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Die Seiten der EU: Literarischer Streifzug durch Europa

Ein literarischer Streifzug quer durch Europa
Foto: Illustration: Stock Adobe
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Ein literarischer Streifzug quer durch Europa

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    • Belgien
      Georges Simenon kannte sie genau – die schummrigen Winkel und tiefen Schatten seiner Heimatstadt Lüttich. Als er noch Zeitungsreporter war, zog er mit Regenmantel und Pfeife durch die Backsteinhaus-Gassen, über Kopfsteinpflaster die Maas entlang, und dann tief hinein in eine Atmosphäre aus Zigarettenrauch und Waffelduft, zwischen Halbwelt und Rotlicht. Und diese Ecken kennt auch sein Kommissar Maigret. Der belgische Autor Georges Simenon hat die markante Romanfigur erfunden: Maigret trinkt Bier, pafft, schlemmt und ermittelt in 75 Krimis. Sein 10. Fall führt den Kommissar mit der Melone, der nun eigentlich in Paris Verbrechen klärt, wieder zurück nach Lüttich. Dort haben zwei Halbkriminelle, beim Plündern eines Nachtklubs, eine Leiche entdeckt. Die Spur führt zu einem mysteriösen Griechen, den Maigret beschattet. Dieser Krimiklassiker von 1931, „Maigret im Gai-Moulin“, bohrt in die Psyche eines Milieus, im Leben einer belgischen Stadt. Maigret ist heute der bekannteste Ermittler Belgiens – neben Hercule Poirot.
      Georges Simenon: Maigret im Gai-Moulin. Aus dem Französischen von Hansjürgen Wille, Barbara Klau und Mirjam Madlung. Atlantik, 208 Seiten, 13 Euro.
    • Frankreich
      Eine großzügige Wohnung in Paris, das Wohnzimmer, die Küche, ein Balkon, das Bad – mehr braucht Cécile Tlili nicht für diesen dramatischen "Sommerabend": In ihrem Romanerstling werden an diesem Sommerabend ganze Lebensentwürfe zertrümmert. Die Pariser Schriftstellerin inszeniert ein fesselndes Kammerspiel mit vier Personen, zwei Paaren. Die Männer, Etienne, der attraktive Gastgeber, und der eher unscheinbare Rémi, kennen sich aus Studienzeiten. Der eine kommt aus einer angesehenen Familie und ist wie sein Vater Anwalt. Der andere hat sich das Studium hart verdienen müssen und ist Lehrer geworden. Doch für Rémi hat sich mit der Beziehung zu der gebürtigen Tunesierin Johar alles geändert. Denn die ehrgeizige Johar hat sich zäh nach oben gekämpft – auch gesellschaftlich. Auf die junge schüchterne Claudia, die neueste Eroberung des Frauenlieblings Etienne, wirkt die Karrierefrau einschüchternd. Umso mehr bemüht sie sich, die Einladung zu einem Erfolg zu machen. Doch das schafft nicht einmal ihre gute Küche ... Es geht um Egoismus und Entfremdung, um die Unfähigkeit zu lieben, um Aufstieg, Karriere und um die gesellschaftliche Maskerade, die an diesem Abend zerfällt wie die Zucchiniblüten.
