Erst neulich ist es wieder passiert. „Morbide Adipositas verträgt sich mit einem guten Körpergefühl ganz schlecht“.
Puh, das sitzt! Steht so als Kommentar zu einem Foto von Melodie Michelberger, das sie in engen Leggings und mit einem Bustier fröhlich lachend beim Sport zeigt. Zu sehen ist, dass sie dem gängigen Schlankheitsideal nicht entspricht: Unter der engen Hose wölbt sich der Bauch, Speckröllchen zeichnen sich ab, Arme und Oberschenkel sind kräftig. Trotzdem spricht Michelberger in dem Interview für die Kölner Fitnessmesse Fibo, das auf Instagram samt des besagten Fotos gepostet wurde, davon, wie wohl sie sich in ihrem Körper fühlt. Melodie Michelberger ist Body-Positivity-Aktivistin, sie kämpft dagegen, dass dicke Menschen lediglich über ihren Körper definiert und für ihr Aussehen beschimpft werden – so wie in jenem bissigen Kommentar, der im Übrigen nicht der einzige blieb an diesem Tag. „Sich selbst lieben und schätzen, okay. Aber sich einreden, es wäre schön, ungesund zu sein, grenzt für mich schon an eine psychische Störung“, war da unter anderem noch zu lesen.
Melodie Michelberger und Body Shaming auf den Social-Media-Plattformen
Body Shaming nennt sich dieses Phänomen, jemanden wegen seiner äußeren Erscheinung zu beleidigen. Es ist das alte Spiel, das viele vom Pausenhof kennen: abstehende Ohren, viele Sommersprossen, die große Nase, eine pummelige Figur, und schon ist man den Hänseleien der anderen ausgesetzt. Mit den sozialen Medien haben die Hänseleien eine große Bühne bekommen. Und eine neue Qualität. Das Ideal, schön und perfekt zu sein, hat mit Netzwerken wie Facebook und Instagram oder mit Youtube sogar internationale Plattformen zur Selbstdarstellung bekommen. Der Hype um die Schönheit setzt unter Druck. „Sei jugendlich, schlank, sportlich und fit!“, lautet das Mantra, wer dem nicht entspricht, wird zur Zielscheibe, erntet Hohn und Verachtung. Nicht nur, aber im Besonderen dicke Menschen machen diese schmerzliche Erfahrung.
Dokumentiert hat das auf eindrucksvolle Weise die Amerikanerin Haley Morris-Cafiero. In der Bilderserie „Wait Watchers“ (in Anspielung auf das Abnehm-Programm Weight Watchers bedeutet der Titel im Deutschen so viel wie „nimm dich in Acht, Betrachter“) hat die korpulente Fotografin die Reaktionen fremder Menschen auf ihr Äußeres festgehalten. Auf die Idee kam sie durch Zufall, als sie in New York einige Bilder von sich aufnahm. Bei der Durchsicht fiel ihr im Hintergrund ein Mann auf, der sie geringschätzig ansah. „Wie sieht die denn aus!“, Sätze wie dieser oder ähnliche stehen den Menschen ins Gesicht geschrieben, die Morris-Cafiero in Städten wie Prag, Los Angeles oder Barcelona mit der Kamera auf einem Stativ und Selbstauslöser knipste, während die sie im Vorbeigehen musterten.
Jeder Achte vermeidet bewusst Kontakt zu dicken Menschen
Etwa 70 Prozent der Deutschen finden dicke Menschen unästhetisch und jeder Achte vermeidet bewusst den Kontakt mit ihnen, ergab eine Forsa-Umfrage für die DAK. Dabei neigen die meisten Deutschen selbst zu Übergewicht: 67 Prozent der Männer und 53 Prozent der Frauen, fand das Robert Koch-Institut heraus. Dicksein ist für viele Menschen gleichbedeutend mit undiszipliniert, faul, willensschwach. „Selbst schuld, wenn sie sich besser im Griff hätten, könnten sie dünner sein“, ist ein gängiges Vorurteil gegenüber Übergewichtigen. Sich so gehen zu lassen – nicht hinnehmbar für eine Gesellschaft wie die unsere, die nach dem Leistungsprinzip funktioniert.
