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Gesellschaft: Magersucht: "Wenn es schlimm wird, dann bist du nur noch die Essstörung"

Bei einer Magersucht kreisen die Gedanken um Essen, Gewicht, Figur. Doch das ist nur ein Symptom für tieferliegende psychische Probleme.
Foto: Adobe Stock
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Magersucht: "Wenn es schlimm wird, dann bist du nur noch die Essstörung"

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    Triggerwarnung: In diesem Text wird ein gestörtes Essverhalten, ein lebensgefährliches Untergewicht, Depressionen und Körperbilder thematisiert. Wer sich mit diesen Themen unwohl fühlt oder negative Erfahrungen gesammelt hat, den kann der Inhalt womöglich belasten. Es werden bewusst keine konkreten Zahlen, insbesondere Körpergewicht oder Kalorienangaben, genannt. In dieser Geschichte trägt die Protagonistin den Namen Frida. Im wahren Leben heißt die junge Frau anders.

    In einem Augsburger Café nippt Frida – lange, blonde Haare, wacher Blick – an ihrem Kaffee. Wer die 23-jährige Studentin heute kennenlernt, für den zeichnet sich das Bild einer selbstbewussten und klugen Frau, die mitten im Leben steht. Top-Noten im Deutsch- und Sportstudium, gute Freunde, eine glückliche Beziehung. Sie ist wohl eine dieser Frauen, die als High-Performer bezeichnet werden. Leistungsträger, die scheinbar alles gemeistert bekommen und dabei auch noch gut aussehen. Dabei befand sich Frida erst vor einem Jahr an einem "persönlichen Tiefpunkt", wie sie es nennt. Seit zehn Jahren kämpft Frida gegen die gefährlichste Form einer Essstörung: Magersucht, auch Anorexie genannt. Diese Krankheit hat der 23-Jährigen schon mehrmals fast das Leben gekostet. "Die Ärzte haben gesagt: Wenn du auch nur 100 Gramm weiter abnimmst, dann bekommst du eine Magensonde gelegt", erinnert sich die Studentin. "Erst in diesem Moment habe ich realisiert, wie schlimm es wirklich ist." 

    Anorexie ist eine psychosomatische Erkrankung, die den Betroffenen wie ein kleiner Teufel auf der Schulter sitzt und ihnen einredet, dass sie genau das Richtige tun, während sie ihren Körper zugrunde richten. Dass sie es nicht verdient haben, ausreichend zu essen und zu entspannen. Dass sie gar nicht krank sind, sondern alles unter Kontrolle haben. Dabei ist es eigentlich die Krankheit, die sie kontrolliert. Seit einigen Jahren rutschen immer mehr Menschen, besonders junge Frauen, in eine Essstörung. Die Pandemie war dabei das Brennglas, unter dem diese Entwicklung besonders sichtbar wurde. Seit 2020 sind die Fallzahlen bei Essstörungen zwischen 30 und 40 Prozent gestiegen, zusätzlich ist von einer nicht geringen Dunkelziffer auszugehen. Das geht aus einer Studie des Robert-Koch-Instituts hervor. Auch die Krankenkasse DAK Bayern kommt durch eine Datenanalyse auf ein erschreckendes Ergebnis: Im vergangenen Jahr sind in Bayern 49 Prozent mehr Mädchen zwischen 15 und 17 Jahren wegen einer Essstörung ins Krankenhaus gekommen als noch 2019. Insgesamt leiden etwa ein Prozent der weiblichen Bevölkerung in Deutschland und damit rund 420.000 Mädchen und Frauen an einer diagnostizierten Anorexie, bei der männlichen Bevölkerung ist es etwa 0,1 bis 0,4 Prozent. Zusätzlich weisen rund 20 Prozent der Jugendlichen zwischen 14 und 17 Jahren einzelne Symptome einer Essstörung auf. 

