzt eine große Rolle dabei, dass die Menschen die Welt noch als normal empfinden. Aber was ist überhaupt normal?
Wie meinen Sie das?
Carpendale: Die Probleme, die durch Corona entstanden sind, werden uns lange beschäftigen. Wird das Publikum bereit sein, wieder auszugehen, wenn Corona vorbei ist? Gewöhnt man sich vielleicht an das andere Leben, an die Isolation? Der Motor der ganzen Gesellschaft muss irgendwann wieder gestartet werden. Und ich befürchte, wir werden wirtschaftlich eine sehr harte Zeit erleben, mit hunderttausenden von Pleiten.
Besonders zuversichtlich klingen Sie wirklich nicht.
Carpendale: Ich würde gerne hier sitzen und sagen: „Alles ist wunderschön.“ Ich denke gerne positiv. Aber ich bin Realist, kein Träumer. Im Moment habe ich Angst.
Es hilft nichts, wir müssen es ansprechen: Sie werden im Januar 75 Jahre alt.
Carpendale: Also, die Zahl bedeutet mir gar nichts. Für mich ist es total wichtig, Umgang mit jungen Menschen zu haben. Ich will keiner dieser alten Typen sein, die stur und festgefahren sind in ihrer Meinung und die nicht mehr bereit sind, einen Schritt auf andere zuzugehen.