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Geburt: Ein Wunder! Und jetzt? Was junge Eltern kurz nach der Geburt bewegt

Geburt

Ein Wunder! Und jetzt? Was junge Eltern kurz nach der Geburt bewegt

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    2021 wurden so viele Kinder geboren wie zuletzt 1997. Für Eltern bedeutet eine Geburt vor allem eines: Veränderung.
    2021 wurden so viele Kinder geboren wie zuletzt 1997. Für Eltern bedeutet eine Geburt vor allem eines: Veränderung. Foto: Adobe Stock

    Die Tür öffnet sich, ein Arzt verlässt mit schnellem Schritt das Zimmer im Universitätsklinikum Augsburg. Sabine Weißinger steht direkt davor. Gerade wollte sie anklopfen. Ein Schluchzen dringt aus der Tür, die einen Spalt weit offen geblieben ist. Sie klopft nun dennoch leise, tritt dann ein. Etwa zwanzig Minuten wird

    Sabine Weißinger, Familienlotsin, bei der Arbeit. Einmal in der Woche macht die Sozialpädagogin der Beratungsstelle „Koki (Koordinierende Kinderschutzstelle) und Frühe Hilfen“ ihren Rundgang auf der Geburtsstation der Augsburger Uniklinik, sieht nach den jungen Eltern. In jedem Zimmer erwartet sie eine andere Geschichte, an diesem Tag handelt jede zum Glück auch vom Glück. Aber erst einmal Zahlen.

    In Deutschland wurden 2021 laut Statistischem Bundesamt 795.517 Kinder geboren. Etwa 22.000 mehr als im Jahr zuvor, ähnlich viele Kinder kamen zuletzt 1997 auf die Welt. Ein Anstieg wie es ihn seit 2017 nicht mehr gab. Für 2022 deuten sich bereits jetzt wesentlich weniger Geburten an. Was das alles für

    Zwei Mütter, zwei Babys, das gleiche Problem: Eine Hebamme fehlt

    Zimmer 1: Zwei Frauen teilen sich das Zimmer, das Sabine Weißinger an diesem Vormittag als Erstes betreten hat. Die Vorhänge sind beiseitegeschoben, Sonne flutet den Raum. Die Mütter haben sich hier in diesem Zimmer kennengelernt. Sie halten beide ihr Baby im Arm, teilen beide das gleiche Problem, wie Sabine Weißinger gleich hören wird. Für die erste Zeit Zuhause mit dem Baby haben sie keine Hebamme gefunden. Nachsorge nennt man das, es sorgt sich also jemand mit einem. Leider typisch, sagt Weißinger, speziell um diese Zeit. Auch Hebammen machen im Sommer Urlaub. Aber dann ist es doch so: Das gleiche Problem kann unterschiedlich groß sein. Im linken Bett liegt Ogbunuju Veronica Arinzerichord, 24 Jahre alt, vor wenigen Monaten erst ist sie aus der Ukraine geflohen. Ihr fehlt es an allem, sagt die junge Mutter. Hinter ihr liegen Monate geprägt von Bomben, Trümmern und davon, das gewohnte Leben verlassen zu müssen.

