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Lesetipp: Covid, Krieg, Krisen: Der Dauerkrisenmodus stresst – doch es gibt Hoffnung

Lesetipp

Covid, Krieg, Krisen: Der Dauerkrisenmodus stresst – doch es gibt Hoffnung

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    Kriege, Krisen, Katastrophen: Viele Menschen fühlen sich erschöpft. Doch das muss nicht so bleiben.
    Kriege, Krisen, Katastrophen: Viele Menschen fühlen sich erschöpft. Doch das muss nicht so bleiben. Foto: stock.adobe.com

    ZU VIEL. GLOBALER STRESS. WELTGESCHEHEN. KRIEG. KRISEN. KATASTROPHEN. GEWALT. TERROR. INFLATION. KLIMAKRISE. SCHLECHTE NACHRICHTEN. PESSIMISMUS. GESCHREI. WUT. HASS. FRUST. LÜGEN. DESINFORMATION. VERZWEIFLUNG. UNZUFRIEDENHEIT. GRÄBEN. FRONTEN. AGGRESSION. DIE AMPEL. DIE OPPOSITION. DIE RECHTEN. DIE LINKEN. DIE BAUERN. DIE LOKFÜHRER. STREIK. NICHTS GEHT. BLUES ...

    Die Welt fühlt sich für viele Menschen gerade nicht gut an. Der Alltag erscheint als ein großer Moll-Akkord aus globalen, beruflichen und privaten Problemen. Für jeden ein wenig anders, aber Moll. Wohin man auch hört im Land, ob nah oder fern: Klagen, Unzufriedenheit, Probleme. Stress. Der gefühlte Fokus liegt auf dem Negativen, die positiven Momente, das Schöne, das Gute, das Glückliche, das Dur, das alles dringt nur schwer durch. Was ist eigentlich los mit der Gesellschaft? Welche Melodie spielt ein jeder und ein jede in diesem Orchester? Wie kommen wir wieder ins Dur?

    Inhaltliches und grafisches Glossar

    Die Komposition des Gesamttextes ist wie ein Stresszustand aufgebaut - –die Gedanken springen, daher gibt es auch thematische Sprünge, die wir grafisch darstellen. 

    TEXT IN GROSSBUCHSTABEN: Hier geht es um eine gesellschaftliche Betrachtung. 

    Normaler Text: Hier geben Fachleute Auskunft.

    Kursiver Text: Hier geht es um Selbstversuche.

    Stress: erhöhte Beanspruchung, Belastung physischer oder psychischer Art.

    Erschöpfung: durch übermäßige Anstrengung hervorgerufene Ermüdung.

    Burn-out: Syndrom des Ausgebranntseins, der völligen psychischen und körperlichen Erschöpfung.

    Resilienz: psychische Widerstandskraft; Fähigkeit, schwierige Lebenssituationen ohne anhaltende Beeinträchtigung zu überstehen. Quelle: Duden

    Einer, der diese Fragen beantworten kann, ist Klaus Hurrelmann. Seit vielen Jahren befasst sich der Professor an der Hertie School in Berlin mit dem Großen und Ganzen unseres Miteinanders, befragt Menschen, analysiert Trends und veröffentlich auch mit dem Allgäuer Jugendforscher Simon Schnetzer gemeinsame Studien. „Wir sind im Dauerkrisenmodus“, sagt er. Und gleich mal vorweg: Es gibt Hoffnung, wenn nämlich aktuell Tausende Menschen auf die Straße gehen, ihre Kräfte bündeln, aktiv werden, gegen rechts protestieren, Stop rufen. Warum? Dazu später mehr. 

    Pressure pushin’ down on me pressing down on you, no man ask for under pressure, that brings a building down splits a family in two, puts people on streets
    (Aus „Under Pressure“ von David Bowie und Queen, 1981)

    Bräuchte unsere Zeit einen Soundtrack, „Under Pressure“ würde sich anbieten. In dem Lied besangen einst David Bowie und Freddie Mercury, zwei der größten Rockstars der Musikgeschichte, den Druck, den Stress, der auf Menschen lastet und sie auf die Straßen treibt, Gebäude zum Einstürzen bringen und Familien auseinanderreißen kann. Altes Problem im neuen Jahrtausend also, der Beat geht direkt in den Kopf: Damm-damm-damm-da-da-da-damm. Als würde ihn der rosa Duracell-Hase aus der 1980er-Jahre-Werbung trommeln, bevor sein Akku leeeeer wird. 