    Das Josefinum in Augsburg spürt die starke Zunahme an Essstörungen

    Rupert Müller, therapeutischer Leiter des Fachbereichs Essstörungen der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie am Josefinum in Augsburg, ist tagtäglich mit Betroffenen in Kontakt. Neben einer ambulanten Behandlung bietet das Josefinum 15 stationäre Plätze, die für Jugendliche mit verschiedenen Störungsbildern vorgesehen sind. "In den vergangenen beiden Jahren waren diese Plätze häufig zu 100 Prozent mit Betroffenen von Essstörungen belegt. Teilweise hatten wir sogar eine Überbelegung, weil wir gar nicht wussten, wie wir all die Betroffenen anders versorgt bekommen", berichtet der Psychologe. Die Anorexie sei dabei die häufigste Form der Essstörung im stationären Setting. 

    In einer stationären Behandlung beschäftigen sich die Betroffenen auch häufig im Rahmen einer Kunsttherapie mit ihrem Körper- und Selbstbild.
    In einer stationären Behandlung beschäftigen sich die Betroffenen auch häufig im Rahmen einer Kunsttherapie mit ihrem Körper- und Selbstbild. Foto: Imago/ Uwe Müller

    Müller sieht eine Ursache in dem "Selbstoptimierungswahn" unserer Gesellschaft. Besonders auf Frauen ist der gesellschaftliche Druck in den vergangenen Jahrzehnten enorm gestiegen: Sie sollen nicht nur Kinder bekommen und den Haushalt schmeißen, sondern daneben auch noch arbeiten, sich gesund ernähren, Sport treiben und gut aussehen. Es lässt sich sogar behaupten, dass wir in einer Gesellschaft leben, die Essstörungen geradeso selbst produziert. Man denke nur an die Kommentare, die mit hoher Wahrscheinlichkeit fallen, wenn jemand Kuchen in die Schule oder das Büro mitbringt. "Ach, das springt gleich auf die Hüfte!" – "Wow, wie toll, dass du dich so beherrschen kannst!" – "Du machst ja viel Sport, dann darfst du dir das Stück Kuchen erlauben!" Wer beim Essen und Sport Disziplin zeigt, der wird gelobt und bewundert. Solche gesellschaftliche Normen resultieren zuerst in eine gestörte Körperwahrnehmung: Laut der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung empfinden sich gut die Hälfte aller 15-jährigen Mädchen und ein Fünftel der gleichaltrigen Jungen als zu dick – obwohl sie normal gewichtig sind. Mehr als die Hälfte der 15-jährigen Mädchen hat bereits eine oder mehrere Diäten gemacht. 

    Anorexie als eine Krankheit, die von der Gesellschaft befeuert wird

    "Jede Diät steigert das Risiko, in eine Anorexie zu rutschen", warnt der Experte. Bei vielen Betroffenen beginnt die Krankheit auch damit, dass sie "nur ein paar Kilos" abnehmen wollen. "Dann bekommen sie häufig Komplimente und werden darin bestärkt, weiterzumachen. Das entwickelt sich bei einigen zu einer suchthaften Spirale, aus der sie nur schwer wieder alleine herauskommen." Anorexie als eine Krankheit, die – zumindest in der Frühphase – von der Gesellschaft geradezu befeuert wird. Und dennoch zirkuliert über Magersucht viel Halbwissen, sagt Müller. 

    Was verbirgt sich also hinter dieser Krankheit? Wichtig ist: Das Runterhungern ist meist nur die Spitze des Eisbergs, das sichtbare Symptom für tiefliegende psychische Probleme. "Die Betroffenen leiden oft unter einem geringen Selbstwert, extremen Leistungsdruck, Perfektionsstreben, Angst vor Ausgrenzung oder Ablehnung und einem hohen Kontrollbedürfnis", erklärt Müller. Natürlich spielen aber auch gesellschaftliche Schönheitsideale eine Rolle. Welche Faktoren überwiegen, ist von Fall zu Fall unterschiedlich: "Bei manchen steht der Wunsch, möglichst dünn zu sein, sehr im Fokus. Bei anderen handelt sich vielmehr um einen dysfunktionalen Bewältigungsversuch in psychischen Krisen."

