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Hype ums Wandern: Warum passieren so viele Unfälle in den Bergen?

Notruf am Berg

Wenn nur noch der Notruf ins Tal führt

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    Immer mehr Menschen zieht es in die Berge und immer häufiger muss die Bergwacht ausrücken. 3320 Einsätze waren es allein im vergangenen Sommer in Bayern.
    Immer mehr Menschen zieht es in die Berge und immer häufiger muss die Bergwacht ausrücken. 3320 Einsätze waren es allein im vergangenen Sommer in Bayern. Foto: Matthias Bein, dpa

    Morgens sah es noch gut aus. Ein paar zerrupfte Wolken, blauer Himmel, Sonnenschein. Und jetzt? Markus Albrecht schaut aus dem Fenster. Gewitterwolken ziehen vorbei, die Spitze des Tegelbergs hängt im Grau. „Nichts Schlimmes, nur ein bisschen Regen“, sagt er. Gute Aussichten für den Bergretter, denn bei Regen ist weniger los, in den Bergen und bei ihm auf der Wache. Albrecht sitzt im Gemeinschaftsraum der Füssener Bergwacht, seit frühmorgens ist er hier, bisher war es ruhig, aber der Notrufmelder kann jederzeit piepen.

    Immer mehr Menschen zieht es in die Berge und immer häufiger muss die Bergwacht ausrücken. 3320 Einsätze waren es allein im vergangenen Sommer in Bayern, 67 Menschen verunglückten tödlich. Erst diese Woche ist ein 37-Jähriger im Berchtesgadener Land auf einer nassen Wurzel ausgerutscht und 60 Meter in die Tiefe gestürzt. Die Retter konnten ihm nicht mehr helfen. Die Zahl der Unfälle steigt seit Jahren, das merken sie auch in Füssen. 140 Mal wurden die Bergwachtler im vergangenen Jahr gerufen. Und heuer? „Könnte ein neuer Rekord werden“, sagt Albrecht. Schon jetzt sind es 128 Einsätze.

    Markus Albrecht sagt: „Vielen fehlt die Erfahrung, sie kennen die Gefahren am Berg nicht.“

    Wanderin mit Hund stürzt im Steilgelände. 61-Jähriger sitzt über Nacht in Felswand fest. Bewusstlos nach Sturz im Höhlenbereich. Die Unfallmeldungen häufen sich, im Netz wird schnell geurteilt: Die Leute seien unvorsichtig, schlecht ausgerüstet, würden leichtfertig die Rettung rufen und das Leben der Einsatzkräfte aufs Spiel setzen. Aber stimmt das? Werden Wanderer wirklich unvorsichtiger und hatschen in Birkenstock auf den Berg?

    „Alter Hut“, sagt Albrecht. „Wir retten schon mal Menschen, die in Turnschuhen unterwegs sind, aber die Ausrüstung ist nicht das Problem.“ Was dann? „Vielen fehlt die Erfahrung, sie kennen die Gefahren am Berg nicht“, sagt Albrecht und nennt drei Kriterien, die beim Notruf häufig eine Rolle spielen: Tageszeit, Wetter und körperliche Verfassung. Erst neulich mussten sie zwei Urlauber retten, die den Wintereinbruch unterschätzt hatten und im Schneefeld nicht mehr vor- und zurückkamen. Gemessen an den Einsatzzahlen zählt Füssen zu den zehn größten Bergwachten in Bayern, rund 50 Retter engagieren sich ehrenamtlich, vor allem bei schönem Wetter haben sie hier zu tun.

    Markus Albrecht ist seit zwölf Jahren bei der Bergwacht Füssen und hat schon viele Notfälle miterlebt. Von der Zentrale aus koordiniert er die Einsätze.
    Markus Albrecht ist seit zwölf Jahren bei der Bergwacht Füssen und hat schon viele Notfälle miterlebt. Von der Zentrale aus koordiniert er die Einsätze. Foto: Felicitas Lachmayr

    Im fein gedruckten Jahresbericht lassen sich die Einsätze chronologisch nachlesen. 14. Februar: Kreislaufkollaps an der Drehhütte. 12. April: Zwei verstiegene Eltern mit Kind auf dem Tegelberg. 29. Mai: Sprungelenksverletzung nach der Rohrkopfhütte. 29. Juni: Wanderer nach Sturz mit beidseitiger Knieverletzung. 9. Juli: Schwere Kopfverletzung nach Sturz auf dem Gratweg des Tegelberg. 23. Juli: 70-jährige Dame mit Unterarmfraktur auf dem Gratweg des Tegelberg.