    Anti-Stress-Selbstversuch – Fakirmatte:

    Mehr als 6000 kleine Plastikspitzen bohren sich in meinen Rücken. Der erste Gedanke: Schmerz lass nach, länger als drei Minuten halte ich das nicht aus. Dann, oh Wunder, weicht der Schmerz, der Rücken wird warm. Augen zu. Merke ich da etwa Entspannung? Kopf frei. Gleich auf Anhieb zehn Minuten geschafft. Rücken danach krebsrot, aber weniger verspannt. Der Körper fühlt sich irgendwie belebt an. Und irgendwie auch ein wenig stolz, das Akkupressur-Piksen geschafft zu haben. Nach ein paar Tagen freut man sich auf die 20 Minuten Mattenzeit.

    Eine Kette von Krisen ohne Erholungsphase

    Nicht abschweifen. Klaus Hurrelmann also. Im Sommer hatte er unserer Gesellschaft eine Art posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert. Symptome: mehr psychische Störungen, Aggressivität, politisch extreme Haltungen, Drogenmissbrauch und mehr Nutzung digitaler Geräte. Auslöser: die Kette von Krisen, die hinter uns allen liegt. Erst die für alle enorm belastende Coronazeit, als die überwunden war und alle dringend eine Erholungsphase gebraucht hätten, folgte der Angriff auf die Ukraine, was bei vielen Menschen wieder einen enormen Stress auslöste. Plötzlich war da wieder die Angst vor einem Atomkrieg, vor einer kalten Wohnung und auch davor, das Leben nicht mehr bezahlen zu können, weil durch die Inflation alles teurer wird. Angst essen Seele auf, sagt man. Hurrelmann erklärt es eher so: Angst, Unsicherheit und Ohnmacht sorgen für negativen Stress. Viel Stress führt auf Dauer zu Erschöpfung, oder, umgangssprachlich, zu: Akku leer. 

    Anti-Stress-Selbstversuch – Wärme:

    Lachen Sie jetzt nicht. Irgendwann mal gelesen, dass US-Wissenschaftler von der Universität in Madison und auch die Uni Freiburg herausgefunden haben sollen, dass sich eine Ganzkörperwärmebehandlung positiv auf die Stimmung auswirkt. Baden gegen Stress. So einfach.

    Dabei ist Stress an sich grundsätzlich nichts Schlechtes, findet Klaus Hurrelmann. Es handelt sich zunächst einmal um eine spannende Anregung, für die unser Körper auch ausgelegt ist. „Immer wieder was Neues, neue Perspektiven und interessante neue Einblicke, ganz überraschende Ereignisse – besonders junge Leute genießen das zum Teil, da ist was los, da passiert was“, sagt Hurrelmann. Wenn das allerdings ein Dauerzustand wird, dann fühlen sich alle gestresst. „In dem Stadium befinden wir uns gerade und es hält länger an als gedacht. Wir befinden uns auf einem Hochplateau des Stresses. Am Ende eines Plateaus kommt auch immer wieder ein Abgang.“ Oder anders ausgedrückt, gute Nachricht: Es wird wieder besser. 

    Anti-Stress-Selbstversuch – Kopf freispielen:

    Logik ist etwas Wunderbares. So klar, so pur. Sudoku ist Logik. Zahlen von 1 bis 9 in Quadraten räumen den Kopf auf. Zumindest für einen Moment. 1 bis 9 lassen keine Kapazitäten für andere Probleme übrig. Leider kein lang anhaltender Effekt. Aber etwas Ablenkung. Auch gut. Dasselbe bei Tetris: Der Computerspiel-Klassiker soll sogar Menschen mit posttraumatischen Belastungsstörung gegen Rückblenden helfen. Zur normaler Stressabwehr nur bedingt gut, weil a.) der Suchtfaktor hoch ist (wissen wir über 40-Jährigen seit Teenagertagen) und b.) die Gefahr besteht, dass die Balken abends im Bett vor dem inneren Auge weiter fallen und einen stressen.

    "Wir haben eine kräftige Resilienzhaut aufgebaut"

    Klaus Hurrelmann hat im Sommer unserer Gesellschaft eine Art posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert.
    Klaus Hurrelmann hat im Sommer unserer Gesellschaft eine Art posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert.