    Nun sitzt Arinzerichord mehr als ein halbes Jahr nach ihrer Flucht in ihrem Bett in der Uniklinik. Friedlich blickt sie auf ihr Neugeborenes, das in ihrem Schoß schläft. Noch an diesem Tag will sie ihr Mann abholen. Es soll nach Hause gehen, in die Nähe von Mering. Doch es ist nur ein Zuhause auf Zeit. Die Familie sucht gerade nach einer Wohnung im Augsburger Stadtgebiet. Mit Besorgungen für das Baby wollte die junge Mutter bis zum Umzug warten, doch eine Wohnung fehlt noch immer. Trotzdem bleibt sie hoffnungsvoll, sagt Arinzerichord: „Die Menschen in Deutschland sind so gut zu uns.“ Hochschwanger sei sie mit ihrem Mann hungrig vor einer Pizzeria gestanden, doch um dort zu bestellen habe ihr Geld nicht gereicht, erzählt sie Weißinger. „Ein älteres Paar hat das mitbekommen und uns eingeladen. Das war eine schöne Geste.“ Jetzt aber fehlt Zuhause noch ein Babybett. Weißinger zückt sofort einen Zettel. Sie notiert die persönlichen Daten und die Adresse der Familie. Gleich nach ihrem Rundgang will sie sich mit einer Kollegin aus dem zuständigen Landkreis in Verbindung setzen, um schnellstmöglich eine Erstausstattung für die junge Mutter und ihr Neugeborenes zu besorgen. Auch eine Hebamme könnte Arinzerichord so noch finden, hofft Weißinger.

    „Eine Wohnung zu finden, ist seit ein paar Jahren mit das Hauptproblem für junge Familien“, sagt Weißinger. Vor allem natürlich für Eltern, die aus ihrer Heimat fliehen mussten. Auch eine Sprachbarriere werde oft zur Herausforderung. Mit Arinzerichord kann sich Weißinger auf Englisch unterhalten, doch das sei nicht immer so. Oft könne zwar irgendjemand im Krankenhaus die gefragte Sprache, doch wenn die Helferinnen und Helfer die Familien nach der Geburt zu Hause besuchen oder über einen längeren Zeitraum begleiten, funktioniere das nur mit einem Dolmetscher, sagt Weißinger: „Pädagogische Maßnahmen kann man nur schwer umsetzen, wenn die Eltern nichts verstehen.“

    Sabine Weißinger ist Familienlotsin an der Uniklinik in Augsburg und betreut dort Familien kurz nach der Geburt. Patientin Ogbunuju Veronica Arinzerichord Uniklinik mit Kind. Geburt, Entbindung, Trauma, Therapie, Koki und Frühe Hilfen
    Sabine Weißinger ist Familienlotsin an der Uniklinik in Augsburg und betreut dort Familien kurz nach der Geburt. Patientin Ogbunuju Veronica Arinzerichord Uniklinik mit Kind. Geburt, Entbindung, Trauma, Therapie, Koki und Frühe Hilfen Foto: Laura Wiedemann

    Was Weißinger noch mehr Sorgen bereitet als das Wohnungsthema, ist aber der Mangel an Hebammen. Kein Zimmer verlässt sie, ohne zu fragen, ob die Frauen zur Nachsorge versorgt werden. Oft lautet die Antwort an diesem Tag: nein. „Eine Hebamme hilft mir in solchen Notfällen im Augsburger Umland seit vielen Jahren.“ Das funktioniere meistens, auch wenn es natürlich nicht der Idealfall sei. Seit etwa fünf Jahren werde das Problem immer gravierender, sagt Weißinger: „Eigentlich muss man sich schon mit einem positiven Schwangerschaftstest auf die Suche machen.“

    In Deutschland mangelt es an Hebammen – auch wenn deren Anzahl gestiegen ist. Laut Statistischem Bundesamt waren es im Jahr 2000 etwa 16.000 Geburtshelferinnen und -helfer, 2021 unterstützten etwa 27.000 Fachkräfte Familien bei Schwangerschaft und Entbindung. Doch mehr Geburten bedeuten mehr Arbeit. Außerdem arbeiten laut Statistik mehr als 70 Prozent der Hebammen in Teilzeit. Zum Vergleich: 2000 waren es knapp 51 Prozent. Hebammen kümmern sich nicht nur um Geburtshilfe, sondern auch um die Geburtsvorbereitung, begleiten Familien im Wochenbett, ebenso nach einer Fehlgeburt oder bei unerfülltem Kinderwunsch. Was immer mehr Zeit benötige, so der Deutsche Hebammen Verband, sei auch der bürokratische Teil der Arbeit.

