Diese Reportage aus dem Jahr 2023 wurde am 11. September 2024 mit dem renomierten Theodor-Wolff-Journalistenpreis in der Kategorie „Bestes lokales Stück“ ausgezeichnet. „Der Autor hat uns auf die Straße mitgenommen und die Männer hinter den Lenkrädern in ihrer Unterschiedlichkeit und Rauheit porträtiert“, wird die Jury zitiert. Mehr zu dem Preis erfahren Sie hier.
Wenn Industrieorte nicht mehr Wörgl heißen, sondern Affi, lockert sich der Griff um das Kleinwagen-Lenkrad meist von allein. Aus blauen werden grüne Autobahnschilder. Kufstein. Innsbruck. BRENNERO. Diese auf beulige Metallplatten gedruckten Vorboten des Italien-Urlaubs wecken Erwartungen: an Erdbeereis im Mundwinkel und Limoncello zu Eros Ramazotti, an grün-weiß-rote Grundzufriedenheit.
Bei Menschen wie Frank und Ruslan wecken sie nur eines: die Stresshormone. 2,45 Millionen Lkw schleppten sich im vergangenen Jahr über den Brenner. Mehr als über alle großen Alpenquerungen in der Schweiz und Frankreich zusammen. Der Brenner, das Nadelöhr Europas – für diejenigen auf der Überholspur ist es die Route ins Glück, für die Überholten dagegen einer der schlimmsten Arbeitswege überhaupt.
Per Anhalter im Lkw: Viele Speditionen verbieten den Fahrern, Fremde mitzunehmen
Die folgende Reise über den Brenner führt auf den rechten Fahrbahnrand unserer Gesellschaft. In eine Welt voller Härte, Einsamkeit und Ausbeutung. In dieser Welt werden Kinder vermisst, Ehen geschieden, Körper geschunden und Gesetze gebrochen. Vor unser aller Augen. Und doch wissen wir nur wenig über das Leben von Fernfahrern.
Ich will deshalb einsteigen und zuhören, zwei Tage lang mit Truckern in den Süden trampen. Im Gepäck ein paar Fragen: Gibt es Alltag in einem Leben auf Achse? Kann eine stickige Fahrerkabine je zum Zuhause werden oder bleibt sie auf ewig ein metallener Käfig? Und was, wenn überhaupt, ist noch geblieben vom Mythos der Freiheit der Straße?
Mein Plan hat zwei Haken: Erstens, viele Speditionen verbieten den Fahrern, Fremde mitzunehmen. Deshalb werden hier nur ihre Vornamen auftauchen. Zweitens, Verkehrssprache ist in der Regel nicht Deutsch, sondern irgendeine Verästelung des Slawischen. Ich habe mir deshalb ein Übersetzerprogramm aufs Handy geladen, dazu vorsorglich alle 14 erhältlichen osteuropäischen Sprachen. Wie sich zeigen wird, eine gute Entscheidung.
A9, ein Novembermittwoch, 6.30 Uhr. Der Asphalt auf dem Rastplatz Köschinger Forst ist noch nass von der Nacht. Der Nebel liegt wie ein Kissen auf dem Donautal bei Ingolstadt. Schon mein zweiter zaghafter Anbahnungsversuch ist erfolgreich. Nach fünf Minuten sitze ich im 40-Tonner eines Mannes, der aussieht wie Viktor Orbán in Arbeitsklamotten und wild auf Rumänisch fluchend durch sein Handy scrollt. Der Motor macht Faxen. Der Chef will wissen, was los ist. Nichts Dramatisches, meint Nico. Dann rollen wir Richtung Süden.
Nico, 55, aus Rumänien:
- Strecke: Nürnberg – Haag – Tittmoning – Nürnberg
- Ladung: 22 Tonnen Zitronensäure
Kaffee aus der Thermoskanne, Kippe von Camel, Trucker-Frühstück. Zum Warmwerden will Nico die große Weltlage besprechen: das alte Rumänien unter Diktator Ceausescu, der korrupte Fußball, Nordstream, Nato-Gipfel 2008 in Bukarest.