    Schon wieder abgeschweift, so ist das mit dem Stress. Wer drin steckt, dem erscheint der Alltag wie ein schnelles Ping-Pong-Spiel, nicht mehr wie Tennis mit den langen Ballwechseln: viele Entscheidungen und Gedankensprünge. Aber, es gibt, schon wieder eine gute Nachricht, einen Trainingseffekt. Auch beim Alltags-Ping-Pong. Deshalb schätzt Hurrelmann die Lage nun auch optimistischer als noch im Sommer ein: „So ein Dauerkrisenmodus trainiert und sorgt auch dafür, dass ich etwas wegstecken kann, wenn noch etwas obendrauf kommt.“

    Die Gesellschaft sei das neue Normal inzwischen gewohnt, die Menschen hätten beispielsweise gelernt, auf schlechte Nachrichten und schlimme Bilder zu reagieren: Sie filtern, blenden aus, schalten ab. Die Aufregung sei nur noch oberflächlich. „Jetzt sind wir imprägniert, inzwischen ist eine kräftige Resilienzhaut gewachsen, die die allermeisten Menschen schützt“, diagnostiziert Hurrelmann. Allerdings koste dieser Aufbau von Resilienz angesichts der Großkrisen viel Kraft. Die fehle dann im Kleinen. 

    ZU VIEL. PRIVATER STRESS. TERMINE. VERPFLICHTUNGEN. GEZUPFE. ENTSCHEIDUNGEN. 20.000 AM TAG. KLEINE. GROSSE. WICHTIGE. UNWICHTIGE. FÜNF FÜR EINE KAFFEEBESTELLUNG. 15, DAMIT DAS KIND ZUM KINDERGEBURTSTAG KANN. INKLUSIVE GESCHENK. IMMER AN ALLES DENKEN. KOPF VOLL. STREIT MIT DER FRAU. MIT DEM BESTEN FREUND. SMS. PLING. ERINNERUNGEN. SCHLECHTES GEWISSEN. ARBEITSLOS. KOSTEN. KONTO LEER. KONTO ÜBERZOGEN. KITA DICHT. BETREUUNG FEHLT. HOMESCHOOLING. ZERRISSENHEITSGEFÜHL. DÜNNHÄUTIG. LUSTLOS. HAMSTERRAD ... 

    Im Privaten kracht es gerade umso mehr

    Die Nervosität, die Gereiztheit und die Unsicherheit im Umgang miteinander sei gerade sehr hoch, stellt Hurrelmann fest. Für den Streit in der Nachbarschaft, für Konflikte mit Partner oder Partnerin, für die dauerhaften Auseinandersetzungen mit Kindern gebe es momentan keine Reserven mehr. „Das erweckt dann auch wieder den Eindruck, dass sich gar nichts geändert hat. Aber es hat sich was geändert. Wir sind, glaube ich, aus dieser ganz, ganz schlimmen Phase heraus, wo Menschen das Gefühl hatten, das ist doch kein Leben, so kann ich doch nicht weitergehen“, betont Hurrelmann. Nun müsse noch der Kraft-Tank aufgefüllt werden, um auch mit den Alltagsherausforderungen in den Alltagskrisen umzugehen. „Das kommt von allein, wenn die Resilienz genügend abschirmt“, sagt der Wissenschaftler. Wichtig sei, nun zu überlegen: „Was will ich, was kann ich, was bin ich, welche Kräfte habe ich?“ 

    Anti-Stress-Selbstversuch – Meditations-App:

    Achtsamkeit lernen, bewusstes Atmen, Gedanken ordnen, zur Ruhe kommen – Apps versprechen viel, wenn der Tag lang ist. Menschen aus dem Bekanntenkreis schwören auf digitale Meditationskurse. Also runtergeladen, angemeldet und los. Die Stimme des Sprechers klingt wie die eines Hypnotiseurs, nervt eher, als dass sie mich entspannt. Außerdem schickt mir der App-Anbieter dauernd Mails, versucht mich anzuspornen, finanziell wie zeitlich mehr Engagement auf der App zu zeigen, Rabatte, Entspannungsziele, tschakka, stresst mich. Kontraproduktiv. App wieder gelöscht – gutes Gefühl.

    Selbstwirksamkeit ist ein wichtiger Faktor beim Thema Stress. Man hat es ein Stück weit selbst in der Hand, wie schnell sich das Hamsterrad dreht, ob man hinausspringt. Hurrelmann zitiert die Theorie der Salutogenese. Demnach braucht es folgende drei Dinge, um ein gutes Leben zu führen: 1. Verstehbarkeit der Welt, 2. Handhabbarkeit der Herausforderungen, 3. Sinnhaftigkeit des Tuns. Gerät dieser Dreiklang aus dem Gleichgewicht, gerät die Gefühlswelt durcheinander. 