Warum dicke Menschen so häufig Anfeindungen, Demütigungen und Beleidigungen ausgesetzt sind, hat Friedrich Schorb, Gesundheitssoziologe an der Universität Bremen, untersucht. Zunächst aber räumt er damit auf, dass Dicksein gleichbedeutend mit ungesunder Lebensweise ist. „Körpergewicht ist eine viel komplexere Angelegenheit als Nachlässigkeit, Faulheit und Dummheit“, erklärt Schorb. Vielmehr seien Faktoren wie die Genetik, aber auch strukturelle Verhältnisse wie Wohlstand, Wohnort und die Vorgaben des Alltags eines Menschen zu berücksichtigen. „Wer wenig Geld hat, hat zu bestimmten Lebensmitteln keinen Zugang.“ Der Gesundheitsaspekt sei daher nur vorgeschoben, meint Friedrich Schorb.
Jobsuche, Gehaltsverhandlungen - alles schwieriger
Schon gar nicht rechtfertige das Gesundheitsargument aber die Diskriminierung, wie sie Dicke am Arbeitsmarkt, im medizinischen Bereich oder im Bildungssystem erfahren. „Es ist nachgewiesen, dass dicke Kinder weniger oft eine Gymnasialempfehlung erhalten als schlanke“, führt er als Beispiel an. Die Jobsuche, die Gehaltsverhandlung, der Karrieresprung, all das sei schwieriger mit einigen Kilos mehr auf der Waage. Im Alltag stießen Fettleibige zudem an Grenzen, wenn Stühle zu schmal, Toiletten zu eng oder Kleidung ab Größe 48 nicht verfügbar sei. Bei Ärzten würden Dicke oft nicht so genau untersucht, sondern mit dem Hinweis abgewimmelt: „Jetzt nehmen sie erst mal ab, dann wird es ihnen schnell besser gehen.“ Berücksichtige man das alles, sei das Stigma, das dicke Menschen erleiden, für ihre Gesundheit schädlicher als die Folgen ihres Körpergewichts, meint Schorb.
Gewichtsdiskriminierung ist für den Gesundheitssoziologen, der auch im Vorstand der Gesellschaft gegen Gewichtsdiskriminierung ist, nicht nur ein individuelles Problem, das großes persönliches Leid erzeugt, sondern ein gesellschaftliches. Der Ansatz „Wenn ich mich schön finde, dann findet mich auch die Gesellschaft schön“, reicht ihm als Strategie, wie sie die Body-Positivity-Bewegung verfolgt, deshalb nicht aus. Vielmehr müsse ein Bewusstsein dafür geschaffen werden, dass Diskriminierung falsch ist – in den Medien, in der sozialen Arbeit, in den Schulen, auch vor dem Gesetz. „Wir müssen mehr Sensibilität entwickeln und die Vielfalt von Körpern akzeptieren.“ Diversität und Toleranz – für Hautfarbe, sexuelle Orientierung, Religion und Alter sind diese Kategorien schon etabliert, für das Körpergewicht noch nicht. Dies etwa bemängelt die Gesellschaft gegen Gewichtsdiskriminierung.
"Kommentare über fremde Körper stehen uns nicht zu"
Melodie Michelberger bläst in dasselbe Horn. „Wir müssen uns bewusst werden, wie wir über die Körper von anderen Menschen reden.“ Der Hinweis an die Tochter, dass die Bluse aber sehr eng sitze, die Empfehlung an den Ehemann, jetzt wirklich mal weniger Bier zu trinken, weil der Bauch mittlerweile über den Hosenbund hänge – eindeutig übergriffig, findet Melodie Michelberger. Für die Körperaktivistin ist die kritische Meinung über den Körper immer Bodyshaming. „Wir sind es gewohnt, Kommentare über Körper abzugeben, zu vergleichen.“ Das stehe uns nicht zu, meint sie. Der Hass, der Menschen mit mehr Gewicht entgegenschlägt, ist für sie allgegenwärtig.