    Dort, am Tegelberg sind die Bergwachtler am häufigsten unterwegs. Warum gerade da? „Echter Spaßberg“, sagt Albrecht. „Da ist viel los.“ Und wo was los ist, passiert halt was, schiebt er hinterher. Gleitschirmflüge, Mountainbiketrails, Wanderwege, Sommerrodelbahn, dazu drei Klettersteige und eine Bahn mit Blick auf Schloss Neuschwanstein, die Menschen zum Gipfel bringt, die es sonst nicht hinauf schaffen würden. „Oft passiert dann was im Abstieg, gerade bei Älteren“, sagt Albrecht. Immer wieder bekommt er zu hören, man sei doch geübt und seit Jahren in den Bergen unterwegs. „Aber irgendwann geht es halt nicht mehr.“

    Adrenalinjunkie, Gipfelsammler, Hüttenhocker - jeder sucht etwas anderes am Berg

    Sich einzugestehen, dass der Tritt nicht mehr ganz so sicher ist, die Strecke zu weit, der Weg zu ausgesetzt oder der Körper zu müde, fällt vielen Wanderern schwer. Sie wollen erreichen, was sie sich vorgenommen haben. „Wir retten häufig Menschen, die den Punkt nicht erkannt haben, an dem es Zeit gewesen wäre, umzudrehen“, sagt Albrecht. „Vielen fehlt auch der Mut umzukehren.“ Warum ist das so schwierig?

    Nachfrage bei Jan Mersch. Der Psychologe und Bergsteiger sagt: „Umkehr hat immer etwas mit Fehleinschätzung zu tun.“ Sich diese einzugestehen, kostet Überwindung. Nicht am Gipfel anzukommen, auf das Glücksgefühl und die Selbstbestätigung zu verzichten, schmerzt. Mersch begleitet Menschen mit unterschiedlichen Zielen durch die Berge. Manche möchten ihre alpinen Träume verwirklichen, andere stecken in einer Krise. „Wenn wir in die Natur gehen, kommen wir unserem genetischen Ursprung näher, denn unterbewusst sind wir immer noch Jäger und Sammler“, sagt Mersch. „In den Bergen durchbrechen wir gewohnte Verhaltensmuster und spüren klarer, was wir brauchen. Das kann neue Perspektiven eröffnen und uns näher zu uns selbst bringen.“ Therapeutische Wirkung also.

    Adrenalinjunkie, Gipfelsammler, Hüttenhocker, Genießer, Einzelgänger, alle suchen etwas anderes am Berg. „Sicher überschätzen sich viele oder gehen relativ unbedarft ins Gebirge ohne sich den Gefahren bewusst zu sein“, sagt Mersch. „Aber das war früher auch schon so. Ich glaube nicht, dass die Menschen unvorsichtiger geworden sind, es sind nur einfach mehr Menschen in den Bergen.“

    Verstauchter Fuß, allergische Reaktion, Schlaganfall – da hilft nur noch der Notruf

    Zurück in der Rettungswacht in Füssen. Das Gebäude liegt am Ortsrand, direkt neben dem Klinikum. Markus Albrecht sitzt unten in der Zentrale, von hier aus werden die Einsätze koordiniert. Zwei Plätze, vier Bildschirme, viele Knöpfe. Vom Fenster aus ist der Hubschrauberlandeplatz zu sehen, ein Drittel der Einsätze wird aus der Luft geflogen. In der Chronik des Jahresberichts sind sie mit einem kleinen Hubschrauber markiert. 12. August: 68-jähriger Wanderer auf dem Tegelberg mit kardiologischem Notfall. 21. August: Polytrauma nach 30 Metern Absturz auf dem Ahornreitweg des Tegelberg. 24. August: Krampfanfall im Gelbe-Wand-Steig. Der erste von fünf Einsätzen an diesem Tag. 8. September: Kletterer mit Kreislaufbeschwerden im Tegelbergklettersteig.