    Die einen verstehen die Welt nicht mehr, die anderen stehen auf

    Mit dem Modell lasse sich auch der Rechtsruck in Deutschland und auch anderen Ländern erklären, so Hurrelmann: Weil sie die Welt nicht mehr verstehen, sich ohnmächtig fühlen, wenden sich Menschen dem Populismus zu, der ihnen einfache Lösungen auf komplexe Probleme vorgaukelt. Der Bundesregierung empfiehlt er daher eine transparentere Krisenkommunikation, die großen Herausforderungen für die Gesellschaft klar und deutlich zu skizzieren, damit die Menschen besser verstehen und weniger vermuten. „Der Sinn des Lebens kann auch sein, mit Widrigkeiten, Anspannungen und einem sinkenden Wohlstand umzugehen“, sagt der Wissenschaftler. Also etwa auch auf die Straße zu gehen, wie es am Sonntag Tausende Menschen gegen rechts tun und wirksam werden wollen. Ein Zeichen für das Ende der kollektiven Erschöpfung? Der Ohnmacht? 

    Anti-Stress-Selbstversuch – Weglassen:

    Handy weg, null Alkohol – klingt so radikal wie einfach. Ist es beim Handy mitnichten, weil das Gerät ja nicht nur Nachrichtentransporter ist, sondern auch Alltagshelfer: Kochrezepte, Navi, Einkaufsliste, Übersetzer, Kamera, Stereoanlage, und ja, ein Telefon. Aber die Kommunikationsfunktion zumindest mal ein Wochenende lang runtergefahren. Keine Arbeitsmails gecheckt. Keine Weltnachrichten gelesen. Die Angst, etwas zu verpassen – gar nicht so wild. Die Technikfermate fühlt sich gut an. Null Alkohol hingegen gar kein Problem. Besserer Schlaf. Erholteres Aufwachen. So einfach wie erschreckend.

    Vom gesellschaftlich Großen ins individuelle Kleine. Was kann ein Mensch tun, seinen persönlichen Stress wieder in den Griff zu bekommen oder gar nicht erst in die Stressspirale zu gelangen? Damm-damm-damm-da-da-da-damm. Ab nach Hamburg. Dort lebt und arbeitet die Journalistin und Psychologin Mareike Makosch

    Die Journalistin und Psychologin Mareike Makosch schult Menschen, wie sie stressresilienter werden.
    Die Journalistin und Psychologin Mareike Makosch schult Menschen, wie sie stressresilienter werden. Foto: William Krause

    Sie schult Menschen, die mehr über Resilienz und Stressbewältigung lernen möchten. Das Thema Mentale Gesundheit wird immer populärer und spielt in einer verdichteten, schnelleren Arbeitswelt eine immer größere Rolle. Die Zahl der psychischen Erkrankungen steigt seit Jahren und Arbeitgeber überlegen sich inzwischen Präventivprogramme, wie sie ihre Mitarbeitenden stärken können, damit sie resilienter sind und nicht in den Burn-out rauschen. Eine Deloitte-Studie aus Großbritannien hat ergeben, dass sich eine Investition in die psychische Gesundheit des Teams fünffach bezahlt macht, weil Angestellte zufriedener sind, weniger ausfallen und auch seltener kündigen. 

    Anti-Stress-Selbstversuch – Stricken:

    Ich kann es nicht wirklich. Handarbeiten war mir in der Schule immer ein Graus. Immerhin durften wir TKKG-Kassetten hören. Aber die Endlosschleife von „Nadel unter die Schlaufe, Faden holen, durchziehen, abheben“ – diese Routine ist heute ungemein entspannend. Positiver Nebeneffekt: Schals in allen Farben und wer die Hände voll hat, kann nicht das Handy checken.

    Stress lässt sich im Kopf bekämpfen. Mareike Makosch zeigt in ihren Seminaren daher etwa den Trick der kognitiven Umstrukturierung. Der funktioniert so: Stress kann man immer von zwei Seiten betrachten: als das, was auf mich einwirkt, und wie ich darauf reagiere. Ich kann entweder was am Stressor selber machen oder ich kann schauen, wie ich selbst meine Reaktion darauf verändere. „Den Stressor zu verändern, hat man leider nicht immer in der Hand. Wie man dem Stressor begegnet aber schon“, erklärt die Psychologin. 

    Es geht darum, die Kontrolle zurückzugewinnen

    Anstatt also zu denken, „die Baustelle vor der Tür ist so laut“ lieber „halb so schlimm, ich kann versuchen, den Presslufthammer als einen Technosong zu interpretieren“ oder „gute Gelegenheit, mal spazieren zu gehen“. Es geht im Prinzip um gefühlte Kontrolle bei einem gefühlten Kontrollverlust. 