    Zimmer 2: Eine Zusage unter 50 Anfragen. „Da wird man irgendwann schon nervös“, sagt Sarah Schützsack aus Augsburg. In der achten Schwangerschaftswoche begann die 35-Jährige nach eigener Aussage mit der Suche nach einer Hebamme. Als sie nach zwei Monaten, vielen E-Mails und Telefonaten fündig wurde: Erleichterung. „Das ist mein erstes Kind. Man hat einfach keine Ahnung, was einen erwartet.“ Auch um einen Kinderarzt habe sie sich schon gekümmert. Die Mutter sitzt entspannt auf der Bettkante, hat die dunklen Haare zu einem festen Zopf gebunden und lächelt, als sie auf ihr schlafendes Kind blickt. Weißinger lässt ihr trotzdem einen Flyer da. Man weiß ja nie. Schützsack bedankt sich: „Zu wissen, dass es solche Unterstützung gibt, beruhigt mich, auch wenn jetzt alles super ist.“

    1020 Eltern hat Weißinger im vergangenen Jahr über die Frühen Hilfen informiert. In 49 Fällen hat sie die Arbeit offiziell aufgenommen. Dafür müssen die Frauen einwilligen, denn die Erstberatung in den Zimmern ist anonym. Seit dem Start des Programms 2016 gehört die Sozialpädagogin zum Team der Familienlotsinnen und -lotsen. Manchmal sehe sie die Frauen nur das eine Mal in der Klinik, andere Familien begleite sie bis zu drei Jahre. Es komme auch immer wieder vor, dass sich Familien erst Wochen oder Monate nach einer Geburt wieder melden. Wenn das Kind einfach nicht aufhört, zu weinen, oder das Stillen nicht klappt wie erhofft. Weißinger hört dann am Telefon zu oder fährt bei den Familien vorbei: „Ich war auch schon bei Hausbesuchen, da war eigentlich alles super. Manche Eltern steigern sich in etwas rein. Aber auch das wollen wir: Ängste nehmen.“ Oft begleitet Weißinger eine Kinderkrankenschwester. Sie unterstützt die Eltern zum Beispiel auch dann, wenn diese Schwierigkeiten haben, eine Bindung zum Kind aufzubauen. Vom Baden des Kindes bis zur Begleitung zum Kinderarzt sei alles möglich, sagt Weißinger.

    Vor allem Fragen zur Gesundheit des Kindes, zum Umgang mit dem Neugeborenen und zum Stillen bewegen Eltern laut einer Studie des Marktforschungsinstituts SKOPOS aus dem Jahr 2018 in den ersten Wochen nach der Geburt. Etwa 80 Prozent der befragten Frauen wurden nach der Geburt zu Hause von einer Nachsorgehebamme betreut. Die restlichen 20 Prozent verzichten darauf. Notgedrungen, weil sie keine passende Hebamme gefunden oder nicht davon gewusst haben, dass ihnen diese Hilfe gesetzlich zusteht. Aber auch weil sie statt auf eine Hebamme lieber auf die Familie setzen. Wer Nachsorge bekam, hat die Hebamme meist über Empfehlungen von Freunden, das Internet oder den eigenen Frauenarzt gefunden. Ein Drittel der Frauen begann mit der Hebammensuche bereits vor dem dritten Schwangerschaftsmonat.

    Auch nach traumatischen Erfahrungen bei der Geburt ist Weißinger für die Familien da