    Die meisten Notfälle verlaufen glimpflich. Verstauchter Fuß, Bänderriss, dehydrierter Körper, Sonnenstich, allergische Reaktion, Schlaganfall, Herzinfarkt. Da hilft nur noch der Notruf. „Am Berg gibt es alles, was es im Tal auch gibt“, sagt Albrecht. Nur die Blockierer, die gebe es unten nicht, dafür werden sie oben immer mehr. So nennen sie die, die unverletzt sind, aber die Bergwacht rufen, weil sie sich verstiegen haben oder den Weg nicht mehr finden, denen die Zeit davonrennt oder das Gewitter um die Ohren fegt. „Viele unterschätzen die Natur und überschätzen sich selbst“, sagt Albrecht. Erst neulich mussten sie ein Pärchen retten, das am Säuling unterwegs war. „Sie sind per App einer Route gefolgt, landeten im hochalpinen Schotterfeld und kamen nicht mehr weiter“, sagt Albrecht. „Vor Einbruch der Dunkelheit hätten sie es nicht nach unten geschafft.“ Sie hatten die Tour unterschätzt, der Schwierigkeitsgrad war wohl falsch in der App angegeben.

    Seile, Karabiner, Mittel zur medizinischen Erstversorgung - in der Rettungswache liegen Utensilien für alle mögliche Szenarien bereit.
    Seile, Karabiner, Mittel zur medizinischen Erstversorgung - in der Rettungswache liegen Utensilien für alle mögliche Szenarien bereit. Foto: Felicitas Lachmayr

    Auch das erlebt Albrecht häufig. Wanderer, die sich blindlings auf Apps verlassen, ihr Smartphone als Navi nutzen und in heikle Situationen geraten. „Teilweise werden Hinweisschilder am Berg missachtet, weil in der App steht, dass es der richtige Weg ist“, sagt Albrecht. Nur für Geübte, warnt ein Schild am Gelbe-Wand-Steig, trotzdem wagen sich immer wieder Unerfahrene in den Klettersteig am Tegelberg. Albrecht ist überzeugt: Mit besserer Vorbereitung ließen sich viele Notrufe vermeiden. Also lieber mal bei einer Hütte vor Ort nach dem Wetter fragen oder beim Tourismusverband anrufen, als aufs Handy zu schauen. Auch die Alpenvereine geben Auskunft, nicht aber die Bergwacht. „Wir helfen nur im Notfall“, sagt Albrecht und geht in den großen Raum nebenan, die Herzkammer der Rettungswache.

    Manche Einsätze graben sich ins Gedächtnis

    Die Regale sind vollgestopft mit Utensilien für alle mögliche Szenarien. Klettergurte, Seile, Karabiner, Mittel zur medizinischen Erstversorgung, Gebirgstragen, Säcke für die Gleitschirmrettung. „Die Lawinenrucksäcke bereiten wir gerade vor“, sagt Albrecht. Ganz hinten im Regal liegt ein einzelner, orangefarbener Beutel. Der Totensack. So traurig es ist, auch der wird gebraucht. Zwei Verunglückte mussten sie vergangenes Jahr bergen. Manchmal ahnen sie es schon, wenn eine Meldung eingeht, bei einem Sturz in die Tiefe etwa. „Nicht jeder fühlt sich dann in der Lage zu helfen und das ist absolut verständlich“, sagt Albrecht. „Aber meistens melden sich sowieso mehrere aus dem Team, weil alle wissen, dass es schwierig wird.“

    In der Rettungswache liegt für den Notfall alles griffbereit.
    In der Rettungswache liegt für den Notfall alles griffbereit. Foto: Felicitas Lachmayr

    Manche Einsätze graben sich ins Gedächtnis. Vor vielen Jahren, Albrecht hatte gerade bei der Bergwacht angefangen, ging der Notruf ein, ein 18-Jähriger sei am Pilgerschrofen im Säulings-Massiv abgestürzt. „Wir haben stundenlang nach dem Jungen gesucht, am Ende kam jede Hilfe zu spät“, sagt Albrecht. Auch in diesem Jahr hat er schwere Einsätze miterlebt. Mitte August stürzte eine 23-Jährige beim Klettern ab. Sie war mit einer Gruppe am Tegelberg unterwegs, als sie den Halt verlor und 70 Meter in die Tiefe stürzte. Albrecht war einer der Ersten am Unfallort und versorgte die schwer verletzte Frau. Tage später starb sie im Krankenhaus. Und die Boulevardzeitungen spekulierten, ob die Profi-Turnerin beim Selfie-Machen abgerutscht war. „Schmarrn“, sagt Albrecht. Da werde schnell vorverurteilt.