      Cécile Tlili: Ein Sommerabend. Aus dem Französischen von Norma Cassau. Kein & Aber, 192 Seiten, 21 Euro
    • Italien
      Klassische Abenteuerromane schreibt der italienische Kinder- und Jugendbuchautor Davide Morosinotto, die in ihrer Handlung oft ungewöhnliche Wege gehen. In "Die Rebellen von Salento" entwickelt er die Utopie eines eigenständigen Kinderstaates in der ganz realen Gegend um das apulische Salento im südöstlichen Zipfel Italiens. Mit großer atmosphärischer Kraft beschreibt Morosinotto diesen Landstrich, seine Menschen, ihre Geschichte und Geschichten in diesem Buch, in dem der 13-jährige Paolo und seine Freundinnen und Freunde beschließen, einen eigenen Staat zu gründen, in dem Erwachsene nichts zu sagen haben. Angeregt werden sie dazu von einem alten Dokument eines Räuberhauptmanns, der im Jahr 1861 schon einmal die Unabhängigkeit für das Gebiet der Casa Vulia, die Olivenplantage, auf der Paolo mit seiner Familie lebt, proklamierte. Die Kinder organisieren das Zusammenleben, erlassen Gesetze, denken über Gewaltenteilung nach und geben sich eine eigene Währung. Was als Ferienprogramm beginnt, zieht bald größere Kreise, als die Kinder ihre Staatsgründung im Internet dokumentieren. Damit kommen sie dem Bürgermeister in die Quere, der ganz andere Pläne für Casa Vulia verfolgt. Wie interessant und lebensnah Politik sein kann, erfahren junge Leserinnen und Leser mit Morosinottos außergewöhnlichem Leseabenteuer auf unterhaltsame Weise – und mit viel italienischem Flair.
      Davide Morosinotto: Die Rebellen von Salento. Aus dem Italienischen von Cornelia Panzacchi. Thienemann, 288 Seiten, 15 Euro, ab 10 Jahren
    • Niederlande
      „Vor Tullys Tod laufe ich natürlich niemals weg, meine Trauer ist meine Elefantin. Manchmal sind unsere Knöchel mit schweren öligen Eisen aneinandergekettet, manchmal schleppe ich mich am Schwanz weiter, im Rücken den Regen, manchmal trete ich in den Kot, manchmal lasse ich mich tragen …“. Der Roman „Birkenschwester“ von Caro Van Thuyne verarbeitet traurig-schön einen großen Verlust, die Liebe zweier Menschen und die Suche nach Trost. Nachdem ihre Schwester gestorben ist, beschließt Mari, den Fluss entlang zum Meer zu wandern. Während sie dem Lauf des Wassers folgt, versucht sie den Schmerz über Tullys Tod loszulassen und mit ihrer Trauer umzugehen. Begleitet wird sie dabei von einer verletzten Dohle, Büchern und den Berührungen der Natur. In der Zeit, in der Mari versucht, einen neuen Pfad für sich zu finden, renoviert ihr Mann Felix ein kleines Haus im Wald und schafft einen Ort, an den Mari hoffentlich bald wieder heimkehren kann. „Birkenschwester“ ist ein magisches Buch, das in Prosa- und Lyrikschnipseln, Tagebucheinträgen und Zitaten zeigt, wie Mari die Welt wahrnimmt. Ausgezeichnet wurde es dafür mit dem Preis für das beste niederländische Debüt 2021.
      Caro Van Thuyne: Birkenschwester. Aus dem Niederländischen von Lisa Mensing. Maro, 224 Seiten, 24 Euro
    • Dänemark
      In Dänemark war sie schon zu Lebzeiten berühmt, in Deutschland wurde die Schriftstellerin Tove Ditlevsen ( (1917–1976) erst vor Kurzem (wieder)entdeckt: „Schreiben heißt sich ausliefern, sonst ist es keine Kuns.“ Das hat Ditlevsen einmal gesagt und so liefert sie sich in ihrer autofiktionalen Kopenhagen-Trilogie mit den drei Bänden „Kindheit“, „Jugend“ und „Abhängigkeit“ schonungslos aus: schreibt von der Herkunft aus einem Arbeiterviertel, von der abweisenden Mutter, von dem Kampf um Anerkennung als Schriftstellerin, schreibt über Männer und Ehen, schreibt über Abtreibungen und über die Abhängigkeit vom Schmerzmittel Pethidin – und schreibt über die Literatur als ihren „Rettungsring“. Schreibt so, dass Jahrzehnte später ihre Literatur in den Bestsellerlisten landet und der weltweite Hype einen Namen bekommt: Tove-Fieber.
