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Extremfrühchen werden schon nach 22 oder 23 Wochen geboren - doch zu welchem Preis?

Geburt

Mehr Extremfrühchen überleben - doch zu welchem Preis?

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    Ein Frühchen liegt in einem Inkubator.
    Ein Frühchen liegt in einem Inkubator. Foto: Britta Pedersen/dpa-Zentralbild, dpa (Symbolbild)

    Immer mehr extreme Frühchen überleben – oft aber zum Preis schwerer Komplikationen. Es sei nicht nur in Deutschland, sondern weltweit umstritten, ob lebenserhaltende Maßnahmen bei extrem früh, in der 22. oder 23. Woche geborenen Kindern, als gerechtfertigt oder Überbehandlung zu werten seien, sagt Christoph Bührer, Direktor der Klinik für Neonatologie, Charité – Universitätsmedizin Berlin. „Es muss umstritten sein und kann nur von Fall zu Fall im Rahmen eines gemeinsam von Eltern und Ärzten erarbeiteten und getragenen Entscheidungsfindungsprozesses eruiert werden.“

    Wie auch in anderen europäischen Ländern und den USA falle die Behandlung von Extremfrühgeborenen in einen Graubereich, in dem die Meinungen sehr auseinandergingen, ob eine Behandlung in lebenserhaltender Absicht oder ein von Anfang an palliativer Weg sinnvoller sei. „Beides ist vertretbar, aber die Entscheidung liegt letztlich bei den Eltern und spiegelt deren Werte und Erwartungshorizont wider“, sagt Bührer. Ärztliche Aufgabe sei es, über die Chancen und Risiken aufzuklären, um den Eltern eine informierte Entscheidung zu ermöglichen.

    Von Kindern, die in der 22. Woche geboren werden, überlebt nur jedes vierte

    Einer aktuellen US-Studie zufolge überlebt nur jedes vierte Kind, das in der 22. Schwangerschaftswoche auf die Welt kommt, bei in der 25. Woche geborenen Kindern sind es rund 80 Prozent. Bekommen Kinder, die in der 22. Woche geboren werden, eine Lebensunterstützung durch mechanische Beatmung und kreislaufstabilisierende Infusionen, überleben etwa ein Drittel, wie ein Medizinerteam im Fachjournal Pediatrics berichtet. Kinder aus der 25. Woche erhalten demnach fast immer Lebenshilfe.

    Das Team um Erika Edwards von der University of Vermont in Burlington hatte Daten von fast 23.000 extrem frühgeborenen Kindern untersucht, die zwischen 2020 und 2022 in US-Kliniken mit umfassender Ausstattung für die intensivmedizinische Versorgung von Neugeborenen zur Welt kamen. Die Auswertung ergab, dass 2020 noch 62 Prozent der in der 22. Woche geborenen Kinder Unterstützung erhielten – zwei Jahre später schon 74 Prozent. Der weit überwiegende Teil dieser Frühgeborenen hatte mit schweren Komplikationen wie Blutungen, Lungenerkrankungen oder Infektionen zu kämpfen, nur etwa 6 Prozent nicht. Bei den in der 25. Woche Geborenen wurden für rund 43 Prozent keine Komplikationen erfasst. Vielfach waren die Frühgeborenen bei der Entlassung aus der Klinik noch von medizinischen Geräten wie Sauerstoffpumpen oder Ernährungssonden abhängig, wie es in der Studie weiter heißt. Wie es ihnen nach der Entlassung erging, wurde nicht untersucht.

    „Man weiß aus anderen Untersuchungen, dass solche Komplikationen mit dem Risiko für bleibende neurologische Schäden assoziiert sind“, erklärt Bührer, der selbst nicht an der Studie beteiligt war. Je mehr und schwerwiegender die Komplikationen seien, desto höher sei die Rate an Zerebralparesen – bleibenden Störungen von Bewegung und Haltung – oder kognitiven Beeinträchtigungen sowie Verhaltensauffälligkeiten. Generalisieren lasse sich der Zusammenhang aber nicht, gibt der Mediziner auch zu bedenken: Es gebe sowohl Frühgeborene ohne Komplikationen, die später trotzdem in ihrer Entwicklung beeinträchtigt seien, als auch Frühgeborene mit mehreren schweren Komplikationen, die sich später normal entwickeln.

