„Brainrot” ist ein Internet-Kampfbegriff, laut Oxford English Dictionary gar das wichtigste Wort des Jahres 2024. Ins Deutsche mit „Hirnfäule” übersetzt, beschreibt es den Zustand, in den Menschen entschweben, die stundenlang qualitativ minderwertige Dinge im Internet anschauen. Der US-Autor Henry David Thoreau soll den Begriff als einer der ersten in seinem eskapistischen Buch „Walden“ gepägt haben. Schon 1854 kritisierte er den intellektuellen Verfall seiner Zeitgenossen. Er konnt ja nicht ahnen, was da an Brainrot-Methoden auf künftige Generationen zukommt.
Fans der medialen „Hirnfäule“ erfinden das Rad jedenfalls nicht neu. Sich berieseln zu lassen ist längst eine Kulturtechnik und neue Wege der Zerstreuung erdenken findige Kreative ständig. Bei Telenovelas und Reality-TV fühlt man die Gehirnzellen förmlich schwinden, trotzdem oder eben genau deswegen erfreuen sich beide Genres großer Beliebtheit.
Bei „German Brainrot” starrt eine pixelige Taube aus dem Handybildschirm
Nun könnte man argumentieren, Tiktok als solches sei ein zersetzendes Medium. Die Dauerschleife an Tutorials, Tanzvideos, Challenges, Clips zu aktuellen Hashtags und Lippensynchronisationsvideos zieht das Belohnungssystem des Gehirns eh schon in einen quasi-hypnotischen Bann. Das Internet hat heute, besonders der soziale Teil, weder Anfang noch Ende. Das Konzept der Reizfüberflutung hat mit „Brainrot“-Videos einen gegenwärtigen Höhepunkt erreicht.
„German Brainrot” ist nun ein Untergenre dieser Darstellungsform. Darunter fällt eine stetig wachsende Reihe an Video-Parodien, die mit der Stimme einer deutschen, künstlichen Intelligenz unterlegt sind. Wie es sich für Kunst gehört, gibt es wiederkehrende Motive. Wie es sich für Kunst gehört, muss sich der geneigte Betrachter deren tiefere Bedeutung mühsam erschließen. Die Romantik hat die blaue Blume, René Magritte den Apfel, bei „German Brainrot” starrt eine pixelige Taube aus kleinen, stechenden, orange-gelben Augen aus dem Handybildschirm.
Das erste Video dieser Art hat wohl der Tiktok-User „schnecke_123” im November 2024 geschaffen. Wahrscheinlich spielte das kurzzeitige Tiktok-Verbot in den Vereinigten Staaten im Januar eine Rolle für die gegenwärtige Beliebtheit der Memes. Das Ausbleiben des US-Contents kurbelte nämlich Inhalte aus anderen Ländern erheblich an.
Das besagte erste Video von Schnecke_123 trägt den Titel „Einkaufen gehen”, im schlecht animierten Einkaufswagen der Taube landen Snack-Salamis, Durstlöscher-Eistee, Maggi-Würzsoße, Scheidungspapiere der Frau. Typisch deutsche Produkte. 9,4 Millionen Menschen haben sich das 28 Sekunden lange Video angesehen. In anderen Clips fährt die animierte Taube Zug, trägt Nikolausmütze, wird eine Toilette heruntergespült. Andere Motive des Brainrot-Genres: Ein rotierender Fisch, die Pinguin-Bande aus dem Animationsfilm Madagaskar, eine schwarze Katze.
Viel Quatsch, weniger Inhaltt: Das Netz feiert die explizite Sinnlosigkeit
Die Minecraft-Ästhetik ist moderner Mainstream. Das erfolgreichste Videospiel aller Zeiten läuft derzeit als Live-Action-Adaption in Spielfilmlänge und mit Starbesetzung in deutschen Kinos. „German Brainrot“ ist produktionstechnisch faul, sicherlich geht es den Herstellern der Videos um Quantität, nicht um Qualität, das gefällt auch dem Algorithmus, der über Gedeih und Verderb von vielen digitalen Kunstformen entscheidet.
Nicht-deutsche Tiktok-User finden die Videos faszinierend. Sie fragen sich: Steckt ein Sinn hinter den billig produzierten Videos, den sie nur aufgrund von Übersetzungsfehlern nicht verstehen? Spiegeln sie gar eine deutsche Seele wider? Ist das vielleicht dieser deutsche Humor, der für viele ein Mysterium bleibt? Tauben sind freilich kein deutsches Phänomen, in ihrer Hartnäckigkeit und ihrem Stoizismus allerdings kommt die „Brainrot“-Taube womöglich doch mit einer stereotypisch deutschen Mentalität daher.
Es geht um explizite Sinnlosigkeit, so viel ist klar. „Brainrot“-Videos sollen unterhalten und ablenken. Wer trotzdem einen Sinn sucht, eine künstlerische Einordnung, der sieht die klare Ikonografie, die wiederkehrenden Motive, die Verfremdung der gezeigten Gegenstände und Figuren und denkt an Dadaismus - an eine konsumkapitalistische Spielart des Nihilismus.
Aber so richtig taugen die Taubenvideos nicht als Revolte gegen das Bestehende. Denn wer den Tiktok-Content kennt, weiß, wie die Plattform bedeutungslosem Quatsch Bedeutung verleiht. Das Internet belohnt, was viele Leute bei der Stange hält. Ob das jetzt geistloser Content ist, Kunst oder nur einem einzelnen Nutzer Aufmerksamkeit beschert, sprich monetarisierbare Sendezeit, ist eine Diskussion, die weit über rotierende Fische und animierte Tauben hinaus geht. Nur so viel ist sicher: Die Tauben dürften wie die meisten Tiktok-Trends auch bald wieder verflogen sein.
Also mit Dadaismus hat dieser Schmarrn nichts zu tun. Schauen Sie mal z.B. bei Hugo Ball nach, der vor ungefähr 110 Jahren das erste dadaistische Manifest geschrieben hat. Der Dadaismus hatte einen ganz schönen Einfluss auf die moderne Kunst, z.B. auf Dali.
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