    Zimmer 3: Eine junge Frau liegt mit geschlossenen Augen in ihrem Bett, ihr Kind auf der Brust. Sie trägt noch ein OP-Hemd. Eine Infusion tropft in ihr Handgelenk. Weißingers Stimme wird leiser. Sie widmet sich zuerst der Zimmernachbarin, diese wartet nur noch auf die Abschlussuntersuchung ihres Babys, dann will sie nach Hause gehen. Kinderwagen und Reisetasche stehen schon parat. Die Frau, die eben noch geschlafen hat, hat die Augen nun geöffnet. Weißinger spricht sie doch noch an. Wenigstens einen Flyer will sie ihr geben und nach der Hebamme fragen. Mit einem zerbrechlichen „Nein“ antwortet die Mutter und winkt ab. Ihre Schwiegermutter helfe ihr. Weißinger verlässt das Zimmer wieder, schließt behutsam die Tür und sagt: „Das habe ich gleich an dem Schildchen am Babybett gesehen. Die Frau hatte heute Morgen einen Kaiserschnitt, da ist es ganz normal, dass sie noch erschöpft und vielleicht etwas benebelt von den Medikamenten ist. Da gehen wir im Laufe der Woche noch mal vorbei.“

    Dreimal wöchentlich sind die Familienlotsinnen in der Uniklinik. Etwa 30 Zimmer gehören zu ihrem Rundgang. Für ihre eigene Statistik notiert sich Weißinger, für welche Angebote sich die Frauen interessiert haben und wie sie ihnen helfen konnte. Von freudigem Strahlen über totale Erschöpfung bis hin zum Heulkrampf ist an diesem Tag alles dabei. Manchen Frauen steht die Geburt noch bevor, andere haben sie bereits hinter sich. Innerhalb von Sekunden stellt Weißinger sich auf die jeweilige Situation ein: Nimmt die Freude auf, lacht gemeinsam mit frischgebackenen Eltern, begegnet ihnen aber auch dann mit viel Einfühlungsvermögen, wenn sie nach einer traumatischen Geburt nicht wissen, wie es weitergeht. Mit ihr kommt Ruhe in die Zimmer.

    Sabine Weißinger ist Familienlotsin an der Uniklinik in Augsburg und betreut dort Familien kurz nach der Geburt. Geburt, Entbindung, Trauma, Therapie, Koki und Frühe Hilfen
    Sabine Weißinger ist Familienlotsin an der Uniklinik in Augsburg und betreut dort Familien kurz nach der Geburt. Geburt, Entbindung, Trauma, Therapie, Koki und Frühe Hilfen Foto: Laura Wiedemann

    Die Zahl der Kaiserschnitte in Deutschland hat sich seit 1991 verdoppelt. Mehr als 220.000 Entbindende brachten ihr Kind 2020 so laut Statistischem Bundesamt auf die Welt. Als häufigste Gründe für einen Kaiserschnitt gaben Kliniken laut einer Studie des Science Media Centers (SMC) einen vorherigen

    Zimmer 4: Eine junge Mutter schiebt ihren Kinderwagen durch die Gänge der Geburtsstation. Weißinger geht langsam neben der Frau her und begleitet sie zu ihrem Zimmer. Sie sei schon länger hier und nur immer im Zimmer werde das Leben eintönig, erzählt die 33-Jährige. Vor drei Wochen habe sie ihr Kind über einen geplanten Kaiserschnitt entbunden. Das Baby sei verkehrt gelegen, die Entbindung deshalb so sicherer für Mutter und Kind gewesen. Nun steht wieder eine Operation an, erzählt die Frau, die nach ihrer komplikationsreichen Geburt anonym bleiben möchte. Sie müsse erst einmal selbst die Situation begreifen. Im Moment verdränge sie das Erlebte noch, um zu funktionieren. „Wenigstens geht es meinem Kind gut“, sagt sie. Denn im Operationssaal sei beim Kaiserschnitt alles anders gekommen als geplant. „Damit habe ich nicht gerechnet“, sagt sie. „Die anderen gehen mit ihren Kindern nach Hause und ich bin hier Dauergast.“ Hilfe will sie erst einmal nicht. Weißinger wirkt besorgt: „Vielleicht würde es Ihnen helfen, das alles mit jemand Außenstehendem aufzuarbeiten. Überlegen Sie sich das.“ Jetzt aber erst einmal OP. Der Anästhesist kommt ins Zimmer. Als Sabine Weißinger den Raum verlässt, braucht sie erst einmal einen Moment, bevor es weitergehen kann: „Ich gehe jetzt erst einmal einen Schluck Wasser trinken.“