Nico spricht solides Englisch und ausreichend Deutsch, um den Verkehrsnachrichten zu entnehmen, dass gleich „wegen eines Verkehrsunfalls drei Kilometer Stau auf der A9 zwischen Manching und Langenbruck“ auf ihn warten. Unter Nicos schwarzem T-Shirt plustert sich ein voluminöser Bauch auf. Er atmet tief aus. Der Verkehr stockt. Zeit, zur Sache zu kommen.
Sein Boss lese Zeitung, zu seinem aktuellen Anstellungsverhältnis also nur so viel: Nico arbeitet seit ein paar Jahren für einen Nürnberger Großhändler und soll heute eine kleine Tour mit zwei Ladungen in den Südosten Bayerns fahren.
„Ich liebe meinen Job“, sagt er. Einsatzort fast ausschließlich Deutschland, gutes Geld, bezahlte Überstunden. Der Fahrtenschreiber in der Kopfleiste seines Lasters – genannt Tachograf – dokumentiert jeden gefahrenen Kilometer, was keine Selbstverständlichkeit ist in dieser Branche.
"Ich bekam zum Teil acht Euro am Tag."
Nico, Lkw-Fahrer aus Rumänien
Nico zählt ehemalige Arbeitsstellen auf wie eine Einkaufsliste: fünf in Rumänien, drei in Polen, drei in der Slowakei, eine in Tschechien, eine in Norwegen. „Die haben ihre Fahrer verarscht. Ich bekam zum Teil acht Euro am Tag.“ Dafür fuhr er dann neun Wochen am Stück, kochte sonntags über der Gasflamme für die Woche vor. Und auch wenn Nicos Kabine anderes vermuten lässt – die Tablettenbox in der Mittelkonsole, die durchgebrochene Holzlatte im klappbaren Bettrost hinter ihm –, diese Zeiten sind vorbei. Er schläft und duscht nun meist zu Hause.
Lastwagenfahrer Nico ist seit sieben Jahren in Deutschland - "Jetzt ist alles besser"
Nicos Geschichte ist die eines Aufstiegs: Vom Fernfahrer zum Kurzstreckentrucker, vom Highway-Nomaden aus Osteuropa zum registrierten Steuerzahler beim Finanzamt Nürnberg.
Münchner Morgenverkehr, Nicos Frau ruft an, einst die Nachbarstochter aus Rumänien, ihre Mütter waren befreundet, die Ehe irgendwie vorbestimmt. „Wann kommst du heim?“, fragt sie. Er weiß nicht genau. Es wird Abend werden. „Als ich ihr vor 25 Jahren einen Antrag gemacht habe, sagte ich ihr: Ich bin Fahrer. Ich weiß nicht, wann ich heimkomme. Sie versteht es immer noch nicht.“ Kunstpause. „Frauen!“ Raucherlachen.
Nico dreht das Lenkrad Richtung Landstraße und die Radiofrequenz auf Schlagerparadies, seinen Lieblingssender. Während der Rumäne durch die Wald-und-Wiesen-Pampa Oberbayerns tuckert, schmilzt im Hintergrund Semino Rossi dahin: „Unbeschwert, ganz ungeniert, dass alles besser wird. Ja, ja, das war doch klar. Das verflixte siebte Jahr.“
2015 kam Nico nach Deutschland. Das siebte Jahr also jetzt. „Bist du glücklich?“ – „Ja, Gott sei Dank. Jetzt ist es besser. Als ich kam, war es sehr hart.“
In einer Milchfabrik rangiert Nico rückwärts zur Rampe 2. Eine halbe Stunde später lädt er mich ab. Mit ausgestrecktem Daumen stehe ich am Rand der B15, die Temperaturen am Gefrierpunkt, Rosenheim, das Tor zum Süden, fünf Gehstunden entfernt. Eine 60-jährige Krankenschwester im Citroën C1 erbarmt sich und schimpft dann erst mal über den regelmäßigen Verkehrsinfarkt hier: „Die Lkw verstopfen hier die ganze Stadt.“
Aus der Lenkradperspektive eines Pkw ist ein Lastwagen eine unschöne Sache, ein kastenförmiges Hindernis, ein Verkehrsverlangsamer. Nur sollen die Amazon-Pakete ja innerhalb von 24 Stunden ankommen, Erdbeeren auch im November noch süßrot in der Supermarktauslage lächeln, das neue Bad aus Carrara-Marmor sein. Wurden 1980 knapp 50 Millionen Tonnen im alpenquerenden Güterverkehr registriert, waren es 2018 mit gut 117 Millionen Tonnen mehr als doppelt so viele. Brummt die Weltwirtschaft, brummen die Laster.