    Wie er solche Momente verarbeitet? Mit akuter psychologischer Unterstützung und vielleicht noch wichtiger: „Wir reden viel miteinander und kümmern uns um einander“, sagt Albrecht. Manchmal müssen auch Angehörige am Unfallort betreut werden, dann rücken sie mit einem speziell geschulten Kriseninterventionsteam aus. „Nicht jeder ist dafür geeignet, wir sind einfache Bergwachtler und keine Psychologen“, sagt Albrecht. Seit zwölf Jahren ist er bei der Füssener Bergwacht. Warum er das macht? „Weil ich die Berge liebe und gern draußen bin“, sagt der 48-Jährige. Dass er dabei Menschen hilft, ist schön, aber nicht seine Hauptmotivation.

    Blick aus dem Fenster der Rettungswache: Früh morgens sah das Wetter noch gut aus, jetzt hängen Gewitterwolken am Himmel. Von der Spitze des Tegelbergs ist nichts zu sehen.
    Blick aus dem Fenster der Rettungswache: Früh morgens sah das Wetter noch gut aus, jetzt hängen Gewitterwolken am Himmel. Von der Spitze des Tegelbergs ist nichts zu sehen. Foto: Felicitas Lachmayr

    Plötzlich ein Piepen. Albrecht zieht sein Smartphone aus der Tasche. „Blitzerortung“, sagt er. „20 Kilometer entfernt hat der erste Blitz eingeschlagen.“ Wichtig zu wissen, denn bei starkem Gewitter kann der Helikopter nicht fliegen und Albrecht müsste einen Einsatz entsprechend planen, bedeutet: Notfalls muss der Notfall warten. „Wir sind keine Helden und riskieren nicht unser Leben“, sagt der Bergretter. „Manche Einsätze sind gefährlich und ein Restrisiko bleibt, aber es liegt in unserer Verantwortung, die Situation richtig einzuschätzen und einen Einsatz abzubrechen oder gar nicht erst zu starten, wenn es zu gefährlich ist.“ Ob er das Gefühl hat, dass sich die Menschen zu sehr auf die Bergwacht verlassen? „Kann schon sein, dass der ein oder andere mehr riskiert, weil er weiß, dass wir da sind“, sagt Albrecht.

    Noch mal durch die Chronik blättern. 24. September: 13-Jähriger mit unklaren Kopfschmerzen, Schwindel und Ohnmacht auf dem Bachweg am Buchenberg. 26. September: Wanderin mit Unterschenkelfraktur auf der Rodelbahn. 1. Oktober: Erschöpfte Amerikanerin auf dem Gratweg des Tegelbergs. 3. Oktober: Wanderin mit Schädel-Hirn-Trauma und weiteren Verletzungen am Weißensee. 29. Dezember: Zwei im Wald verirrte Touristen.

    Psychologe sagt: „Manche Leute gehen auf den Berg, aber sie sind nicht im Hier und Jetzt.“

    An die eigenen Grenzen gehen, noch ein paar Meter weiter klettern, statt umzudrehen - jeder, der häufiger in den Bergen ist, hat schon mal eine gefährliche Situation erlebt. In den sozialen Medien wird das Wagnis oft noch befeuert. Auf Instagram finden sich Millionen spektakuläre Bergfotos, die zum Übermut verleiten und Menschen an Orte führen, an die sie nicht hingehören. Dabei müssen es nicht mal Gipfelbilder vom Watzmann oder Selfies von der Himmelsleiter im Dachsteingebirge sein, auch harmlose Ziele können riskant sein. Die Gumpen am Königssee in Berchtesgaden ist seit drei Jahren gesperrt, weil zu viele Foto-Touristen im Naturpool posierten und es immer wieder zu Unfällen kam. Das Gasthaus Äscher-Wildkirchli in der Schweiz schmiegt sich idyllisch an den Fels und ist das wohl meistfotografierte Wirtshaus in den Alpen. Der Besucheransturm wurde selbst den Pächtern zu viel, inzwischen wird die Berghütte von einer Eventagentur bewirtschaftet.