    Bei einer Anorexie kreisen die Gedanken ständig um das Thema Essen, Gewicht, Figur und Sport.
    Bei einer Anorexie kreisen die Gedanken ständig um das Thema Essen, Gewicht, Figur und Sport. Foto: Imago/sirijit Jongcharoenkulchai

    Belastende Ereignisse, Stress, Mobbing oder familiäre Krisen können dazu führen, dass sich besonders junge Menschen emotional überfordert fühlen. In diesen Fällen droht die Gefahr, dass die Betroffenen unbewusst versuchen, die negativen Gefühle durch das zwanghafte Abnehmen zu kompensieren. "Die Kontrolle über Essen und Gewicht wirkt stabilisierend und dient dazu, die negativen Gefühle auszublenden", sagt Müller. Denn in einem Leben, in dem der Alltag von einer Essstörung bestimmt wird, ist kein Raum dafür, sich mit den zugrundeliegenden Gefühlen und Problemen auseinanderzusetzen. Was esse ich wann, damit ich eine bestimmte Kalorienzufuhr nicht überschreite? Wie kann ich sozialen Situationen entkommen, die mit Essen verbunden sind? Wie kann ich möglichst viel Sport in meinen Alltag einbauen? Frida kennt all diese plagenden Fragen. "Dieses Kreisen der Gedanken ist für mich das Schlimmste an der Essstörung. Wie so eine Schallplatte, die die ganze Zeit dasselbe spielt", beschreibt es die 23-Jährige. "Gleichzeitig ist es aber auch ein krasses Machtgefühl, etwas zu schaffen, das so viele nicht schaffen. Wenn man denkt, dass alles um einen herum zusammenbricht, dann gibt einem die Essstörung so ein starkes Gefühl von Kontrolle." Viele Betroffene beschreiben die Anorexie daher als eine – vermeintlich – gute Freundin, die ihnen Halt gibt. 

    In der Pandemie hat das Abnehmen vielen Menschen Halt gegeben

    Das kann als Erklärung dienen, warum gerade in der Pandemie so viele Menschen in eine Anorexie gerutscht sind. "Während Corona sind viele Strukturen und soziale Kontakte plötzlich weggebrochen. Das hat besonders bei Jugendlichen große Verunsicherung, Angst oder Stress ausgelöst. Für viele hat dann das Abnehmen besonders stabilisierend gewirkt", erläutert Müller. Besonders gefährdet sind Mädchen zwischen 14 und 17 Jahren, doch auch immer mehr Elfjährige sind betroffen. Als Brandbeschleuniger gilt auch der gestiegene Konsum von sozialen Medien, in denen während der Pandemie umso mehr Inhalte über Diäten und Work-outs gepostet wurden. 

    Auf Social Media teilen immer mehr junge Menschen ihren Weg aus der Essstörung. Für Betroffene kann das einerseits hilfreich sein, andererseits bieten solche "Recovery Accounts" aber auch einige Trigger.
    Auf Social Media teilen immer mehr junge Menschen ihren Weg aus der Essstörung. Für Betroffene kann das einerseits hilfreich sein, andererseits bieten solche "Recovery Accounts" aber auch einige Trigger. Foto: Monika Skolimowska, Dpa

    Der Bereichsleiter beobachtet, dass es in vielen Fällen nicht mehr nur darum geht, möglichst dünn zu sein. Stattdessen orientiere sich das Körperideal an Zuschreibungen wie "durchtrainiert", "athletisch" und "fit". "Durch diesen Fitnesswahn leiden mittlerweile auch mehr Männer unter dem Zwang, ihren Körper zu optimieren", sagt Müller. Sobald das Training zwanghafte Züge annimmt und zur Gefühlsregulation eingesetzt wird, wird von einer Muskelsucht oder Muskeldsymorphie gesprochen. Früher wurde diese Verhaltensstörung auch "männliche Anorexie" genannt, doch mittlerweile sind auch immer mehr Frauen betroffen. Häufig dann, wenn diese bereits in einer Anorexie gesteckt haben. In den sozialen Medien lassen sich viele "Recovery (Genesung) Accounts" finden, in denen Betroffene von ihrem Weg aus der Anorexie erzählen – doch gleichzeitig unter dem Hashtag "strong not skinny" (stark statt dünn) ihr Sportpensum und proteinreiche Ernährung anpreisen. Dass es sich dabei häufig genauso um eine Kompensation und einen Zwang handelt, wird oft nicht thematisiert. Schließlich gilt ein sportbetonter Lebensstil in unserer Gesellschaft als lobenswert und der Leidensdruck bleibt meist unsichtbar.