      Tove Ditlevsen: Die Kopenhagen-Trilogie. Kindheit; Jugend; Abhängigkeit. Aus dem Dänischen von Ursel Allenstein. Aufbau Verlag, drei Bände, Taschenbuchedition 36 Euro
    • Irland
      Ist das die nächste Sally Rooney? Nervige Standardfrage an junge irische Autorinnen und ihr Werk, also auch an Louise Nealon. Und gibt es da nicht auch Parallelen zur Starautorin: im Stoff, in der Vita? Das Abhandeln von Klassenunterschieden im Roman zum Beispiel, der Besuch des Trinity College Dublin in der eigenen Biografie. Wie es sich anfühlt, zwischen einer runtergerockten Farm auf dem Dorf und dem legendären College zu pendeln, das beschreibt Nealon in ihrem Debütroman „Snowflake“ – lässt ihre Protagonistin Deborah strauchelnd und in den falschen Klamotten durch dieses Spannungsfeld torkeln. Wie sie schreibt? Wuchtig und zart, witzig und bedrückend – im ganz eigenen Nealon-Ton.
      Louise Nealon: Snowflake. Aus dem Englischen von Anna-Nina Kroll. Mare-Verlag, 352 Seiten, 24 Euro
    • Spanien
      Es darf doch ein wenig Barcelona sein? Die zweite spanische Metropole hat schon was, etwas, das Schriftsteller Miqui Otero in seinem Roman "Simón" wunderbar eingefangen hat. Magie zum Beispiel, einen weltberühmten Fußballklub, vor allem aber diese lebensvollen Menschen. Wobei einen Otero aus der als magisch empfundenen Kindheit schnell wegführt hinein in eine geheimnisvolle Geschichte. Erst verfällt die Hauptfigur Simón der Literatur. Seine Romanhelden marschieren ihm kreuz und quer durchs Leben, nie wieder wird er sie verlieren, auch wenn ihn die Wirklichkeit einholt, sein Bruder einfach spurlos verschwindet und eine Lücke hinterlässt, er noch später in der Spitzengastronomie als Koch arbeitet und ihn seine Vergangenheit wieder einholt. Otero gelingt es da, nicht nur eine spannende Geschichte zu erzählen, sondern gleichzeitig auch ganz viel Barcelona festzuhalten, auch die Teile der Stadt, in die sich Touristen sonst nicht verirren.
      Miqui Otero: Simón; Aus dem Spanischen von Matthias Strobel. Klett-Cotta, 448 Seiten, 25 Euro
    • Portugal
      Die Franco-Diktatur hat es viel stärker ins allgemeine europäische Bewusstsein geschafft als die von Antonio Salazar im Nachbarland Portugal. Salazar musste keinen Bürgerkrieg im Land führen. Von 1932 bis 1968 lenkte er die Geschicke des Landes. Auch nach dem Ende seines diktatorischen Systems im Jahr 1974 erfreut sich Salazar großer Beliebtheit im Land. Die portugiesische Schriftstellerin Dulce Maria Cardoso greift in ihrem Roman "Eliete. Das normale Leben" die Salazar-Zeit auf. Der Roman erzählt die Familiengeschichte von Eliete, lässt die Leserschaft an ihrem inneren Monolog teilhaben, der sie mal ans Krankenbett ihrer Großmutter und dann auch wieder zurück in eigene Erinnerungen führt. Das Verhältnis von Mutter und Großmutter ist gespannt. Der Vater ist bei einem Unfall während der Nelkenrevolution ums Leben gekommen. Und Eliete lüftet durch Zufall ein Familiengeheimnis, das ihr Leben in ein anderes Licht setzt. Dazu zeichnet Cardoso ein unverstelltes Bild von Cascais, diesem beliebten Touristenort in der Nähe von Lissabon. Es gibt dort nicht nur die mondänen Hotels, sondern auch Viertel, in dem die armen Menschen leben. Lesenswert.