Günther Platter hatte irgendwann genug vom vielen Gebrumme. Durch sein schönes Bundesland sollten weniger Laster fahren, weshalb der Tiroler Landeshauptmann im Sommer 2019 eine der schärfsten Klingen der Verkehrspolitik zückte: die Blockabfertigung. An festgelegten Tagen dürfen nur noch 300 Lkw pro Stunde die deutsch-österreichische Grenze bei Kufstein passieren.
Als ich vor drei Jahren erstmals dazu recherchierte, erzählten mir deutsche Autobahnpolizisten von erschöpften Brummis, die im Megastau einschliefen und riesige Lücken auf der rechten Spur rissen, von Bußgeldern, die sie verteilen mussten, weil die Fahrer sich am Straßenrand erleichterten. Der Einsatzleiter damals hatte Mitleid: „Das sind Gefangene im eigenen Fahrzeug. Die Ärmsten der Armen.“
21 Blockabfertigungstermine gab es im zweiten Halbjahr 2022. Einer davon: Mittwoch, 30. November, der erste Tag dieser Reise. Der Verkehr auf der A93 Richtung Süden staut sich von der Grenze bis nach Rosenheim, bis zu 29 Kilometer lang. Dazwischen, am Inntaler Autohof, nach zwei weiteren Mitfahrgelegenheiten mein jetziger Standort, ist die Stimmung so diesig wie dieser Spätvormittag.
Der Fahrer eines Benzinlasters hat die Pannenhilfe am Apparat. „Ich weiß nicht, ob ich heute überhaupt noch weiterkomme“, schimpft er. Ein ukrainischer Kollege nutzt den Stau für eine Schlafpause. Und Frank, ein hagerer Mann im Strickpulli, darüber eine Weste, in deren Brusttasche zwei Kugelschreiber stecken, poltert im norddeutschen Schnack. Er hat viel zu erzählen.
Frank, 61, aus Lippe:
- Strecke: Lippe – Bologna
- Ladung: 21 Tonnen Industriestahlgüter
Frank ist ein Mann, der sehnsüchtig vom Früher und missmutig vom Jetzt spricht. Seit knapp 30 Jahren fährt er Lkw, mehr als 20 davon nach Italien, fast 1000-mal über den Brenner.
Früher, da hätten zwei oder drei Fahrer seiner Firma gleichzeitig ins Fliesengebiet zwischen Bologna und Modena geliefert. Abends kehrten sie gemeinsam in den Trattorien ein, eine echte Clique, Fernfahrer-Menü, drei Gänge und Vino, pappsatt für 20 Euro.
"Du fährst gegen die Uhr, wie so ein Formel-1-Fahrer."
Frank, Lkw-Fahrer aus Deutschland
„Heute sind wir Einzelkämpfer geworden durch diesen deregulierten Markt“, sagt Frank. „Du fährst gegen die Uhr, wie so ein Formel-1-Fahrer. Du überlegst dir: Wie weit fahr ich? Wo mach ich Pause? Wann mach ich weiter?“
Heute ist Frank zehn Stunden aus Ostwestfalen durch die Nacht gefahren, bis zum Mittag macht er seine gesetzlich vorgeschriebene Neun-Stunden-Pause, „so wenig wie möglich“, sagt er, „damit ich noch am Abend in Ruhe vor Bologna lande.“
Heute ist Frank seit zwei Wochen geschieden.
