Irrtum, die besten Geschichten schreibt nicht das Leben. Die besten Geschichten schreibt noch immer der Sport. Ob einer nun als Gott des Basketballs gilt oder als weltbester Rennfahrer, ob als Fußball-Kaiser oder Held auf dem Rad: Arm dran ist die Sport-Ikone, über die noch keine TV-Doku gedreht wurde. Sie werfen sich mit Schick und Schnickschnack in Szene, selten war mehr Bling-Bling, mehr Netflix: Michael Jordans Ringe funkeln in seiner Doku am Finger, die hat sich in sechs US–Basketball-Meistertiteln erkämpft. David Beckham lässt sich filmen, wie er mit Pop-Star-Ehefrau Victoria zankt, dem Original Spice Girl. Ja, das macht TV-Laune, das macht sogar dem Kardashian-Clan Konkurrenz. Aber wie steht es um die deutschen Helden? Die schwanken zwischen Grübel-Kino, Heimatfilm und Thriller. Eine Filmanalyse in vier Kapiteln, am Beispiel von Ulle, Schumi und dem Kaiser:
Ulle, Schumi und der Kaiser – Kapitel 1: Die Weggefährten
Da steht ein Plastik-Hocker in der grauen Landschaft, auf einer einsamen, geteerten Radrennbahn in Rostock, Lütten-Klein. Der Trainer, der hier Platz nimmt, als wohnte er auf der Bahn, erinnert sich: Ja, der Ulle, der hatte es von klein auf in den Beinen. „Er war eigentlich wie mein Sohn“, sagt er Coach. „Er sah aus wie ein abgezogenes Karnickel. Nur Muskeln und Haut. Mehr war nicht ... ich hab aus ihm den Rennfahrer gemacht.“ Diese Figuren sind so viel mehr als nur Statisterie. Stolz liegt in ihrem Blick. Sie zünden das Lagerfeuer an – für die öffentlich-rechtliche Märchenstunde vom Helden im Trikot. Entdecker, Mütter, Trainer, Konkurrenten.
„Being Michael Schumacher“, Folge 1: Im Staub einer alten Kiesgrube liegt die Kartbahn, auf der Schumi erste Kreise zog. Sein Gefährt? Doku-Zeitzeugen erinnern sich an ein klappriges Teil auf Rädern, geflickt aus Mofamotor, Bratpfannen, Pappmaschee, Spucke, Kleber. Der Mensch im Boliden wird von Folge zu Folge lebendiger: Wie eine Mama Miracoli erzählt in Folge 3 Mamma Rossella, pausbäckige Wirtin in Fiorano, nahe der Teststrecke von Ferrari: Bei ihr kehrte Schumacher gerne ein. „Gut aussehend, sympathisch, mutig, intelligent, wohlerzogen, das war Michael.“ Mama Rossellas Augen leuchten, hinter ihr brodelt der Pastatopf und schwelgt vielleicht noch selbst in der Erinnerung. Jede Nudel für Schumi, die in ihm kochte, ist heute ein Teil Sportgeschichte.
Schließlich die Doku zu Franz Beckenbauers Ehren. Ausgerechnet am Tage, als die Nachricht von seinem Tod um die Welt ging, lief sie im TV: Lothar Matthäus haben sie in die Kulisse einer Vereinsheims-Kneipe gepflanzt, das bringt Kolorit. Hier huldigt er dem Kaiser, der ihn einst trainierte: „Nach dem Spiel ist es richtig rund gegangen, er war nur am toben.“
Ulle, Schumi und der Kaiser – Kapitel 2: Der größte Triumph
Von der Provinz in den Olymp, vom Talent zur Unsterblichkeit: Das Schicksal der Göttlichen steuert auf den Gipfel zu. Alte krisselige TV-Bilder, lange vor Ultra-HD: Der junge Titan Jan Ullrich stößt den alten König vom Thron, er hebt bei der Tour de France 1997 Bjarne Riis aus dem Sattel, hängte ihn ab über Alp d’Huez, Andorras Bergspitzen, Mont Brichdirdiebeine. Sein Teamkollege Udo Bölts ist das Megafon, das ihn antreibt: „Quäl dich, du Sau!“ Solche Helfer braucht der Held, der Mythos, die Doku – dieser Wahnsinn in Magenta.
Ganz anders jene Majestät, die ihr Königreich, den Fußballplatz abschreitet: Der Bundes-Franz schlendert wie ein Geist übers Feld, als er als Trainer der Nationalmannschaft im Jahr 1990 die Weltmeisterschaft gewinnt. Und Michael Schumacher bricht in Tränen aus, auf der Pressekonferenz nach seinem Sieg beim Italien-Grand-Prix im Jahr 2000. Um ihn herum schlagen Schicksalsschläge ein, aber er zieht gleich an Siegen mit seinem Vorbild Ayrton Senna. Einzug in den Olymp.
Ulle, Schumi und der Kaiser – Kapitel 3: Der tiefe Fall
Lernen von den alten Griechen, ein Proseminar für Regisseure: Wer in den Himmel schnellt, fällt bald tief. So wie Ikarus und Dädalus, die in der Sage hoch bis zur Sonne flogen, bis ihre selbst gebauten Flügel schmolzen. Und bei Sport-Ikonen? Liegt es selten an Konstruktionsfehlern. Eher an Affären, Stürzen, Steuerbehörden. Spät legte Jan Ullrich ein Doping-Geständnis ab, im Beichtstuhl der Talkshows, nach Drogenabstürzen, Gewaltvorwürfen, gescheiterten Entzügen. Seinen Erzkonkurrent Lance Armstrong hat er nie besiegt. Der stand sogar an Ulles Seite in der Krise, und wird jetzt in der Doku als Freund und Seelsorger interviewt.
So einem Kaiser verzeiht man alles: Alle 11 Jahre hat Beckenbauer, zeitliche Überschneidungen inbegriffen, eine neue Frau an seiner Seite präsentiert. Das erzählt die ARD-Doku auch. Im hohen Alter, als Fußball-Botschafter, musste sich der Kaiser aus der Bredouille charmieren: Er murmelte, dass er eben gar keine Sklaven gar nie nicht gesehen habe, auf den WM-Baustellen in Katar. Und er beichtete, dass er manchmal unterschrieb, was ihm unter den Signier-Füller kam, ohne einen Vertrag bis zum Ende zu lesen.
Michael Schumachers Fall? Vielleicht der tragischste von allen, im Blitzlicht überbelichtet, in fantasierten Schlagzeilen und Fake News fortgesponnen. Von hier an keine weiteren Fragen, auch nicht in der Doku.
Ulle, Schumi und der Kaiser – Kapitel 4: Das Gefühl, das bleibt
Ende, Aus, „Fine“. Wenn die Geschichte von Ulle erzählt ist, wenn Schumis Kart im Museum steht und die Fußballwelt vor dem Kaiser ein letztes mal knickst, bei einer Trauerfeier im Stadion, dann bleibt ein Gefühl, dicht dran zu sein. Irgendwie war man dabei. Und ist das nicht BRD pur, das gute Alte, so schön, wie es niemals war und niemals wird? Weltflucht-Nostalgie in Krisentagen. Boris Beckers Leben böte noch Stoff genug, für eine TV-Saga. Ebenso die – Sportdeutschland ist und bleibt eine Monarchie – Gräfin Steffi Graf. Wer weiß, was da noch kommt.