    Helme und Klettersets werden bei den meisten Einsätzen benötigt.
    Helme und Klettersets werden bei den meisten Einsätzen benötigt. Foto: Felicitas Lachmayr

    „Der Hype durch Social Media nimmt groteske Züge an“, sagt der Psychologe Jan Mersch. „Manche Leute gehen auf den Berg, aber sie sind nicht im Hier und Jetzt, sondern nur damit beschäftigt, Bilder zu posten, um anderen Menschen irgendetwas mitzuteilen.“ Hatte Goethe also mal nicht recht, als er schrieb, man sei nur da wirklich gewesen, wo man zu Fuß war, aber was wusste der schon von Fame, Followern und Foto-Hotspots.

    Zurück zu Jan Mersch. Der erlebt die mentale Abwesenheit gelegentlich auch bei Kunden, die das Hier und Jetzt suchen. „Im schwierigen Gelände mache ich deutlich, dass das Handy in der Tasche bleibt“, sagt Mersch. „Aber wenn jemand bei einer leichten Wanderung nur mit Fotografieren beschäftigt ist statt mit sich und der Natur, greife ich nicht ein, das muss jeder selbst wissen.“ Aus psychologischer Sicht mag die Motivation auch manchmal nebensächlich sein, denn: „Rausgehen ist immer noch besser als depressiv auf dem Sofa sitzen“, sagt Mersch. Vom überhöhten Selbstbild einiger Wanderer hält der Psychologe allerdings auch nichts. Echte Bergsteiger vertreten besonders edle Werte, gehen verantwortungsvoller mit der Natur um und sind mehr bei sich? „Absoluter Quatsch“, sagt Mersch. „Man kann auch ein rücksichtsvoller, bewusster Mensch sein ohne Wandern zu gehen.“

    Manche Bergsteiger sammeln Gipfel wie andere Briefmarken

    Doch für viele ist ein Sommer ohne Berge ein verlorener, sie sammeln Gipfel wie andere Briefmarken, führen Listen, zählen Höhenmeter, schreiben Gipfeltagebuch. Hat man einen, will man mehr. Was dahintersteckt? Kann Mersch auch nicht genau erklären. „Das muss tiefer sitzen.“ Also wieder Jäger-Sammler-Prinzip. Ob Alpengipfel oder Achttausender, neu ist das Gipfelgesammel jedenfalls nicht, es gibt nur mehr Sammlerinnen und Sammler. „Wer in den 1980er-Jahren als echter Bergsteiger gelten wollte, musste auch schon mindestens die Eiger-Nordwand besteigen“, sagt Mersch. Und heute? Gibt es Bücher mit Gipfelglück-Garantie, Wandergruppen für Gipfelsammler und Portale, auf denen die erklommenen Berge eintragen werden können. Aber egal, wie viel der Mensch sammelt, bedeutungsvoller wird er dadurch offenbar nicht. „In Wirklichkeit sind wir da oben nur geduldete Kreucher und Fleucher“, resümierte der oberste Gipfeljäger Reinhold Messner.

    Jan Mersch ist Bergführer und Psychologe und begleitet Menschen mit ganz unterschiedlichen Zielen zum Gipfel.
    Jan Mersch ist Bergführer und Psychologe und begleitet Menschen mit ganz unterschiedlichen Zielen zum Gipfel. Foto: privat

    Manche erklimmen die Berge mit Ehrgeiz, andere sehen das Wandern als Freizeitvergnügen, aber gibt es eigentlich so etwas wie den Durchschnittswanderer? Schnell noch ein Anruf bei Klaus Erber. Er ist Geologe und hat vor 20 Jahren das deutsche Wanderinstitut mitgegründet. Der Verein erhebt Studien rund ums Wandern und berät Regionen bei der Entwicklung von Wanderwegen. Erber sagt: „Die meisten gehen am liebsten zu zweit in die Berge, Gruppen sind nicht so angesagt.“ Durchschnittsalter des deutschen Wanderers: 49 Jahre, Tendenz sinkend. Viele entdecken die Berge für sich, wenn sie ins Berufsleben einsteigen, mit Ende 20, als Ausgleich zum Job. Die Durchschnittstour sollte 15 Kilometer lang sein, vier bis fünf Stunden dauern und abwechslungsreich sein. „Neu ist, dass sich viele konkret für Pflanzen und Tieren interessieren und eine Region kennenlernen wollen“, sagt Erber. Ebenfalls im Trend: Genusswandern, also im Gehen gleich noch Pilze oder Kräuter sammeln. Seit Jahren unverändert ist das Bedürfnis, die Natur zu erleben, der Gesundheit etwas Gutes zu tun und abzuschalten – auch das Smartphone. Die meisten wollen es nur aus Sicherheit nutzen, denn auch das zeigen Umfragen: Viele haben Angst sich zu verlaufen, die wenigsten wagen sich in wildes Terrain.