Ein 23-jähriger Junge mit Downsyndrom, eine 15-jährige Tochter und eine 20-jährige kaputte Ehe. Familie und Fahren, beides zusammen gehe einfach nicht, sagt Frank. „Die Frauen sitzen allein zu Hause. Die müssen mit jedem Scheiß allein klarkommen.“
Einst begann er diesen Job, „um rumzukommen“. Jetzt hat er ihm das Wichtigste genommen: seine Liebsten. Der Rücken zwickt, das Knie tut weh. Ob er weitermacht? „Mal gucken, was der Medizinmann sagt.“
In Deutschland fehlen aktuell rund 56.000 Lastwagenfahrer
Eigentlich müsste der Arbeitsmarkt sich um Menschen wie Frank reißen. 56.000 Lkw-Fahrer fehlen derzeit allein in der Bundesrepublik. Das hat ein Forschungsteam um Wolfgang Stölzle berechnet. „Und wenn sich nichts ändert, kommen wegen der demografischen Lücke jährlich 20.000 fehlende Fahrer hinzu“, sagt der Professor für Logistikmanagement an der Universität St. Gallen. Dass der Nachwuchs ausbleibt, habe vor allem drei Gründe: widrige Arbeitsbedingungen, fehlende Wertschätzung und schlechte Vergütung.
Was passiert, wenn eine Achse im Logistikgerüst einfach bricht, bekam Großbritannien nach dem Brexit zu spüren: Supermarktregale blieben leer, Tankstellen bekamen keinen Nachschub, vor den Zapfsäulen bildeten sich Schlangen, das Militär musste aushelfen. Wegen der verschärften Einwanderungspolitik herrschte auf der Insel plötzlich akuter Fahrermangel, osteuropäische Arbeitsmigranten waren nicht mehr erwünscht. Irgendwann ruderte London zurück und begann ein Anwerbeverfahren für Lkw-Fahrer.
Die große Verkehrspolitik. Weit weg vom Trucker-Kleinod am Inntal-Rasthof. Vor dem Eingang wacht ein Türsteher aus Holz, eine halbmetergroße Ikone, der heilige Christophorus, Schutzpatron der Reisenden. Drinnen grelles Licht, zwei mäßig gefütterte Spielautomaten und ein reichhaltiges Alkoholregal. An einem der Tische sitzt ein Mann in Engelbert-Strauß-Arbeitshose und zersägt seine Currywurst. Gerhard macht hier seit 20 Jahren Mittag. Er greift sich noch ein Sixpack Bier für die nächsten Feierabende, dann schlendert er zu seinem Arbeitsgefährt, dem Maserati unter den Lkw.
Gerhard, 51, aus Landau:
- Strecke: Dasing – Poggio Torriana
- Ladung: 23 Tonnen Isolierglasscheiben
Der Actros 1863 von Daimler, Truck des Jahres 2020, 625 PS, digitale Seitenspiegel, Spurhalteassistent und hinter der Windschutzscheibe eine weißblau karierte Plakette: „I bin Niederbayer.“
Niederbayer Gerhard also, der eigentlich Maurer gelernt hat, dann mit seiner Baufirma pleiteging und durch seinen verstaubten Lkw-Führerschein aus Bundeswehrzeiten wie so viele schließlich Trucker wurde, ist ein Freund großer Maschinen. Der Pfropfen an der Grenze hat sich gelöst, die Blockabfertigung ist beendet. Gerhard brettert mit 89 km/h Richtung Brenner (erlaubt sind 80), vorzugsweise auf der zweiten Spur (trotz Lkw-Überholverbot auf dieser Strecke).