    Nach einer schwierigen Geburt leiden laut der Deutschen Gesellschaft für Psychosomatische Medizin und Ärztliche Psychotherapie (DGPM) etwa vier Prozent der Mütter an einer posttraumatischen Belastungsstörung. Sie erinnern sich unweigerlich an das Erlebte, durchleben es gedanklich erneut oder verdrängen die Geburt. Zugrunde liegt dem oft eine traumatische Erfahrung bei der Geburt, ein Geburtstrauma, das nicht immer mit solchen Folgestörungen verbunden sein muss. Oftmals bleibe ein solches Trauma unentdeckt und damit unbehandelt.

    Haushaltshilfe für die Familie, Kümmern ums Frühchen oder Betreuung in der Kita bewegen die Eltern

    Pause in den Klinikgängen: „Die Geschichten der Eltern bewegen mich immer wieder“, sagt Weißinger. So viel Emotionen: Freude, weil da jetzt ein kleiner Mensch ist, der zu einem gehört, aber eben auch Angst und Sorge vor dem, was nun auf einen wartet. Emotionen, die auch Manuela Franitza, Oberärztin im Bereich Geburtshilfe und Pränatalmedizin, in ihrem Klinikalltag begegnen. Mit Weißinger tauscht sie sich über die Lage auf der Station an diesem Tag aus. Franitza sagt: „Die wenigsten Eltern kommen von selbst zu uns, um nach Hilfe zu fragen.“ Deshalb fragen auch die Ärztinnen und Ärzte, ebenso wie Pflegende und Hebammen bei den Familien nach. Schon beim Infoabend zu Kreißsaal und Entbindung spricht Franitza die Angebote von „Koki und Frühe Hilfe“ an. Weißinger ergänzt: „Genau darum geht es ja. Wir arbeiten präventiv.“ Im Mittelpunkt stünde, Schwangere sowie Familien vor und in den ersten Jahren nach der Geburt zu stärken. In akuten Fälle, beispielsweise von Kindeswohlgefährdung, sind die Grenzen des Aufgabenbereichs von Koki erreicht. Schnittstellen gibt es freilich trotzdem, wie ein Gespräch auf dem Klinikflur zeigt. Eine Klinikpsychologin und eine Sozialpädagogin des Bunten Kreises unterhalten sich über einen solchen Fall. Auch Weißinger kennt die Familie. „Klar gehört es dazu, auch für solche Themen sensibel zu bleiben“, sagt Weißinger. Mit dem Bunten Kreis arbeitet sie aber vor allem zusammen, um Familien mit Frühchen zu unterstützen.

    Sabine Weißinger ist Familienlotsin an der Uniklinik in Augsburg und betreut dort Familien kurz nach der Geburt. Im Gespräch mit Oberärztin Manuela Franitza. Geburt, Entbindung, Trauma, Therapie, Koki und Frühe Hilfen
    Sabine Weißinger ist Familienlotsin an der Uniklinik in Augsburg und betreut dort Familien kurz nach der Geburt. Im Gespräch mit Oberärztin Manuela Franitza. Geburt, Entbindung, Trauma, Therapie, Koki und Frühe Hilfen Foto: Laura Wiedemann

    Zimmer 5: So ist es im Fall des Paares, das gerade die Zimmertür hinter sich zuziehen will, als Sabine Weißinger ihnen entgegenkommt und fragt: „Darf ich kurz stören, bevor Sie weg sind?“ Die junge Frau trägt ein Fläschchen in den Händen. Etwas Muttermilch scheint sie darin abgepumpt zu haben. Weißinger kennt die beiden schon. Sie sind Eltern eines Kindes, das gerade auf der Frühgeborenenstation versorgt wird. Noch einige Zeit werden sie hier verbringen, bevor es gemeinsam als Familie nach Hause geht. Wie es ihnen geht, fragt Weißinger. Gut, antwortet das Paar mit einem Lächeln. Ihr Kind meistere das alles hervorragend.

