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Winterwetter: Ganz schön kalt – warum wollen so viele eigentlich gerne bibbern?

Winterwetter

Ganz schön kalt – warum wollen so viele eigentlich gerne bibbern?

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    Ein Bad im Schnee kann offenbar Glücksgefühle wecken.
    Ein Bad im Schnee kann offenbar Glücksgefühle wecken. Foto: Stock Adobe

    An Kälte kann man sich gewöhnen. Man kann sich aber auch entwöhnen. Das Entwöhnen ist im Gegensatz zum Gewöhnen nichts, das man groß bemerkt. Es fröstelt einen ja immer noch, auch im deutschen Winter, man muss dafür derzeit nur einmal abends noch eine Runde um den Block drehen und seinen Daunenmantel offen stehen lassen. Holla, ist das kalt! Der Punkt aber ist natürlich der: Kalt ist eigentlich anders. Also richtig kalt. Kalt ist es zum Beispiel in China, wo in den Bergen von Zhangjiakou die Olympioniken mit per App gesteuerten Heizstrümpfen unterwegs sind und die Biathletin Stina Nilsson ein Foto von sich mit vereisten Augenbrauen postete und darunter schrieb: Das Wetter sei „knackig wie Kartoffelchips“. Und das von einer Schwedin. Das ist kalt. Aber Temperaturen um den Gefrierpunkt?

    Im Nationalen Biathlonzentrum fegen Olympia-Mitarbeiter Schnee.
    Im Nationalen Biathlonzentrum fegen Olympia-Mitarbeiter Schnee. Foto: Frank Augstein, AP/dpa

    Deutschland jedenfalls hat nicht wirklich gefroren in diesem Winter. Kein Schlotterwinter. Keine „sibirische Eispeitsche“ und keine Schlagzeilen „Müssen wir jetzt bibbern?“, und wenn doch, dann ging es um die gestiegenen Energiekosten und darum, dass das Heizen zum Luxus wird. Es war bislang ein zuletzt typischer ungemütlicher Winter, in den Bergen auch ein weißer, aber kalt? Weshalb man sich schon mal ein paar Fragen stellen kann. Eine zum Beispiel, richtiger Winter, können wir das noch, also aushalten? Oder sind wir so entwöhnt, dass wir, holla, schon auf dem Weg über den Supermarktparkplatz loschlottern? Und die anderen: Fehlt uns eigentlich etwas? Brauchen wir das? Weil, mal abgesehen davon, was jedes Grad mehr für die Erde bedeutet (und das ist natürlich die wichtigste und auch schon beantwortete Frage), kann man ja auch mal denken: Gar nicht schlecht, keiner juchzt doch beim Anblick von vereisten Autoscheiben.

    36,5 Grad Celsius ist die Kerntemperatur, die will der Körper halten

    Auf die letzte Frage, also ob man das braucht, die Kälte, antwortet natürlich der eine so und die andere so. Verfrorene und weniger Verfrorene. Wobei aus wissenschaftlicher Sicht die Antwort doch eindeutig ist: Braucht keiner! Also jedenfalls die extreme Kälte. 36,5 Grad Celsius ist die Kerntemperatur des menschlichen Körpers, die möchte er halten. Wenn aber draußen beispielsweise minus 20 Grad sind und man keine Mütze trägt, wird das schon schwer! Warum? Weil der Körper seine Wärmeabgabe bei Kälte senkt, indem sich die Hautgefäße verengen, die Durchblutung runtergefahren wird. Am Kopf aber geht das nicht. Dort verengen sich die Gefäße nicht! Nur in den Ohren und der Nase … Deswegen Mütze also! Und am besten auch Schal, denn am Hals sind die meisten Kälterezeptoren.

    All das hat einem übrigens gerade Hanns-Christian Gunga, Professor für Weltraummedizin und extreme Umwelten an der Berliner Charité, am Telefon erklärt. Zuletzt hat Gunga das Buch „Extrem – was unser Körper zu leisten vermag“ (S. Fischer, 352 S., 23 Euro) veröffentlicht, man kann da sehr schön nachlesen, was der Körper, dieses Wunderwerk, alles zur Thermoregulierung unternimmt, auf welchen Wegen der Wärmeaustausch funktioniert. Um aber bei der Kälte zu bleiben: „Wir haben mehr Mechanismen, um Wärme abzugeben, als solche, um Wärmeverluste zu kompensieren.“ Erklärt sich aus der Entwicklungsgeschichte des Menschen natürlich, die ja eben nicht in einer eisigen Höhle in Kanada begann. „Für den Menschen ist im Grunde alles schwieriger in der Kälte“, sagt Gunga. Er ist, so könnte man sagen, doch eher für den lauen Sommertag gemacht …