Rechts smaragdfarben der Inn, links das Industriegebiet von Wörgl, vorne die Innsbrucker Nordkette, im Radio Egoist von Falco. Bist du einsam, Gerhard? „Man gewöhnt sich dran.“ Gerhard – geschieden, Vater einer 18-jährigen Tochter – zögert, zieht an seiner Zigarette, „ich find, ich hab’s scho schee“, sagt er und zeigt seine Handyfotos: den Lago Iseo, italienische Berge, Serpentinenkurven. „Ich war schon ewig nicht mehr im Urlaub. Ich hab’ ja das ganze Jahr Urlaub.“
Gerhard weiß, dass er privilegiert ist, mit seinem Edel-Lkw und einem niederbayerischen Kleinunternehmen als Arbeitgeber. Für eine große Spedition würde er nie arbeiten. „Ist 0815. Da kriegst du einen Karren mit 400 PS. Das ist ein Witz.“
15.20 Uhr. Mit Gerhards Zigarettentaktung kann ich nicht mithalten und bekomme Migräneanfälle. Innsbruck zieht vorbei, die Europabrücke, die Baustelle des Brenner-Basistunnels, der ab 2028 helfen soll, den Güterverkehr von der Straße auf die Schiene zu leiten. Zumindest hier. Denn in Deutschland wird sich so schnell wohl nichts ändern, sagt Logistikexperte Stölzle. „Die Schienen wären überhaupt nicht in der Lage dazu, größere Anteile der Straße zu übernehmen. Dafür gibt es keine Kapazität.“ Dreiviertel aller Güter werden hierzulande per Laster transportiert, weniger als 20 Prozent per Zug. Der Rest entfällt auf die Binnenschifffahrt.
Wohin in der Nacht? Es gibt viel zu wenige Lkw-Stellplätze an den Autobahnen
Gerhard hat gerade andere Probleme: Weiterfahren über den Brenner und hoffen, dass hinter dem Pass noch irgendwo ein Parkplatz für die Nacht frei ist? Oder jetzt abfahren, auf Sicherheit? Gerhard zieht durch, hinein in den Südtiroler Sonnenuntergang.
Vier Kilometer vor Sterzing, Autostrada-Anzeige: „Lkw-Stau“. „Jetzt kenna’s uns am Arsch lecken“, raunt Gerhard, nimmt die nächste Abfahrt und schlängelt sich eine Landstraße entlang, während sich zu seiner Rechten eine kilometerlange Lkw-Kolonne durchs Tal zieht. Zurück auf der Autobahn hat er Glück: An einer Raststätte bei Brixen ist noch ein Stellplatz frei. Um kurz vor 17 Uhr stoppt der Actros 1863. Gerhards Bilanz heute: 9¾ Stunden Lenkzeit, 641,8 Kilometer Strecke. Morgen weit vor Sonnenaufgang wird es weiter nach Rimini gehen.
Während Gerhard sein Feierabendmahl präpariert (Brotzeit und Bier), seine Freundin noch anruft und mangels sanitären Angebots an der Raststätte ungeduscht einschlummern wird, ein kurzer Schwenk zur Trucker-Seelsorgerin Anna Weirich. Seit Jahren ist sie für das Projekt „Faire Mobilität“ des Deutschen Gewerkschaftsbunds unterwegs auf Rastplätzen, um mit Lkw-Fahrern über ihre Arbeitsbedingungen zu sprechen. Die Sache mit den Parkplätzen hört sie oft. Allein in Deutschland fehlen 40.000 Lkw-Stellplätze, „ein eklatanter Mangel“, sagt Weirich. „Für die Fahrer ist das ein Albtraum. Sie parken überall, in der zweiten Reihe, der Einfahrt, der Ausfahrt. Viele müssen einfach weiterfahren, obwohl sie schon längst ihre Pause einhalten müssten.“
Neun Stunden am Tag dürfen die Fahrer gesetzlich lenken, in Ausnahmefällen zehn, nie länger als viereinhalb Stunden am Stück. Spätestens nach sechs Tagen ist eine 45-stündige Wochenruhezeit vorgeschrieben. Sie darf nicht im Führerhaus verbracht werden. „Aber die Lkw-Fahrer schlafen fast ausnahmslos in ihrem Wagen“, sagt Weirich. Und wenn kein Parkplatz mehr frei ist, dann stellen sie sich eben in Industriegebiete. Zwei Tage ohne Klo. Trucker Frank hatte für solche Fälle einen Plastikeimer mit Mülltüte unter seinem Auflader deponiert.