    Weil die Ärztinnen und Ärzte in der Uniklinik Neugeborene auf Level 1 versorgen können, also zum Beispiel nach Risikoschwangerschaften oder einer Frühgeburt, komme sie hier häufiger als anderswo mit komplizierteren Fällen in Kontakt, sagt Weißinger. Die Zahl der Frühgeburten in Deutschland bewegen sich laut IQTIG seit einigen Jahren in einem Bereich um etwa 8 Prozent, wobei der Anteil zuletzt sank. Etwa 163 Zentren versorgen Neugeborene auf Level 1. Die Zahl der Krankenhäuser, die Entbindungen allgemein betreuen, sank laut dem Deutschen Hebammen Verband seit 1991 von 1.186 auf 639 (Stand 2019). Nicht mit eingerechnet sind Geburtskliniken.

    Zimmer 6: Drei Kinder warten zu Hause auf eine Mutter. Sie wiederum erwartet in der Uniklinik ihr Baby. Noch besser wäre es aber, wenn sie wieder nach Hause könnte und das Kleine noch ein paar Wochen bis zum errechneten Geburtstermin im Bauch der Mutter bliebe. Ein Blasensprung fesselt die Frau gerade ans Krankenbett. Nicht einfach für die Schwangere, vor allem weil zu Hause viel zu tun wäre. Das übernimmt jetzt ihr Mann. „Eine Haushaltshilfe könnte Ihren Mann noch unterstützen und auch Sie, wenn Sie wieder zu Hause sind. Das wäre doch was“, sagt Weißinger. Die Mutter ist zuerst skeptisch, dann nimmt sie den Antrag doch an und will mit ihrer daheimgebliebenen Familie am Telefon über die Unterstützung sprechen.

    Zimmer 7: Ein Blumenstrauß steht vor dem Bett der 35-jährigen Christine Spitko, ihr auf der Brust liegt ihre kleine Tochter Frieda, neben ihr im Bett sitzt ihr Mann Simon. Die drei genießen ihre ersten Tage gemeinsam im Familienzimmer: „Bei uns ist alles super.“ Sabine Weißinger trägt auch ihnen – fast mantraartig – die Angebote der Frühen Hilfen vor. Eine Frage haben die Eltern aus Gersthofen dann aber doch. Nicht etwa wegen ihrer neugeborenen Tochter, sondern deren etwa zwei Jahre älteren Bruder. Er kam in der 25. Woche, also als Extremfrühchen, zur Welt. Damals bekam die Familie vor allem vom Bunten Kreis, viel Unterstützung. Ab September soll den Bub – am besten in der Kita – ein Ergotherapeut oder eine -therapeutin zum Start in den neuen Lebensabschnitt unterstützen. Bisher war die Suche allerdings erfolglos. Der Fachkräftemangel ziehe sich im Gesundheitswesen durch alle Bereiche. Christina Spitko sagt: „Wir fühlen uns wie Jäger nach der richtigen Hilfe zur richtigen Zeit.“ Eigentlich müsse man Jahre voraus planen, sagt ihr Mann Simon.

    Für Sabine Weißinger ist jetzt noch nicht einmal Halbzeit. Vor ihr liegen weitere Zimmer mit neuen Eltern und neuen Geschichten. Ihre beiden Kinder hat die 53-Jährige in der Uniklinik entbunden. Auch sie lag einmal hier, ein neues Leben im Arm, von Gefühlen geflutet, mit unzähligen Fragen im Kopf. Daran denke sie oft bei ihrer Arbeit. Aber jetzt geht es weiter. Weißinger klopft wieder an.

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