Cyrus liegt da. Um ihn herum Zigarettenstummel, Tablettendosen, Whiskeyflaschen und halb gelesene Bücher. Er hat seinen Frust mal wieder in Alkohol ertränkt, doch an diesem Morgen dämmert es ihm: Aufhören oder weiter trinken? Leben oder sterben? Cyrus muss sich entscheiden.
Düstere Szene, mit der Kaveh Akbar seinen Roman „Märtyrer!“ eröffnet und nicht die einzige auf 400 Seiten, denn die Geschichte von Cyrus, der an Depressionen leidet und nicht weiß, wie er mit dem frühen Tod seiner Mutter umgehen soll, ist nicht leicht. Doch der Ton, mit dem Akbar von seinem Antihelden erzählt, ist energiegeladen, unerschrocken und lebendig. Ein gewaltiges Debüt, das der US-Autor mit iranischen Wurzeln vorgelegt hat. Vergangenes Jahr erschienen, avancierte „Märtyrer!“ zum New York Times-Bestseller, wurde von Kritikern gelobt und vom ehemaligen US-Präsidenten Barack Obama empfohlen. Jetzt ist der Roman auf Deutsch erschienen, fein übersetzt von Stefanie Jacobs.
Die Hauptfigur schwankt zwischen Euphorie und existenzieller Leere
Schon der Titel ist provokant vor dem Hintergrund der amerikanisch-iranischen Beziehungen und den Terroranschlägen am 11. September 2001. Märtyrer, das sind Menschen, die bereit sind, für ihre Überzeugungen in den Tod zu gehen und diesem damit scheinbar eine höhere Bedeutung verleihen. Doch um diese Art von Märtyrertum geht es Akbar nicht. Vielmehr erhebt er die Liebe, Freundschaft, Mitmenschlichkeit und vor allem die Kunst zu sinnstiftenden Elementen, die dem Leben und damit auch dem Tod einen Sinn geben. Dafür schickt er seinen Protagonisten auf eine spannende Reise zu dessen Wurzeln, die ihn näher zu sich selbst, zu seiner Kunst und zu seiner verstorben Mutter führt.

Cyrus ist Ende 20, queer und lebt in Indiana. Um über die Runden zu kommen, mimt er als Proband für Medizinstudierende den Krebskranken, seine wahre Bestimmung aber sieht er im Schreiben, in der Poesie. Er schläft mal mit einer Republikanerin, mal mit seinem Mitbewohner Zee. Er ist ein Grübler, schlagfertig, belesen, schwankt zwischen Euphorie und existenzieller Leere und ist besessen von der Idee, dem Tod eine Bedeutung zu geben. Denn seine Mutter starb einen sinnlosen Tod.
Sie saß im Flieger nach Dubai, der von zwei Flugabwehrraketen der US-Navy abgeschossen wurde. Eine wahre Begebenheit, an die Akbar da erinnert. 290 Menschen starben 1988 auf dem Iran-Air-Flug 655. Der Tod der Mutter stürzt die Familie in eine Krise, der Vater will neu anfangen, die Trauer um seine verstorbene Frau verdrängen. Er wandert mit seinem Sohn in die USA aus, ausgerechnet in das Land, das seine Frau vom Himmel geschossen hatte.
Nicht jeder Erzählstrang ist gleichstark, aber Akbars Figuren wirken sympathisch
Akbar wechselt die Perspektiven, springt in der Erzählung hin und her, ist mal in den USA der Gegenwart, mal im Iran der 1980er-Jahre, aber er hält die Fäden zusammen, überschreibt jedes Kapitel mit dem Namen der Person, um die es gerade geht oder mit dem Datum, an dem die Handlung spielt und gibt den Lesenden Orientierung.
Der Roman verliert sich auch dann nicht, wenn Akbar bis in die Kindheit der verstorbenen Mutter zurückreist, vom Kriegseinsatz des Bruders erzählt oder davon, wie der Vater zum ersten Mal in der Geflügelfarm in Indiana arbeitet in der Hoffnung, seinem Sohn einmal ein besseres Leben zu ermöglichen. Nicht jeder Erzählstrang ist gleichstark, aber Akbars Figuren wirken sympathisch. Man will mehr über ihre Geschichten erfahren.
Der Roman ist gespickt mit autobiografischen Elementen, vieles scheint Akbars eigener Erfahrungswelt zu entstammen. Es klingt authentisch, wenn er vom Unileben, von der Angst, abgeschoben zu werden, von der Sucht oder den Treffen der Anonymen Alkoholiker erzählt, denn Akbar hat es selbst erlebt, wie er im Gespräch mit der New York Times erzählte. Wie sein Protagonist war er alkoholabhängig, hat einen Entzug hinter sich. Inzwischen ist der 36-jährige Autor verheiratet, unterrichtet kreatives Schreiben an der Universität in Iowa und hat zwei Gedichtbände veröffentlicht. Während Corona begann er, „Märtyrer!“ zu schreiben. Zwei Bücher in der Woche und ein Film täglich als Inspiration, der Plan ging auf.
Eine Figur rät: „Schick nie eine Figur auf die Bühne, ohne zu wissen, was sie will.“
„Schick nie eine Figur auf die Bühne, ohne zu wissen, was sie will“, rät eine Figur im Buch. Genau das macht Akbar, wenn er über einen jungen Mann schreibt, der haltlos wirkt, nach einem höheren Sinn sucht und ihn letztlich im Hier und Jetzt findet. Doch Akbar weiß, war er tut, sein Roman steckt voller kluger Sätze und feiner Beobachtungen, ist mal witzig, geht mal nah. Eine Hommage an die Liebe, die Kunst und alles, was bei der Suche nach Sinn im Leben helfen kann.
Akbar beackert die großen Themen, schreibt über Rassismus, Homophobie, Sucht, Trauer, Freundschaft und die Beziehungen zwischen den USA und dem Iran. Das gelingt ihm mit Hingabe und doch ganz nebenbei – und er endet, wenn auch ein wenig vorhersehbar, ohne große Worte. Mit einer stillen Erkenntnis, die Cyrus, den Suchenden, für einen Moment zur Ruhe kommen lässt. Als er einer todkranken Konzeptkünstlerin gegenübersitzt, die für eine letzte Performance Menschen zum Gespräch ins Museum einlädt. Eine Märtyrerin, wie Cyrus sie sucht, die ihr Leben der Kunst verschrieben hat.
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