    Einzelne Kommentare im Alltag können Essstörungen triggern

    Frida ist sich der Tatsache bewusst, dass ihr Sportverhalten nicht gesund ist. Ihr Plan sieht sechs Sporteinheiten in der Woche vor. "Es fällt mir total schwer, auch nur einen Tag davon ausfallen zu lassen." Auch die Studentin beschreibt die sozialen Medien als toxisch: "Wenn man einmal in diese Ernährungs- und Fitnessbubble hineingeraten ist, dann bekommt man nur noch solche Inhalte angezeigt und vergleicht sich ständig mit dem, was man dort sieht." Doch natürlich ist die Schuld nicht nur bei den sozialen Medien zu suchen. Auch kleine Kommentare im Alltag können eine Essstörung triggern.

    An einen Abend vor zehn Jahren kann sich Frida genau erinnern. Damals war sie auf einer Übernachtungsparty eingeladen. Beim Flaschendrehen entscheidet sich die damals 13-Jährige für eine Pflichtaufgabe – und muss vor allen ihr T-Shirt ausziehen. "Ein Junge meinte: An deiner Stelle würde ich lieber nichts Bauchfreies anziehen", erzählt Frida. Noch am selben Abend stellte sich das Mädchen auf die Waage und beschloss, fortan "besser" auf ihre Figur zu achten. Immer häufiger ließ sie das Abendessen ausfallen. 

    Langsames Essen, ausgiebiges Kauen oder nur bestimmte Lebensmittel auf dem Teller: Bei Kindern kann sich hinter Essensritualen eine Essstörung verbergen.
    Langsames Essen, ausgiebiges Kauen oder nur bestimmte Lebensmittel auf dem Teller: Bei Kindern kann sich hinter Essensritualen eine Essstörung verbergen. Foto: Christin Klose, dpa

    Psychologe Müller kennt unzählige Geschichten wie diese. "Die Pubertät ist eine kritische Phase, in der sich der Körper verändert und viel im Umbruch ist", sagt er. Auch wenn Frida bereits mit 13 Jahren angefangen hat, auf ihre Figur zu achten, sei sie erst mit 16 "so richtig in die Anorexie gerutscht". Doch ab wann spricht man eigentlich von einer Anorexie? Der Experte nennt zwei entscheidende Kriterien: Erstens, ein Body-Mass-Index (BMI), der unter einen bestimmten Bereich fällt und zweitens, ein zwanghaftes Verhalten, das den Gewichtsverlust bewusst herbeigeführt hat. Bei Kindern und Jugendlichen wird bei der Diagnose ein BMI verwendet, der auch das Alter berücksichtigt. Von einer Anorexie spricht man dann, wenn dieser Wert unter die zehnte Perzentile fällt. Bei Erwachsenen beginnt das Untergewicht unter einem BMI von 18,5. Ab einem BMI von 14 besteht ein kritisches Untergewicht, das lebensbedrohlich werden kann. 

    Betroffene: "Das Schlanksein wurde zu einem Teil meiner Identität"

    Frida war eigentlich "schon immer" groß und schlank. Diese Eigenschaften hat auch ihr Umfeld immer wieder hervorgehoben. "Mir wurde oft gesagt, dass ich doch zu Germany's Next Topmodel gehen soll. Irgendwann haben mich diese Kommentare so genervt, weil es immer nur um mein Aussehen ging. Hätten sie nicht mal sagen können, dass mich auch andere Eigenschaften auszeichnen, dass ich humorvoll oder nett bin?", fragt Frida mit einem leichten Ärger in der Stimme. "Dadurch wurde das Schlanksein zu einem Teil meiner Identität. Ich glaube, deshalb fällt es mir auch so schwer, die Essstörung komplett loszulassen. Denn wer bin ich noch ohne sie?" Selbst, wenn Betroffene realisieren, dass sie krank sind und zunehmen müssen, halten sie die Gedanken und Verhaltensmuster der Essstörung oft noch lange gefangen. Denn wer lässt schon bereitwillig eine gute Freundin los, die einem in einer schweren Phase vermeintlich Halt gegeben hat? 