    … träumt aber offenbar dennoch von der Kälte, knackig wie Kartoffelchips, braucht sie also vielleicht doch? Sehnsucht eben nach dem, was nicht mehr selbstverständlich ist. Vielleicht erklären sich so auch einige Trends, die alle mit Eis oder Winter anfangen. Wintercampen, Winterbiken, Winterwandern, Eisbaden – wovor Gunga zumindest all jene, die es aus Jux und Tollerei ausprobieren, dringend warnt: „Man begibt sich in eine Notfallsituation.“ Das Blut von den Extremitäten, also Armen und Beinen, wird zum Herzen hin verlagert. Unbedingt auf die Regelmäßigkeit des Herzschlages achten, sagt daher Gunga.

    Jedenfalls springen überall winterentwöhnte Mitteleuropäer plötzlich ins eiskalte Wasser, in die Isar, in den Lech, in die Spree. Eisbaden, der „Outdoortrend der Stunde“ (Glamour)! Kälte als Kick – für Körper und Geist – der Guru zum Trend heißt übrigens Wim Hof. Der Niederländer hält den Rekord im Eisbaden, stand schon einmal eine ganze Stunde, 52 Minuten und 42 Sekunden bis zum Hals in einer Tonne mit Eiswasser.

    Planschen bei Temperaturen um Minus sieben Grad. Da kriecht die Kälte in jede Pore.
    Planschen bei Temperaturen um Minus sieben Grad. Da kriecht die Kälte in jede Pore. Foto: Arno Burgi, dpa (Archivbild)

    Man muss Professor Gunga eigentlich nicht fragen, ahnt ja die Antwort: „Das würden Sie nicht überleben.“ Was man aber übrigens locker schafft: drei Minuten bei 110 Grad minus, nahezu unbekleidet.

    Drei Minuten bei 100 Grad minus – auszuhalten

    Sogenannte Kryosaunen – kryo, griechisch für Kälte – sind quasi das Gegenmodell zum Heizpilz: Man macht es drinnen mal richtig kalt. Es gibt sie mittlerweile zumindest in den Städten überall, gegen Schmerzen sollen sie helfen, das Immunsystem stärken, die Haut straffen … Ein kurzer Erfahrungsbericht vom Testbesuch: Es ist wirklich sehr kalt, es kribbelt einen ungemein, danach aber wird es einem wunderbar warm und es kribbelt noch etwas mehr. Die Durchblutung! Angeblich verbrennt man durch einen Besuch etwa 500 bis 800 Kalorien mehr. Ach, du wunderbare knackige Kartoffelchips-Kälte.

    In der Iglu-Lodge, ein Eishotel auf dem Nebelhorn in 2000 Metern Höhe, kann man dagegen in ein Fass mit heißem Wasser steigen. Danach geht man zum Käsefondue ins Eisrestaurant, nimmt später einen Drink in der Eisbar, und dann ab zum Schlafen im Expeditionsschlafsack ins Iglu, wo es im Übrigen aber angenehme null Grad hat. Für den diesjährigen Winter sei man bis auf wenige Tage ausgebucht, heißt es dort. Und was die Trends betrifft, vielleicht muss man auch das derzeitige Modephänomen dazurechnen, sich in überlange voluminöse Mäntel zu hüllen, die aussehen, als wären sie für die Arktis-Expedition gemacht und nicht für den Bummel in den Fellboots durch die Innenstadt.

    Die Nachfrage nach Reisen in die Kälte steigt

    Wächst also die Sehnsucht nach der Kälte? Stellt man Ingo Oswald von Arktis Tours die Frage, antwortet er: „Ja, definitiv.“ Der Reiseveranstalter aus Kempten bietet Touren unter anderem nach Island, Lappland, Finnland, in die Arktis und die Antarktis, inclusive Südpol, an. Urlaub in der Kälte also. Seit Jahren steigt die Nachfrage danach kontinuierlich. Ein Grund durchaus, glaubt er, sind die hier so bescheidenen Winter. Wenn einer bescheiden und Winter in einem Satz sagt, ist im Übrigen klar, zu welcher Sorte Mensch er zählt. „Ich liebe die Kälte.“ Sonst hätte er vermutlich auch die Malediven im Angebot.