      Dulce Maria Cardoso: Eliete. Das normale Leben; Aus dem Portugiesischen von Steven Uhly. Secession Verlag, 280 Seiten, 24 Euro
    • Finnland
      Der Roman „Arctic Mirage“ von Terhi Kokkonen führt in die eisigen Schneelandschaften Finnlands – und eine Beziehung am Gefrierpunkt. Risto und Karo sind ein erfolgreiches Ehepaar und leisten sich Dinge, von denen andere nur träumen können. Auf der Suche nach ein wenig Erholung fliegen sie nach Lappland, um die Nordlichter zu sehen. Doch am Ende ihres Urlaubs hat das Paar einen Autounfall und strandet mit einigen kleinen Verletzungen in dem Berghotel „Arctic Mirage“. Dort wird schnell klar, dass nicht mehr viel Liebe zwischen den beiden herrscht. Risto ist davon überzeugt, dass Karo sich falsch an den Unfall erinnert und möchte das luxuriöse Hotel gar nicht mehr verlassen. Die Geschichte von Karo und Risto wird über ihren sechstägigen Aufenthalt im Hotel, in Rückblenden und aus den Blickwinkeln des Arztes Martti und der Hotelangestellten Sinikka erzählt. Sprunghafte, nicht greifbar Szenen machen den Anfang und bringen die grausame Wahrheit über den Unfall und die Geschichte des Paares schleichend ans Licht. „Arctic Mirage“ thematisiert Gewalt gegen Frauen und das Ausbrechen aus gesellschaftlichen und privaten Zwängen in einer einnehmenden Art und Weise, die wachrüttelt. Sehr verdient hat das Original in Finnland den Preis für den besten Debütroman gewonnen.
      Terhi Kokkonen: Arctic Mirage. Aus dem Finnischen von Elina Kritzokat. Hanser, 192 Seiten, 23 Euro
    • Österreich
      „Ein schönes Ausländerkind", so auch der Titel dieses Buchs von Toxische Pommes, war diese Ich-Erzählerin wohl. Angepasst, strebsam, blond und blauäugig. Aber halt immer noch eine, die nicht so richtig dazugehört zu der österreichischen Gesellschaft. Das wird ihr spätestens dann klar, als ihr Lehrer, der sie mit Bestnoten überschüttete, ihrer Mutter davon abrät, die Tochter aufs Gymnasium zu schicken. Ihren Ehrgeiz zur Anpassung hat das nicht gebremst. Sie geht aufs Gymnasium, studiert, ja promoviert. Im echten Leben ist Toxische Pommes, so das Pseudonym der Juristin, mit satirischen Beiträgen auf TikTok erfolgreich – nun auch mit ihrem Debüt als Schriftstellerin. Ihr autofiktionaler Roman „Ein schönes Ausländerkind“ erzählt böse und berührend zugleich die Geschichte einer Einwandererfamilie aus dem ehemaligen Jugoslawien, ihrer Familie. „Was hat uns Österreich gekostet?“, schreibt Toxische Pommes. „Meinen Vater seine Stimme, meiner Mutter ihre Lebendigkeit. Und mich? – Meinen Vater.“ Ist es das wert? Diese Frage zieht sich durch viele der Episoden. Toxische Pommes erzählt diese Geschichte mit entwaffnender Selbstironie, umwerfenden Witz und brutaler Aufrichtigkeit – eine unbedingte Lese-Empfehlung.