    Rupert Müller ist der Therapeutische Leiter des Fachbereichs Essstörungen der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie am Josefinum in Augsburg.
    Rupert Müller ist der Therapeutische Leiter des Fachbereichs Essstörungen der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie am Josefinum in Augsburg. Foto: Anna-Lena Kuhn

    Psychologe Müller arbeitet in der Therapie gerne mit der Metapher einer Autobahn: "Je öfter wir einen Gedanken denken und ein Verhalten ausleben, desto fester verknüpfen sich bestimmte Synapsen im Gehirn. Es entstehen quasi Autobahnen, die manchmal über Jahre hinweg befahren werden. Wenn ich nun plötzlich von diesen Strecken abweichen muss, ist das extrem mühsam." Dazu kommt das viele Anorektische unter einer Körperschemastörung leiden: Sie erleben sich, als dicker als sie tatsächlich sind. 

    Auch für Frida ist der Kampf gegen die Anorexie seit zehn Jahren ein "krasses Auf und Ab". Das erste Mal akut wurde die Krankheit, als die gebürtige Stuttgarterin in die elfte Klasse kam. "Ich war schon immer extrem ehrgeizig und habe mich enorm unter Druck gesetzt. Wenn ich nicht überall gute Noten geschrieben habe, ist gefühlt meine Welt zusammengebrochen." Also fing sie an, immer weniger zu essen, um wieder Erfolg und Kontrolle zu spüren. Zu den Hochphasen aß sie an manchen Tagen nur einen Apfel oder gar nichts. "Mit 16 war ich richtig besessen von der Waage und habe mich zehnmal am Tag draufgestellt", erzählt die Studentin. Frida vermutet, dass auch die Situation in der Klassengemeinschaft ihre Essstörung befeuert hat: "Ich war früher recht laut und selbstbewusst und bin dadurch ab und zu angeeckt. Deshalb dachte ich mir irgendwann: Okay, dann nehme ich mich jetzt lieber zurück und werde weniger, damit ich nicht mehr so auffalle." 

    Magersüchtige haben teilweise Gehirne wie die eines Alzheimer-Patienten

    In nur zwei Monaten verlor Frida sehr viel Gewicht. Genaue Zahlen möchte die junge Frau nicht nennen. "Fakt ist nur: Ich war in einem gefährlichen Zustand." Starkes Untergewicht kann eine Reihe an gesundheitlichen Folgen mit sich bringen. Zu den harmloseren Folgen zählt ständiges Frieren, Haarausfall, brüchige Nägel, Magen-Darm- und Kreislaufbeschwerden. Daneben verlangsamt sich der Herzschlag und es kann zu Herzrhythmusstörungen kommen. "Wenn Betroffene länger im extremen Untergewicht sind, dann kann eine atypische Hirnatrophie auftreten", ergänzt Psychologe Müller. Das bedeutet: Das Gehirnvolumen schrumpft. "In bestimmten Fällen weisen die jungen Menschen sogar Gehirne auf, die denen 80-jähriger Alzheimer-Patienten ähneln können." Die gute Nachricht: In der Regel ist diese Atrophie nach einer Gewichtsrehabilitation reversibel, das heißt, sie bildet sich zurück. Die schlechte: Bei anderen veränderten Stoffwechselprozessen im Gehirn geht die Forschung davon aus, dass die Schäden nicht mehr vollkommen reversibel sind. Des Weiteren schwindet durch das Untergewicht die Knochendichte, das Risiko für Osteoporose steigt also. Besonders dann, wenn die Periode ausbleibt. Auch nach der aktiven Phase einer Magersucht kämpfen viele Betroffene teilweise Jahre damit, wieder einen regelmäßigen Zyklus und eine gesunde Verdauung herzustellen. 

    Hilfsangebote bei Magersucht in der Region

    Beratungsstelle Schneewittchen in Augsburg: Hier können sich Menschen beraten lassen, die unter ihrem Essverhalten leiden oder auch Eltern, die sich um die Gesundheit ihrer Kinder sorgen. In der Einzelberatung wird individuell geschaut, welches Therapiekonzept am sinnvollsten ist. Die Beratungsstelle hilft bei der Kontaktvermittlung. Daneben finden verschiedene Gruppenangebote statt. Neben einer wöchentlichen Gesprächsgruppe für aktiv Betroffene gibt es auch eine für Angehörige und eine für ehemals Betroffene. "Das Schneewittchen" wird größtenteils über den SOS-Kinderdorf e.V. und die Stiftung "Leben mit Magersucht" finanziert.