Der nächste Morgen, derselbe italienische Rastplatz, ein Lkw mit polnischem Kennzeichen. In Aleksanders Zugmaschine riecht es nach Fuß. Der Ukrainer mit der Nike-Trainingshose und den Adidas-Adiletten macht noch eine Pinkelpause, dann brechen wir auf Richtung Gardasee.
Aleksander, 46, aus Dnipropetrowsk:
- Strecke: München – Rovereto
- Ladung: zehn Tonnen deutsche Post
Sollten Sie in den bisher gut 2150 Worten dieses Texts die Trucker-Romantik vermisst haben, hier kommt sie: Aleksanders Kabine hat ein doppelstöckiges Bett – für sich und seine Frau. Eine Ehe in einem 40-Tonner. Drei Wochen durch Westeuropa, dann immer eine Woche zu Hause. Vorteil für den Arbeitgeber: Die beiden können teils 21 Stunden durchfahren. Vorteil für Aleksander: Er ist nicht allein, auch einkommenstechnisch. „Ist super. Zwei Kassen.“
Nun aber liegt die Gattin mit Corona flach in einer Drei-Zimmer-Wohnung im polnischen Breslau. Als kleines „Denk an mich“ hat sie ihrem Mann Borschtsch gekocht, die in einem Einweckglas in der Kühlbox schwappt, zwischen Pasteten und einem Becher Schmand.
Am Morgen ist Aleksander in München losgefahren. Davor war er in Augsburg, davor Verona, davor Mailand. Jetzt schreibt der Boss: In Rovereto wartet ein leerer Auflieger, Disposition folgt.
Während draußen die Berge langsam dem lebensgefühlt echten Italien weichen, erzählt Aleksander von seinem zerbombten Heimatland. „Heute Ukraine: Problem, Problem, Problem“, sagt er. Die Eltern wohnen noch da, die Mutter sei schwer krank – wie auch Putin, findet er.
Aleksanders Heimatstadt Dnipro liegt keine zwei Lkw-Stunden von der Front entfernt. Hier ging er zur Polizeiakademie, bis ihn die Korruption kaputtmachte. Aleksander schmiss hin, kutschierte Menschen erst in einem Bus, baute sich dann eine kleine Spedition auf und kam so zu einem Job in Polen. „Das ist meine Arbeit, nicht meine Leidenschaft“, sagt Aleksander. Lieber wäre er Polizist in Deutschland geworden. Er wäre dann auf der anderen Seite der nun folgenden lautmalerischen Erzählung gestanden.
Eine Tankstelle hinter Duisburg, deutsch-niederländisches Grenzgebiet, fünf Jahre her. Hier verbringt Aleksander seinen Feierabend mit der wohl teuersten Ladung seines Lebens: 66 Paletten TV-Geräte auf zwei Etagen, zwei Millionen Euro wert. Es ist Sommer, das Schiebeverdeck geöffnet. Als es Nacht wird, sprühen die Räuber – „bssscht, bssscht“ – Schlafgas ins Führerhäuschen. Sie schlitzen – „zapzarap“ – die Planen auf, stehlen zwölf Paletten. Die Polizei hämmert – „boomboom“ – gegen die Fahrertür. Aleksander kommt ins Krankenhaus.