      Toxische Pommes: Ein schönes Ausländerkind. Zsolnay, 208 Seiten, 23 Euro
    • Schweden
      Was wäre Europa ohne die Schweden und ihre kühnen Kinderbücher? Frida Nilssons "Sasja und das Reich jenseits des Meeres" ist ein Beispiel dafür. Es fordert seine jungen Leserinnen und Leser heraus mit einem düsteren Thema, lässt sie in seiner dringlichen Sprache die Verzweiflung des Jungen Sasja direkt spüren, ebenso aber die kindliche Ausgelassenheit und die unbändige Freude am Spiel miterleben. Frida Nilssons Herr Tod ist ein bizarres Wesen, ein charmanter Galan, der aber im entscheidenden Augenblick seine Härte demonstriert. Sasjas kranke Mutter hat er eines Nachts zu früh zu sich geholt und nun reist der Junge hinterher in das Reich des Todes. Er will sie zurückholen, den Tod überlisten, so wie er es seiner Mutter versprochen hat. Dabei durchquert er drei Regionen, in denen er jeweils einen großartigen Freund findet, in denen er Aufgaben und Kämpfe zu bewältigen hat. Nilsson verwebt diese Erlebnisse in der Fantasiewelt mit den Wünschen, Gefühlen und Enttäuschungen in Sasjas realem Leben und spiegelt darin sein Wachsen und Werden. Damit wird aus dieser Geschichte, die so traurig und düster beginnt, ein packendes Abenteuer, das in einer großartigen Volte auch zu einem versöhnlichen Ende führt.
      Frida Nilsson: Sasja und das Reich jenseits des Meeres. Aus dem Schwedischen von Friederike Buchinger. Gerstenberg, 496 Seiten, 20 Euro, ab 11 Jahren
    • Lettland
      Nora Ikstenas 2015 erschienener Roman „Muttermilch“ hat sich zu einem Bestseller der lettischen Literatur entwickelt und ist in mehrere Sprachen übersetzt worden, auch ins Deutsche. Die Geschichte spannt einen Bogen vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis zum Fall der Berliner Mauer, konzentriert sich dabei auf drei Frauen in einer Familie, deren Konflikte mit der sowjetischen Staatsmacht und ihre komplizierten Beziehungen zueinander. Ikstenas Erzählung ist schonungslos, intim und ehrlich. Wie ein roter Faden zieht sich das zentrale Thema durch den Roman: Wie kann man vergeben? Die Tochter der Mutter, die ihre eigenen mütterlichen Instinkte verleugnet hat und das Kind erst einmal von der Großmutter hat aufziehen lassen? Wie sich befreien von ererbtem Leid? Über drei Generationen hinweg und in meisterhafter Prosa erzählt Nora Ikstena von dieser "Reise des Schmerzes“. Nora Ikstena: Muttermilch. Aus dem Lettischen von Nicole Nau. Klak-Verlag, 214 Seiten, 16,90 Euro
    • Litauen
      Einem düsteren Kapitel in der Geschichte Litauens, das durch den Ukraine-Krieg und die aktuelle Befürchtung der baltischen Republiken vor russischen Übergriffen neue Aktualität bekommen hat, widmet sich die Graphic Novel Sibiro Haiku von Jurga Vilé. Im Jahr 1941 werden in der Hauptstadt Vilnius der Junge Algis und seine Familie zusammen mit Tausenden anderer Litauer von sowjetischen Soldaten in ein Lager in Sibirien deportiert. Hunger, Eiseskälte, Tod und Grausamkeit bestimmen in den nächsten Jahren das Leben der Gefangenen. Unter unmenschlichen Bedingungen finden sie mit anderen Schicksalsgenossen zu einer Gemeinschaft, die sich mithilfe der Kunst über die hoffnungslose Situation hinwegsetzt. Algis´Tante hat ein Buch mit japanischen Haikus ins Lager geschmuggelt, die Algis zum eigenen Schreiben anregen, und die Gefangenen gründen einen Chor, der durch das gemeinsame Singen Trost und Kraft gibt. Mit dem "Zug der Waisen", der zumindest den Kindern ein Entkommen aus dem sibirischen Lager sichert, kann Algis mit anderen Kindern zurück in die Heimat. Jurga Vilé erzählt in einer poetischen und bildreichen Sprache, die sich der Grausamkeit des Geschehens entgegenstellt. Mit Bildern in gedeckten Farben, die eine historische Anmutung vermitteln, hat Lina Itagaki diese erschütternde und zugleich Mut machende Geschichte illustriert.