    Weitere Beratungsstellen: Der Verein Therapienetz Essstörung mit Sitz in München ist mit verschiedenen Hilfs- und Präventionsangeboten zwölf Mal in Bayern vertreten - etwa in Landsberg am Lech, Augsburg und Ingolstadt. In München, Weilheim und Kempten ist außerdem der Verein ANAD tätig.

    Wohngruppen in Augsburg und München: Für manche Betroffene ist der Sprung von einer Klinik zurück in den Alltag zu groß. Besonders dann, wenn sie in ein familiäres Umfeld zurückziehen sollen, das ihre Essstörung befeuert hatte. In diesen Fällen können therapeutische Wohngruppen helfen. Wie etwa die "Sonnen WGs" des Vereins "Therapienetz Essstörung am Münchner Stachus oder die Wohngruppe Papillon des Frère-Roger-Kinderzentrums in Augsburg.

    Trotz allem kommt es häufig auch zu einem paradoxen Symptom: Viele Magersüchtige erleben sich lange als fit und leistungsfähig. Dabei bieten Botenstoffe eine Rolle. Zum einen setzt das Abnehmen, besonders in der Anfangsphase, Glückshormone frei. Zum anderen gibt es einen Mechanismus, der unseren Körper im Untergewicht erst einmal aktiviert. Das lässt sich evolutionsbiologisch erklären: Wenn ein Körper merkt, dass eine Hungerkrise herrscht, dann aktiviert er all seine Energie, um auf Nahrungssuche gehen zu können. "Aber irgendwann ist der Körper so ausgezehrt, dass die totale Erschöpfung auch sehr abrupt, wie ein harter Fall, eintreten kann", erklärt Müller. Nicht selten kommt es auch vor, dass die Erschöpfungsphase erst dann eintritt, wenn die Betroffenen wieder zunehmen oder bereits im Normalgewicht sind. Ein Zeichen dafür, dass sich der Körper erst dann wieder Ruhe und Erholung erlaubt. 

    Betroffene: "Wenn es schlimm wird, dann ist man nur noch die Essstörung"

    Frida kennt dieses Phänomen: "Relativ lange habe ich mich auch energiegeladen gefühlt und viel Sport gemacht. Aber irgendwann kam dieser Punkt, als mir komplett die Kraft ausging. Dann konnte ich sogar kaum noch laufen." Die schlimmsten Schmerzen erlebte Frida nachts, wenn sie vor Hunger wach lag und trotzdem nichts essen konnte, weil diese Stimme in ihr so laut war. Durch das Untergewicht ist sie auch emotional abgestumpft und hat sich sozial isoliert: "Umso niedriger das Gewicht wurde, umso weniger konnte ich irgendetwas fühlen. Wenn es richtig schlimm wird, dann ist man nur noch die Essstörung. Man ist nicht mehr man selbst, weil man sich selbst und sein Umfeld ständig belügt." Oft hat sich Frida mit ihrer Mutter gestritten, obwohl die beiden eigentlich ein gutes Verhältnis haben. Manchmal ging es dabei nur um eine Scheibe Brot, die Frida partout nicht essen wollte. "Mir war einfach alles egal. Sogar, ob ich lebe oder sterbe", sagt die 23-Jährige. 

    Anorexie ist die psychische Erkrankung mit der höchsten Sterberate. Bei etwa jeder Zehnten endet sie tödlich. Ein Teil davon stirbt an einem Multiorganversagen, etwa fünf Prozent nehmen sich selbst das Leben. Denn die Magersucht geht häufig mit Begleiterkrankungen wie Depressionen, Borderline- oder Angststörungen einher. Auch Frida ist im vergangenen Jahr in eine Erschöpfungsdepression gerutscht. Das hat wiederum die anorektische Stimme in ihr befeuert. "Mir ging es so schlecht, aber ich konnte das kaum in Worte fassen. Wenn ich dagegen stark abnehme, dann merkt mein Umfeld automatisch, dass es mir nicht gut geht", reflektiert sie. Nicht selten dient eine Anorexie als stummer Hilfeschrei, weil die Betroffenen ihre Emotionen nicht verbal kommunizieren können. 