Auf deutschen Straßen liegt der Anteil ausländischer Lkw bei über 40 Prozent
Heute sei alles ok, wie es ist, „keine Problem“. Aber, sagt Aleksander, „es gibt auch schlechte Chefs“. Sein erster Arbeitgeber in Polen etwa. Elf Monate sei er nonstop unterwegs gewesen, obwohl er nach europäischem Recht alle vier Wochen heimkehren dürfte. Und das alles für 1500 Euro, mehr als ein Viertel weniger als aktuell. Er habe viele Kollegen gesehen, die seien depressiv wieder in die Heimat gegangen.
„Warten!“, befiehlt Aleksander, bevor er mich bei Trient rauslässt. Hinter seinem Sitz fischt er eine Dose polnisches Bier hervor. Ein Abschiedsgeschenk.
Auf deutschen Straßen liegt der Anteil ausländischer Lkw bei bereits über 40 Prozent. Osteuropäische Speditionen haben den westeuropäischen Markt übernommen – und die EU dafür komplexe Arbeitsschutzmechanismen aufgestellt.
Ein Beispiel: Ein polnischer Lkw fährt von Deutschland nach Spanien. Für die Zeit in Deutschland müsste der Fahrer deutschen Mindestlohn bekommen, in Frankreich französischen. Und so weiter. Aleksanders Fahrtenschreiber registriert dafür per GPS jeden Grenzübertritt, Gerhard etwa musste das manuell einstellen.
Logistikprofessor Stölzle ist kein Freund dieser Regel: „Da sind die Pferde mit den Bürokraten durchgegangen. Wie wollen sie Grenzübertritte von hunderttausenden Lkw kontrollieren? Das ist nicht praktikabel. Wenn Sie das durchsetzen wollen, dann gefährden Sie die Belieferung und Versorgung der deutschen Bevölkerung.“ Im Umkehrschluss heißt das nichts anderes als: Die Versorgung Deutschlands ist von der Ausbeutung ausländischer Lkw-Fahrer abhängig.
Viele Subunternehmen bezahlen den Fahrern nur den heimischen Mindestlohn
Und die Ausbeutung trägt einen Namen: Spesenmodell. Viele Subunternehmen bezahlen nur den heimischen Mindestlohn, in Rumänien etwas mehr als 500 Euro brutto, obwohl ihre Fahrer im Westen arbeiten. Den Rest des Gehalts tarnen sie als Spesen. Der Arbeitgeber spart sich so Steuern und Sozialabgaben. Dem Arbeitnehmer bleiben kaum Rentenansprüche und im Krankheitsfall nur ein paar Peanuts.
„Dieses Modell ist die Regel. Es ist ein klarer Gesetzesverstoß“, sagt Anna Weirich. „Lkw-Fahrern wird durch die Bank weg zu wenig bezahlt.“ Stunden würden gedrückt, Pausen zum Laden missbraucht, teils sogar nach gefahrenen Kilometern bezahlt. Auch das: ein Verstoß gegen EU-Recht.
Es gebe da ein paar „crazy motherfuckers“ in diesem Geschäft, sagt Ruslan, ein Mann mit drei Goldzähnen und einer Pilotenbrille. Bei ihm einsteigen zu dürfen, kostete viel Überzeugungsarbeit. Mein Volkshochschulrussisch war der Eisbrecher, jetzt übernimmt die Übersetzer-App. Ruslan arbeitet für ein litauisches Unternehmen, stammt aber aus Luhansk in der Ostukraine – „kein Flüchtling, Immigrant“, das ist ihm wichtig. Anders als Aleksander blickt er durch den Putin-Filter auf seine Heimat: Nato, USA, Macht, Gier – alles verschwimmt zu einem großen bösen Feuerball.