      Jurga Vilé, Lina Itagaki: Sibiro Haiku. Aus dem Litauischen von Saskia Drude. Baobab, 240 Seiten, 26 Euro, ab 13 Jahren
    • Polen
      Vorsicht: Dieser Roman enthält hanebüchene Kommentare über Frauen. Schwach, triebgesteuert, von geringer Geisteskraft, gesellschaftliche Schmarotzer ... Gesammelt hat die polnische Nobelpreisträgerin Olga Tokarczuk dafür bei einigen Großen vergangener Zeiten. "Sämtliche misogyne Ansichten in diesem Roman stellen Paraphrasen von Textpassagen folgender Autoren dar“, schreibt sie am Ende von „Empusion“ in der „Notiz der Autorin" und listet auf: Aurelius Augustinus, William S. Burroughs, Cato der Ältere, Bernhard von Cluny, Charles Darwin, Emile Durkheim, Henry Fielding, Sigmund Freud ... Wer sich von solchen Schauersätzen nicht abschrecken lässt, landet in einer wunderbaren und irrsinnigen Schauergeschichte im schlesischen Luftkurort Görbersdorf Anfang des 20. Jahrhunderts und beim lungenkranken Ingenieurstudent, der hier umgeben von toxischer Männlichkeit in ständig schlau daher palavernden Herrenrunden nicht nur gesund, sondern auch ein bisschen männlicher werden soll, bald von Ungeheuerlichem erfährt ... Woran das natürlich erinnert? An den großen Sanatoriumsroman eines anderen europäischen Nobelpreisträgers – auch den schultert Olga Tokarczuk sehr lässig in diesem brillanten und unterhaltsamen Roman, lässt die weiblichen Schreckgeister, die Empusen, frei!
      Olga Tokarczuk: Empusion. Aus dem Polnischen von Lisa Palmers und Lothar Quinkenstein. Kampa Verlag, 384 Seiten, 26 Euro
    • Slowakei
      In diesem Roman trennen sich viele Wege: die von Mann und Frau, von Kollegen, von Freundinnen, von Schwestern – und auch die zweier Länder. „Samtene Scheidung“, so hat die slowakisch-italienische Schriftstellerin Jana Karšaiová ihren Debütroman genannt, angelehnt an den Begriff der „Samtenen Revolution“, mit der die Auflösung der Tschechoslowakei als kommunistischer Staat begann und die zur Aufteilung in die Slowakei und die Tschechische Republik führte. Im Mittelpunkt des lässig erzählten Romans steht die junge Romanistik-Dozentin Katarina, die sich beim Kurzurlaub in ihrer Heimatstadt Bratislava mit alten Studienfreundinnen trifft, nachts beim untreuen Ehemann in Prag anruft, über Silvester nach Verona fährt, im Grunde also ein bisschen durch Europa irrt, bis sie schließlich ihr Leben neu sortiert – plötzlich ganz frei.
      Jana Karšaiová: Samtene Scheidung. Aus dem Italienischen von Ruth Mader-Koltay. Nonsolo-Verlag, 184 Seiten, 21 Euro

    • Slowenien
      Gibt es so etwas wie europäische Literatur? "Ich weiß es nicht. Aber wir lesen einander, wir übersetzen einander, wir kommen uns immer näher", sagt Drago Jancar, einer der bedeutendsten zeitgenössischen Autoren Sloweniens. Zuletzt erschien auf Deutsch sein Roman "Als die Welt entstand". Darin erzählt er von Maribor Ende der 1950er-, Anfang der 60er-Jahre, eine Gesellschaft im Umbruch, in der die einen die anderen misstrauisch beäugen, sei es wegen ihrer Herkunft, ihrer Vergangenheit, ihres Glaubens. Der junge Daniel versucht die widersprüchliche Welt zu verstehen, aber die ist ja schon bei ihm zu Hause nicht einfach zu begreifen: Der Vater ein Partisan, der sich mit alten Kameraden in die Vergangenheit träumt, war das schön, als man die Deutschen gejagt hat wie die Hasen, die Mutter wiederum gläubige Katholikin, die den Sohn heimlich taufen lässt. Unten im Haus wohnt die schöne Lena, die doch eigentlich mit dem braven Handwerker Pepi liiert ist, aber dem Gitarrenlehrer Ljubo nicht widerstehen kann. Wer ist gut, wer ist böse? Dieser Frage folgt der meisterhafte Roman, verknüpft mit einer Kriminalgeschichte. Schreibt Jancar: "Wenn im ersten Akt auf dem Tisch eine Kristallschüssel steht, wird sie im letzten zerschlagen."