    Schwierige Entscheidung zwischen lebenserhaltender und palliativer Therapie

    Die in Pediatrics publizierten Ergebnisse unterschieden sich nicht wesentlich von denen vorangegangener Untersuchungen, sagt Charité-Mediziner Bührer. Solche Daten seien die Grundlage der unter Federführung der Gesellschaft für Neonatologie und Pädiatrische Intensivmedizin (GNPI) entstandenen Leitlinie zum Umgang mit Frühgeborenen an der Grenze der Lebensfähigkeit. „Bei der Behandlung extrem unreif geborener Kinder an der Grenze der Lebensfähigkeit kann durch intensivmedizinische Maßnahmen einem Teil der Kinder kurz- oder langfristig zum Überleben verholfen werden, unter Umständen aber unter Inkaufnahme erheblichen Leidens und lebenslanger körperlicher und geistiger Beeinträchtigungen“, heißt es darin. „Diese einander widerstreitenden Aspekte müssen bei der Entscheidungsfindung bestmöglich abgewogen und ausgehalten werden.“

    Für Frühgeborene unter 22 Schwangerschaftswochen sowie Frühgeborene unter 23 Wochen und einem Gewicht unter 400 Gramm bestehen demnach bis auf Einzelfälle keine realistischen Möglichkeiten, sie am Leben zu halten. Ab der 23. Schwangerschaftswoche steige die Überlebenschance in spezialisierten Zentren behandelter Frühgeborener an. Ein Teil der überlebenden Kinder leide jedoch später an schwerwiegenden Gesundheitsstörungen, die teils lebenslange Hilfe durch andere notwendig machen. Ab der 24. Woche und bei einem Gewicht von mehr 400 Gramm seien die Überlebenschancen behandelter Frühgeborener so hoch, dass im Regelfall eine lebenserhaltende Therapie anzustreben sei.

    In Deutschland ist die vorgeburtliche Betreuung intensiver als in den USA

    Das Vorgehen in Deutschland ähnele damit prinzipiell dem in den USA, sagte Mario Rüdiger, Leiter des Fachbereiches Neonatologie und Pädiatrische Intensivmedizin am Universitätsklinikum Carl Gustav Carus in Dresden. „Ein wichtiger Unterschied zwischen der Versorgung in Deutschland und USA ist die vorgeburtliche Betreuung.“ Sie sei hierzulande deutlich umfangreicher und intensiver. Das betreffe etwa Maßnahmen zur Lungenreifung. Zentral sei die Begleitung und Beratung der Eltern, sagte Rüdiger, Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Perinatale Medizin (DGPM). Sowohl das kurative als auch das palliative Vorgehen sowie sich daraus ergebenden Risiken würden ausführlich besprochen. Dabei werde auch vermittelt, dass bei einer Verschlechterung des kindlichen Zustandes von unterstützenden Maßnahmen zu Sterbebegleitung umgeschwenkt werden kann.

    Die Chancen Frühgeborener sind weiter gestiegen

    Eine große Rolle für die Langzeitentwicklung spiele auch der Umgang der Eltern mit ihrem Kind und die sozioökonomischen Verhältnisse der Familien, betont Rüdiger. „In der vergangenen Dekade zeigte sich immer deutlicher, dass die langfristige Entwicklung maßgeblich durch sozioökonomische und psychosoziale Faktoren beeinflusst wird.“ Ein niedriger sozioökonomischer Status habe eher negativen Einfluss auf die neurologische Entwicklung – nicht nur bei zu früh geborenen Kindern. Eine starke Eltern-Kind-Bindung wiederum wirke sich sehr positiv auf die langfristige Entwicklung aus.

    Zu bedenken gibt Rüdiger speziell zu den Daten der US-Studie zudem, dass sich die Medizin in diesem Bereich schnell weiterentwickle – die Überlebensdaten von vor fünf Jahren geborenen Kindern seien heute schon nicht mehr aktuell. Die Chancen Frühgeborener seien weiter gestiegen. „Ähnliche Diskussionen um das Vorgehen an der Grenze der Überlebensfähigkeit gab es immer wieder in der Geschichte der Neonatologie“, erklärt der Dresdner Experte. Vor 30 bis 40 Jahren sei wegen der geringen Überlebenschancen noch die Frage gewesen, ob es ethisch akzeptabel ist, Kinder mit weniger als 1000 Gramm Geburtsgewicht zu behandeln. „Heute haben diese Kinder einen unproblematischen Verlauf nach der Geburt.“ (Annett Stein, dpa)

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