    Viele Kliniken arbeiten neben der Therapie mit Gewichtsverträgen

    Als Frida mit 16 Jahren immer dünner wurde, zog ihr Vater schließlich die Notbremse und versuchte, einen Platz in einer Spezialklinik zu organisieren. Oftmals beträgt die Wartezeit allerdings drei bis vier Monate. "Ich habe gehört, wie mein Vater am Telefon verzweifelt gesagt hat: Bis dahin lebt mein Kind halt nicht mehr", erzählt Frida. Aus diesem Grund wurde das Mädchen in eine Akutklinik aufgenommen. Neben Einzel- und Gruppentherapien gehörten zur Behandlung feste Gewichtsverträge. Das bedeutet: Mit den Betroffenen wird eine Gewichtszunahme vereinbart, die sie wöchentlich erreichen sollen. Um Anreize zu setzen, arbeiten viele Kliniken mit einem Belohnungssystem: Wer sein Gewichtsziel erreicht, der darf mehr Zeit außerhalb der Klinik verbringen, am Wochenende nach Hause fahren oder wieder mit Sport anfangen. Im Nachhinein sieht Frida dieses Konzept kritisch: "Durch dieses Belohnungssystem habe ich zwar zugenommen, aber es ist in meinem Kopf gar nicht richtig angekommen." 

    Das Josefinum bietet 15 stationäre Plätze, die für Jugendliche mit verschiedenen Störungsbildern vorgesehen sind. Anorexie-Betroffene verbringen dort im Schnitt drei Monate.
    Das Josefinum bietet 15 stationäre Plätze, die für Jugendliche mit verschiedenen Störungsbildern vorgesehen sind. Anorexie-Betroffene verbringen dort im Schnitt drei Monate. Foto: Anna-Lena Kuhn

    Auch das Josefinum arbeitet mit Gewichtsverträgen. Müller kann Fridas Kritik nachvollziehen: "Wenn zu viel Druck hinter der Zunahme steckt, steigt das Risiko, dass sich die Patientinnen und Patienten nur aus der Klinik rausessen. Das bedeutet: Sie erreichen zwar das geforderte Gewicht, aber nur aus der Motivation heraus, möglichst schnell wieder nach Hause zu dürfen." In diesen Fällen dauert es oft nicht lange, bis die Betroffenen wieder an Gewicht verlieren. "Das Gewicht zu normalisieren, ist in der Genesung oft noch das unkomplizierteste", betont der Experte. Eine Therapie ist nur dann nachhaltig, wenn sie wirklich an das Eingemachte geht: Was steckt hinter der Essstörung, welche Funktion erfüllt sie für mich? Verdränge ich durch das zwanghafte Verhalten negative Gefühle? Wie kann ich das Kontrollgefühl, das mir die Anorexie gegeben hat, durch gesunde Verhaltensweisen herstellen? "Ohne eine aktive, therapeutische Arbeit an den psychischen Ursachen ist eine Genesung kaum möglich. Das bedeutet: eine Arbeit am Selbstwert, dem Kontrollzwang und verschiedenen Ängsten", sagt Müller. 

    Nicht nur Mädchen: Immer mehr erwachsene Frauen rutschen in eine Anorexie

    Wenn eine Anorexie stationär behandelt werden muss, verbringen Betroffene im Schnitt drei Monate in einer Klinik. In Einzelfällen kann eine stationäre Behandlung auch neun bis zwölf Monate dauern. Und dennoch: Das Rückfallrisiko ist laut Müller hoch: "Auch nach zehn gesunden Jahren können die alten Muster in einer schwierigen Lebensphase erneut auftreten." In Studien haben nur rund die Hälfte der befragten Erwachsenen, die eine aktive Magersucht überwunden haben, angegeben, dass sie sich vollkommen genesen fühlen. Trotzdem kann die deutliche Mehrheit ihren Alltag wieder normal bestreiten. Dass auch erwachsene Frauen an Anorexie leiden, zeigen Daten der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV): Im Jahr 2017 wurden mehr als 10.000 Frauen zwischen 30 und 40 Jahren wegen Magersucht behandelt. Bei den 40- bis 50-Jährigen waren es etwa 6400. Besonders in den Wechseljahren sind Frauen abermals gefährdet, eine Essstörung zu entwickeln. Doch gerade in diesen Fällen bleibt die Krankheit oft unbehandelt: Schließlich hält sich in der Gesellschaft das Bild der Magersucht als eine Krankheit, die nur junge Mädchen betrifft. 

