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Fußball-EM 2024: Der Sport ersetzt Schiedsrichter durch Technik – ein fatales Signal

Fußball-EM 2024

Der Sport ersetzt Schiedsrichter durch Technik – ein fatales Signal

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    In der Fußball-EM werden die Schiedsrichter bei ihren Entscheidungen mit Computertechnik unterstützt.
    In der Fußball-EM werden die Schiedsrichter bei ihren Entscheidungen mit Computertechnik unterstützt. Foto: Jan Woitas, dpa

    Der Spitzensport ist Inbegriff einer gnadenlosen Leistungsgesellschaft, Spielfeld der totalen kapitalistischen Durchdringung, hier werden Menschen alltäglich in Gewinner und Verlierer unterteilt – und nicht selten liegt zwischen dem einen und dem anderen nur ein Millimeter oder eine Grenzentscheidung: War der Ball drin? Ein Spieler im Abseits? Ein Einsatz regelkonform? Doch gut, wenn diese möglichst objektiv gefällt werden, oder? Denn bedeutet nicht eben das, dass diese Urteile sind, was sie sein sollen: gerecht? 

    Der VAR bei der Fußball-EM: Der menschliche Makel aber bleibt

    In der Vorrunde und auch beim Achtelfinalspiel Deutschland gegen Dänemark der aktuellen Fußball-Europameisterschaft wurden die Schiedsrichter bei ihren Entscheidungen in vielen Bereichen bereits wie selbstverständlich von Computertechnik unterstützt – die zeigt etwa direkt an, ob ein Ball im Tor war, oder ist als VAR (Video Assistant Referee) zu befragen, ob ein solches rechtmäßig zustande gekommen ist oder ein Elfmeter gegeben werden sollte.

    Wo immer da noch ein Ermessensspielraum bleibt, zeigt sich aber in diesem Turnier, dass er nicht auszurotten scheint: der menschliche Makel. Denn es gab bereits jetzt reichlich Entscheidungen, die mindestens auch anders hätten ausfallen können, bei Fouls (in der Entstehung eines Tors) und (nicht) gegebenen Elfmetern vor allem. Dann kocht die Stimmung gerne hoch gegen diesen Menschen, der da noch was zu entscheiden hat. Wäre also der logische Schritt nicht, diesen mit seinem leidigen Ermessen möglichst komplett auszumerzen? 

    Im Tennis steht dieser Schritt gerade an. Ab dem kommenden Jahr werden beginnend bei den Männerturnieren alle Linienrichter durch das sogenannte „Electronic Line Calling“ ersetzt

    Verlernt der Mensch hier nicht etwas Wesentliches am Spielen?

    Das begann einst damit, dass die Technik einen Piepton abgab, sobald ein Ball im Aus landete, was anfangs nicht ganz fehlerfrei funktionierte und bei völlig willkürlich erscheinendem Gefiepe gerne auch mal belacht wurde. Ist inzwischen aber umfassend perfektioniert – nicht nur, weil beim trotzigen Anzweifeln dieser doch objektiven Entscheidung der noch allzu menschliche Spieler eine Computeranimation aus eben jener Maschine anfordern kann, die ihr dann natürlich ausnahmslos recht gibt. Sondern auch, weil die Signale für die Fehler inzwischen in verblüffend menschennaher Stimme den „Aus!“-Ruf verkünden. Der Hauptschiedsrichter auf dem Stuhl, der zudem noch von der Technik Bescheid bekommt, sobald etwa ein Ball beim Aufschlag die Netzkante berührt, verkommt damit fast genauso zum reinen Verkünder des technisch bereits Bestimmten. Und den Spielern ist jeglicher emotionale Wind gegen diesen und die Entscheidungen aus den Segeln genommen. Gut so? 

    Bei Einführung des VAR hat sich damals der Philosoph Peter Sloterdijk zu Wort gemeldet und gesagt: Es sei ein verhängnisvolles Missverständnis zu glauben, im Fußball gebe es mit den elf der jeweiligen Teams nur 22 Akteure auf dem Feld – gerade der 23. Mensch, der Schiedsrichter nämlich, sei mit den Tatsachenentscheidungen, die er ohne die Technikunterstützung noch traf, auch ein fundamentaler Bestandteil des Spiels. Denn, was es mit ausmache, sei gerade: das zwischenmenschliche Aushandeln der Regeln und das gerade nicht Objektive, das vielmehr gerade subjektive Selbst-bestimmen-Müssen mit all seinen Folgen und auch das Zurechtkommen mit unmittelbaren emotionalen Reaktionen … Versponnen abstraktes Rumgedenke im Elfenbeinturm? 

    Schöne neue Welt: Künstliche Intelligenz bestimmt über Leben und Gesellschaft

    Wenn der Sport doch auch ein (ins Extreme verzerrtes) Abbild der Gesellschaft ist, lohnt vielleicht tatsächlich der Blick auf das, was passiert und doch scheinbar nur noch nach Perfektionierung verlangt: Zu beobachten ist die Abschaffung des menschlichen Ermessensspielraums, die Automatisierung des Urteils. Und als Hilfsargument wird gerne geliefert, dass das die Schiedsrichter ja auch aus der Schusslinie nehme, nachdem sich die Wut gegen sie zuletzt ja ohnehin immer krasser geäußert hat. Mag sein. 

    Aber gerade daran zeigte sich ja die generell zunehmende Unfähigkeit, Ermessensspielräume zu akzeptieren und Konflikte noch irgendwie moderiert zu bekommen. Der Mensch scheint damit tatsächlich etwas ganz Wesentliches am Spiel verlernt zu haben – gerade das, was vielleicht am meisten über dieses hinaus auf das ganze Leben zurückverweist. 

    In der Welt außerhalb der Spielfelder aber wird es ein ebensolches objektiviert gerechtes Urteil nicht geben. Oder will jemand sein Leben und die Konflikte der Gesellschaft in die Hände der künstlichen Intelligenz legen? Die globalen Wettbewerber der Digitalisierung werden jedenfalls ihre Qualität versprechenden und Einfluss sichernden Angebote liefern – für den Einzelnen wie für die Gemeinschaft. Will der Mensch wirklich deren Spiel mitspielen und damit aus vermeintlicher Überforderung aufhören, selbst Herr seines Spiels zu bleiben? In der Erwartung an den Spitzensport, gerade weil er bereits so restlos durchkapitalisiert ist, wird das vor den Augen aller bereits vorweggenommen. Der Verlierer hat sich dann einfach der höheren Macht einer kalten Rationalität zu fügen und kann weder Wut noch Enttäuschung zwischenmenschlich adressieren. Schöne neue Welt. 

    In der alten sagte Schiller noch: „Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“

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