    Oft erhalten die Bergwachtler im Nachhinein noch Karten und Dankesschreiben

    Passieren aber kann immer etwas. Den Erfahrenen wie den Unerfahrenen. Im Sommer holten die Füssener Bergwachtler eine junge Frau vom Gipfel, die in einem psychischen Ausnahmezustand war. Später retteten sie einen Gleitschirmflieger, der notlanden musste und sich gerade noch an einer Wurzel festklammern konnte. „Die schönen Momente überwiegen“, sagt Einsatzleiter Markus Albrecht. Manchmal erleben sie auch Kurioses. In der Drachenhöhle bei Eisenberg blieb ein Mann stecken, auf dem Schutzengelweg retteten sie einen Betrunkenen. Ein anderes Mal gingen in einer Woche zwei nahezu identische Notrufe ein. In beiden Fällen alarmierten Ehefrauen die Bergwacht, weil ihre über 70-jährigen Männer erschöpft waren und den Abstieg nicht mehr schafften. Beide saßen an exakt derselben Stelle auf einem Baumstumpf und warteten auf die Retter.

    Die Wintersaison steht bevor, die Rucksäcke zur Lawinenrettung liegen schon bereit.
    Die Wintersaison steht bevor, die Rucksäcke zur Lawinenrettung liegen schon bereit. Foto: Felicitas Lachmayr

    Albrecht könnte viele solcher Geschichten erzählen, räumt aber lieber mit einem Vorurteil auf. Geretteten wird oft unterstellt, sie seien undankbar. „Das stimmt einfach nicht“, sagt der Bergretter. „Den meisten ist die Situation unangenehm und sie sind froh, in Sicherheit zu sein.“ Oft erhalten die Bergwachtler im Nachhinein noch Karten und Dankesschreiben. Zwar hat auch Albrecht von dem Paar gehört, das am Watzmann gerettet werden musste und sich danach beschwerte, dass die Einsatzkräfte in der Hektik den Schlafsack zurückgelassen hatten. „Ausnahmen gibt es immer“, sagt der 48-Jährige. Er habe so etwas noch nie erlebt.

    Wobei, neulich wurde er zum Buchenberg gerufen, Wanderer hatten einen Gleitschirmflieger abstürzen sehen. Als Albrecht an der Unfallstelle ankam, saß der Flieger unverletzt in einer Hütte. „Anstatt mitzudenken und Bescheid zu geben, dass er keine Hilfe braucht, hat er rumgemosert, warum ich so lange brauche“, sagt Albrecht und schiebt gleich eine Erklärung hinterher. Das Einsatzgebiet reicht von Seeg über Füssen bis nach Buching, da ist er schon mal eine halbe Stunde unterwegs. Aber eigentlich muss er sich nicht erklären, Albrecht weiß, was sie hier jeden Tag leisten.

    Melder und Funkgerät liegen immer griffbereit. Geht ein Notruf ein, muss Einsatzleiter Markus Albrecht alles koordinieren.
    Melder und Funkgerät liegen immer griffbereit. Geht ein Notruf ein, muss Einsatzleiter Markus Albrecht alles koordinieren. Foto: Felicitas Lachmayr

    Fünf Retter sind immer in Bereitschaft, im Notfall lassen sie alles stehen und liegen, egal ob sie im Büro sitzen oder mit der Familie beim Abendessen. Auch Albrecht ist verheiratet, hat drei Kinder, aber wenn der Melder geht, ist er am Berg. Seit einer Woche ist er im Dienst. „Zwischendrin hat es geschneit, da hatten wir einiges zu tun“, sagt er und schaut auf die Uhr. „Jetzt muss ich aber mal los, meinen Sohn zum Fußball bringen.“ Den Melder hat er in der Tasche. Für den Notfall.

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