Ruslan, 39, aus Luhansk:
- Strecke: Amsterdam – Casamaggiore
- Ladung: 24 Tonnen Plastik
Die Sprache kommt aufs Geld: „Wenn es ums Geld geht, dann leiden die Menschen“, sagt Ruslan. Von Geld wolle man immer mehr. Von Geld kaufe er sich keinen Alkohol, keine Zigaretten, sondern Klamotten in Outlet-Centern. Elf Monate sei er jetzt schon unterwegs: Benelux, Frankreich, Spanien. Elf Monate ohne Familie. Ruslans Telefonverlauf besteht aus einem Namen: „Baby“, steht da auf Kyrillisch. Der Ukrainer fuhr vor, zwei Jahre lang, bis er seine Familie 2019 nachholte. „Meine zwei Kinder sollen es mal besser haben. Ich habe nicht studiert. Ich kann nichts anderes machen. Wir sind Geiseln der Situation.“
"Ich habe nicht studiert. Ich kann nichts anderes machen."
Ruslan, Lkw-Fahrer aus der Ukraine
Ruslans Geld: 600 bis 700 Euro Grundgehalt. Mit Spesen: 2100 Euro. Er weiß, dass das unfair ist. Aber die Polizei kontrolliere eben nur die Lenkzeiten, nicht das Gehalt. „Manche Fahrer sind seit Jahrzehnten in Europa unterwegs, aber noch kein einziges Mal nach ihrem Lohn gefragt worden“, erzählt Anna Weirich. „Das ist Aufgabe des Zolls. Hier scheint es ein massives Defizit zu geben.“ Fragt man sie, ob es auch Verbesserungen gebe, in diesem Geschäft, seufzt sie. „Die Arbeitsbedingungen sind leider konstant schlecht“, sagt sie dann.
"Es gibt zwei Europas" - Wie der Westen die Kosten mit billigen Arbeitern aus dem Osten drückt
Und so verlagern westeuropäische Speditionen weiter ihre Arbeit kostengünstig an osteuropäische Dienstleister, die aktiv Gesetze brechen, weil ihre Fahrer schlicht zu schwach sind, sich zu wehren: Viele kennen ihre Rechte nicht. Sie sind gewerkschaftlich kaum organisiert. Weil sie immer auf Achse sind, haben sie keine funktionierende Postadresse für Anwaltskorrespondenz. Und wenn man aus einem sogenannten Drittstaat kommt – aus der Ukraine, Belarus, Zentralasien, vermehrt auch den Philippinen oder Indien – und um seine Aufenthaltsgenehmigung in der EU bangt, überlegt man sich das mit dem Klagen ohnehin dreimal.
Nach zwei Tagen und den unterschiedlichsten Geschichten – von Nico dem rumänischen Aufsteiger, von Frank, dem Frischgeschiedenen, Gerhard, dem Luxustrucker, und Aleksander, dem Ex-Polizisten – endet diese Reise, wo sie vielleicht enden musste: bei Ruslan, der am Ende der Nahrungskette fährt.
„Es gibt zwei Europas“, sagt er. Den Osten. Und den Westen. „Eine Zwei-Klassen-Gesellschaft?“, frage ich. Ruslan nickt und blickt verloren an mir vorbei in die venezianische Hügellandschaft. Noch ist es ein bisschen bis Verona, wo ich aussteigen will. Meine Fragen tauen Ruslan auf. Er beginnt, Gegenfragen zu stellen. Sonst bleibt der Beifahrersitz ja immer leer. Irgendwann redet er so schnell, dass die Handyübersetzung nicht mehr hinterherkommt.
Unsere Wege trennen sich an einer Zapfsäule in einem Vorort von Verona. Ich laufe zum nächsten Bahnhof, in wenigen Stunden zurück ins alte Leben. Ruslan wird weiter in den Süden fahren – zwei Meter über der Straße thronend, und doch ganz unten –, immer weiter durch ganz Europa, vorbei an verheißungsvollen Schildern: Venedig, Avignon, San Sebastian. Er wird sie rechts liegen lassen. Er wird diese Orte wohl nie wirklich kennenlernen. Die Ausfahrt ist für andere reserviert.