    In Cierva Cove fahren die Passagiere mit den Zodiacs direkt an Zügelpinguinen vorbei, die auf einer Eissscholle stehen.
    In Cierva Cove fahren die Passagiere mit den Zodiacs direkt an Zügelpinguinen vorbei, die auf einer Eissscholle stehen. Foto: Michael Zehende, dpa

    Was also reizt seine mollig warme Wohnzimmer gewohnte Kundschaft an der Kälte? Es ist eine Mischung, sagt Oswald, die Minustemperaturen, die einzigartigen Winterlandschaften, das Raue, das Abenteuer, endlich mal die legendären Polarlichter sehen. Bei Touristen weltweit boomen die Reisen ins Eis. Knapp 80.000 Urlauber besuchten im Winter 2019/20 die Antarktis per Schiff, etwa zehn Mal mehr als noch 15 Jahre zuvor. Abgebucht wird das auch gerne unter dem Stichwort „Last-Chance-Tourismus“, das ewige Eis noch einmal sehen, bevor es schmilzt. Wobei Oswald den Begriff nicht mag, für seine Kundschaft auch nicht zutreffend findet: Da seien Arktis oder Antarktis oft schon lange Sehnsuchtsziele, etwas, das man einmal im Leben gesehen haben möchte.

    Aber, Professor Gungas Worte im Ohr, wissen die Menschen eigentlich, worauf sie sich einlassen? Schneidende, beißende, stechende, schockierende Kälte? Wer kennt das denn noch? Im Zweifelsfall eher jene, die sich auch noch daran erinnern, wie der Rhein zugefroren war und sie an der Loreley mit dem Eisbrecher nicht mehr durchkamen, das Eis sprengen mussten. Das geschah zuletzt 1962/63, im bisher kältesten deutschen Winter seit Beginn der Wetteraufzeichnung. Die mittlere Temperatur lag von Dezember bis Februar damals bei minus 5,5 Grad, zum Vergleich: Im letzten Winter wurde eine Durchschnittstemperatur von 1,8 Grad gemessen, plus natürlich.

    Je kälter, umso begeisterter die Reisenden

    Aber zurück zu Oswald. Warnen, nein, das müsse man nicht. „Aber wir weisen unsere Kunden natürlich explizit auf die Kälte hin.“ Vor Ort gibt es dann ja auch die passende Kleidung: Kälteoveralls zum Beispiel für die Husky-Tour. Und vor allem: Die Kälte sei eine ganz andere, trocken, „nicht diese feuchtkalte wie hier, die in den Knochen zieht“. Was Ingo Oswald übrigens noch erzählt: Gerade dann, wenn draußen vielleicht tagelang ein Schneesturm tobt oder extrem tiefe Temperaturen herrschen, seien die Kunden noch begeisterter. Weil man das nie vergisst, für immer etwas zu erzählen hat. Richtige Kälte.

    Warum aber sehnt sich der Mensch nach etwas, das unter der Wohlfühltemperatur liegt? Noch so eine Frage für Hanns-Christian Gunga. Der Professor überlegt ein wenig. Früher, sagt er, war die Kälte für den Menschen vor allem Bedrohung. Heute ist sie auch mal Event, eine Herausforderung im sonst vielleicht nicht so erlebnisreichen Alltag, erweitert den Horizont. „Für unseren Körper sind das ja besondere thermische Reize.“ Und: „Durch die Kälteexposition schüttet der Körper Endorphine und Stresshormone aus, die uns auch eine gewisse Genugtuung geben.“ Kälte spüren, um sich danach besser zu fühlen.

    Der Körper braucht ein wenig Außenstress

    Und damit zur ersten Frage: Haben wir uns von der Kälte entwöhnt? Durchaus, meint Gunga. Gerade in Zeiten von Corona, wo sich viele Menschen permanent im Homeoffice aufhalten, habe eine Habituation an bestimmte Temperaturen stattgefunden, also eine Gewöhnung. „Die beruht im Prinzip darauf, dass unsere Haut es nicht mehr gewohnt ist, adäquat auf Kältereize zu reagieren.“ Den Gefäßen, die sich verengen sollen, fehlt sozusagen das Training.

    Brauchen wir, letzte Frage nun, die Kälte also doch? Die monotone tropische Hitze, in die es ihn ja auch gerne treibt, braucht der mitteleuropäische Mensch jedenfalls nicht, sagt Gunga. Ideal sei das mediterrane Klima, wobei, das sei mittlerweile in Europa schwierig zu finden. Also eines mit Temperaturunterschieden zwischen Winter und Sommer. Ein wenig Außenstress für den Körper. „Wir brauchen ein gewisses Training.“ Hanns-Christian Gunga empfiehlt übrigens statt Eisbaden eher Wechselduschen oder zum Beispiel regelmäßige Spaziergänge. Auch das schon hilft, bringt die Gefäßmuskulatur in Schwung.

    Wobei es ja auch so ist: Kommt der kälteentwöhnte Mensch mal aus seiner Wohnhöhle heraus, fröstelt es ihn gleich. Holla! Der Winter fühlt sich dann so an, wie er eigentlich sein soll: richtig kartoffelchipsknackig kalt.

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