    Sonja Nowotny leitet die Wohngruppen des Therapienetzes Essstörung in München.
    Sonja Nowotny leitet die Wohngruppen des Therapienetzes Essstörung in München. Foto: Paula Binz

    Es geht nicht nur darum, "einfach wieder mehr zu essen"

    Auch wenn Essstörungen immer präsenter werden, stoßen Magersüchtige oft auf Unverständnis, sagt Psychologe Müller. Die häufigste Fehlannahme: Die Betroffenen müssen "einfach nur wieder mehr essen". Im Josefinum bietet die Station regelmäßige Infoabende für Eltern an. "Viele Eltern erleben sich als sehr hilflos, wenn das Kind eine Essstörung entwickelt", berichtet Müller. Einen Königsweg, wie das Umfeld mit der Krankheit umgehen sollte, gibt es leider nicht. Was für das Kind hilfreich ist, kann verschieden sein: "Manchen tut es zum Beispiel gut, wenn die Eltern das Essverhalten im Blick behalten und sachte darauf hinweisen, wenn man wieder weniger isst. Und anderen ist es lieber, wenn sich die Eltern ganz heraushalten." Kommentare zum Essverhalten bergen das Risiko, dass die Betroffenen auch gut gemeinte Ratschläge als Vorwurf auffassen. Dem lässt sich durch gewisse Formulierungen vorbeugen. Anstatt nur zu sagen: "Du isst ja schon wieder weniger!", ist es ratsam, lieber die Beobachtung mitzuteilen und nach den Gründen zu fragen: "Ich sehe, dass es dir momentan wieder schwerer fällt, ausreichend zu essen. Belastet dich etwas?"

    In den "Sonnen WGs" am Stachus in München wohnen Jugendliche und Erwachsene mit Essstörungen zusammen.
    In den "Sonnen WGs" am Stachus in München wohnen Jugendliche und Erwachsene mit Essstörungen zusammen. Foto: Paula Binz

    Eine Essstörung belastet die gesamte Familie. Besonders Eltern stellen sich häufig die Frage: Bin ich schuld an der Erkrankung? Rupert Müller betont: "Keine einzelne Person trägt die Hauptschuld. Es ist immer ein Zusammenspiel aus vielen verschiedenen Faktoren." Sich die Schuldfrage zu stellen, sei weder hilfreich noch zielführend. Wer sich Sorgen um sein Essverhalten oder das seines Kindes macht, dem legt der Stationsleiter Beratungsstellen für Menschen mit Essstörungen ans Herz. 

    In der Beratungsstelle Schneewittchen unterstützen Katharina Stang und Sophia Rehm Betroffene von Essstörungen. Seit einiger Zeit wird das Team durch einen Therapiehund bereichert.
    In der Beratungsstelle Schneewittchen unterstützen Katharina Stang und Sophia Rehm Betroffene von Essstörungen. Seit einiger Zeit wird das Team durch einen Therapiehund bereichert. Foto: Beratungsstelle Schneewittchen

    Auch Frida hat an einer Gesprächsgruppe für Betroffene teilgenommen. Mittlerweile geht sie nur noch einmal im Monat zur Nachsorge-Gruppe. "Ich bin ehrlich: Ich stecke auch momentan wieder in einer schwierigen Phase, aber ich möchte die Krankheit nun endlich hinter mir lassen", sagt sie bestimmt. Der Wunsch, einmal eine Familie zu gründen und wieder nach Lust und Laune essen und Sport treiben zu können, motiviert die junge Frau. "Ich denke, es wird immer ein kleiner Teil von mir bleiben, aber ich lerne, damit umzugehen. Frühzeitig zu merken, wenn es wieder schwierig wird, über seine Gefühle zu reden und sich Hilfe zu holen." Manchmal schaut sich Frida zur Abschreckung Fotos an, in denen sie im starken Untergewicht war und sagt sich dann: "Da will ich nie wieder zurück."

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