      Drago Jancar: Als die Welt entstand. Aus dem Slowenischen von Erwin Köstler. Zsolnay Verlag, 272 Seiten, 26 Euro
    • Ungarn
      Ein 17-Jähriger streunt durch die Stadt, während seine Freundin einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen lässt, kauft sich ein Buch eines amerikanischen Dichters, aber nur weil ihm der Titel gefällt, bleibt vor einem Modellbau-Geschäft stehen, stellt einen Vergleich an: Ob der kleine Wehrmachtssoldat, der gerade eine Handgranate auf einen russischen Panzer wirft, so groß wohl wie ein zehn Wochen alter Embryo sein mag? Seinen Eltern hat er erzählt, er gehe zum Einkaufen, um die Lüge glaubhaft zu machen, bringt er eine neue Hose mit. Die fällt ihm nun Jahre später beim Aussortieren in seinem Kinderzimmer in die Hände. "Das Land der Jungen" heißt die Geschichte und sie ist titelgebend für den eben auf Deutsch erschienenen Erzählungsband des ungarischen Autors Dénes Krusovszky, in dem er über jene existenziellen Momente schreibt, nach denen das Leben unwiderruflich ein anderes ist. Wann ist ein Mann ein Mann? Der Schriftsteller, Lyriker, Radiomoderator, auch schon als ungarischer Jonathan Franzen gerühmt, erkundet Jungs- und Männerseelen, seht her, wie zerbrechlich.
      Dénes Krusovszky: Das Land der Jungen. Aus dem Ungarischen von Terézia Mora. Die Andere Bibliothek, 246 Seiten, 48 Euro
    • Rumänien
      Nicht nur die Hunde verstehen drei Sprachen in diesem Roman der rumänischen Schriftstellerin Ioana Pârvulescu, auch die Familie der Ich-Erzählerin Ana, die im Kronstadt (Brasov) der 60er-Jahre aufwächst, kennt mindestens so viele, wir sind schließlich im multiethnischen Siebenbürgen. Ana selbst ist noch klein, aber ihre Umgebung und die erwachsene Erzählerin geben den Episoden des Romans eine Tiefe über das Verständnis des Kindes hinaus. Ana will den Abriss der Nachbarhäuser aufhalten, den vielsprachigen Straßenhund vor dem Hundefänger retten. Die Mondlandung und amerikanische Serien im Fernsehen erlauben einen sonst verwehrten Blick über die rumänischen Grenzen hinaus. Die kindliche Verklärung des Erzählten löst das Grau und Grauen der kommunistischen Zeit so weit auf, dass man damit bis zurück in die verzweigte Vergangenheit der Familienmitglieder sehen kann. Der Leser des Romans "Wo die Hunde in drei Sprachen bellen" kann selbst entscheiden, ob er das Erzählte mit dem Fokus auf die enge Welt der kommunistischen 60er-Jahre oder in der Universalität des Menschlichen sieht.
      Ioana Pârvulescu: Wo die Hunde in drei Sprachen bellen. Aus dem Rumänischen von Georg Aescht. Zsolnay, 368 Seiten, 25 Euro
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