Die Diätindustrie profitiert davon, dem entgehen zu wollen. Der Blick auf den Zeitschriftenständer im Supermarkt offenbart es: „Schlank in sieben Tagen“, „Bikinifigur mit Low Carb“, „Intervallfasten gegen lästige Pfunde“, so oder so ähnlich prangt es einem auf den Titelblättern der Frauenzeitschriften entgegen. Die Liste der Wunderdiäten ist lang und die Fettpolster, die sich im Winter auf Hüften, Bauch und Oberschenkel gelegt haben, machen empfänglich für das Versprechen, rechtzeitig zum Frühling wieder rank und schlank zu sein.
Überall lauern die Botschaften, den Körper zu verändern
Und das ist nun einmal das Idealbild, dem die meisten Menschen entsprechen wollen. Überall lauern die Botschaften, den Körper zu verändern, um erfolgreich zu sein und akzeptiert zu werden: in der Werbung, in Film und Fernsehen, in den Gesprächen mit Freundinnen und Freunden. Diätkultur, das ist längst nicht nur das Abnehmen nach Programm. Mode, Wellness, Fitness, Kosmetik, alles ist darauf ausgerichtet, den scheinbar fehlerhaften Körper zu optimieren. Auch das ist Body-Shaming – in diesem Fall am eigenen Körper.
Melodie Michelberger hatte viele Jahre das Gefühl, dass ihr Körper nicht richtig war – auch befeuert durch ihre Tätigkeit als Redakteurin für die Zeitschriften Gala und Brigitte. Den Beginn dieses Denkens kann sie genau an einem Ereignis festmachen: Als sie sich mit sieben Jahren in einen Rock verliebte. Unbedingt wollte sie jenes flatterige Teil mit dem bunten Muster haben, aber ihre Mutter meinte nur: „Das betont deinen dicken Hintern.“ In ihrem Buch „Body Politics“ (Rowohlt) beschreibt Michelberger, wie sie in ihrem Umfeld umgeben war von Frauen, die ständig übers Abnehmen sprachen. „Ich begriff, dass Diäten eine Eintrittskarte in das Frauenleben sind.“ Mit zwölf machte sie ihre erste, mit Ende 30 die letzte. „Dabei war ich mein ganzes Leben lang schlank, erst jetzt bin ich dick“, sagt die 46-Jährige und verwendet ganz bewusst dieses Wort, das ihr immer Angst machte. „Das habe ich für mich zurückerobert.“
Melodie Michelberger tritt mit ihren Pfunden heute offensiv auf
Wenn sie sich heute beschreibt, verwendet sie auch Begriffe wie „weich“, „rund“, vor allem aber „stark“ – und sie meint das nicht nur in figürlicher Hinsicht. Nach unzähligen Diäten, Magersucht und einem Zusammenbruch tritt sie heute mit all ihren Pfunden offensiv auf, trägt bunte, eng anliegende Kleidung und postet auf Instagram Fotos von sich in Unterwäsche mit Speckrollen und Hautdellen. Wenn sie dafür dumme Kommentare erntet, kann sie das zwar aufregen, aus der Bahn wirft es sie aber nicht mehr. Ungesund? Darüber kann Melodie Michelberger nur lachen. Als sie schlank sein wollte, ihrem Körper die Nahrung verweigerte, lebte sie ungesund. Heute ernährt sie sich vielseitig und vegetarisch, dreimal in der Woche geht sie zum Eislauftraining an der frischen Luft. „Aber selbst wenn ich mich nicht bewegen und den ganzen Tag Sahnetorte essen würde, hätte ich doch Respekt verdient.“