    ZU VIEL. ARBEITSSTRESS. AUFGABEN. MEETINGS. VIDEO-CALLS. KOLLEGE KRANK. PERSONALMANGEL. NULLRUNDE. KÜRZUNGEN. KEINE PAUSEN. KEINE LUFT. DEADLINES. ABLIEFERN. TO-DO-LISTEN. STECHUHR. SCHICHTARBEIT. NACHTARBEIT. HOMEOFFICE. WLAN GEHT NICHT. ÜBERSTUNDEN. MAILS DAHEIM. DAUERERREICHBARKEIT. KONKURRENZ. UNZUFRIEDENHEIT. MACHT. ÄRGER. FRUST. STIMMUNG MIES. JOBVERLUST. INNERE KÜNDIGUNG. MÜDIGKEIT. SCHLAFLOS. RÜCKEN. INNERE UNRUHE. ARBEITEN IM TRAUM. 24/7 PROBLEMWÄLZEN. LEER. GRÜBELN. KREISENDE GEDANKEN. ANGST. NERVOSITÄT. GETRIEBEN. AUSGEBRANNT …

    Stress ist also ein Stück weit Einstellungssache. Gedanken können Stress noch weiter verschärfen: Ich muss perfekt sein, ich muss bei allen beliebt sein, ich muss das alles allen recht machen. „Das sind so klassische Gedankenmuster, die dazu führen, dass eine normale Aufgabe, die auch bewältigbar wäre, unglaublich stresst, weil wir denken, es muss ja perfekt werden“, sagt Mareike Makosch und rät, diese Stress-Sätze zu hinterfragen. 

    Öfter mal daran denken, welche Probleme man schon gemeistert hat

    Muss es wirklich perfekt sein? Darf man nicht auch mal einen Fehler machen? Es sei auch völlig in Ordnung, auch mal schlecht drauf zu sein, zu weinen. „Diese negativen Emotionen haben ja eine Berechtigung, ich lerne ja etwas über mich, wenn ich sie zulasse. Die Frage ist, lasse ich mich von ihnen übermannen?“, erklärt Mareike Makosch. Als Kraftmacher-Gedanken empfiehlt sie, eine Heldenreise zu machen. In der Psychologie heißt so der Trick, Kraft aus einer persönlichen Erfolgsgeschichte zu ziehen, indem man daran denkt, wie man ein Problem gemeistert und daraus gelernt hat. Genau genommen wieder: Finde das Positive im Negativen.

    Anti-Stress-Selbstversuch – ASMR (Autonomous Sensory Meridian Response):

    Flüstervideos und Geräusche zur Entspannung, soll bei manchen Menschen funktionieren. Vor Jahren mal einen jungen Youtuber aus dem Ries interviewt, der Geld mit diesem Internettrend verdient. Seine Followerzahlen haben sich seitdem verzehnfacht, seine Videos scheinen anzukommen. Damals den Trend nicht nachvollziehen können. Nun, ein paar Jahre älter und auch etwas gestresster, noch ein Versuch: (flüster) hilft mir nicht, fühlt sich irgendwie albern an, aber lustig. Lachen ist ja gesund.

    Mareike Makosch warnt vor dem Selbstoptimierungstrend: „Da probiere ich alles aus und fülle mir wieder komplett jede Sekunde meines Lebens mit weiteren Terminen. Das wird uns nicht im Kopf die Möglichkeit geben, zur Ruhe zu kommen.“ Was also tun? Die Psychologin rät: Sich eine Pause gönnen, bis einem langweilig ist und der Zustand nervt. „Wir brauchen mehr Langeweile im Leben, weil Langeweile der Moment ist, in dem das Gehirn defragmentiert, in dem sich die Dinge wieder zusammenordnen und zusammenfügen“, erklärt Mareike Makosch. Also: 

    Anti-Stress-Selbstversuch – Langweilen:

    Nichts tun. Gar nichts. Einfach mal eine Stunde aus dem Fenster schauen, die Autos, die Vögel, die Passanten. Fühlt sich wie Alltagsmeditation ohne Atem- und Achtsamkeitsbrimborium an. Die Gedanken surfen durch den Kopf, aber ruhiger als sonst. Tut gut. Allerdings nicht einfach, sich so viel Zeit für Langeweile rauszuschnitzen im Familienalltag. Nein, ich bin nicht faul, ich betreibe Selbstpflege. Das Kind spielt Schlagzeug. Schluss mit Ruhe.

    Damm-damm-damm-da-da-da-damm. Guter Zeitpunkt für einen Ortswechsel. Von Hamburg nach Bayern, wo es neueste Erkenntnisse zum Thema „Gesunder Umgang mit digitalen Technologien und Medien“ gibt. Professor Jeffrey Wimmer, Medien- und Kommunikationswissenschaftler an der Universität Augsburg, hat im Rahmen der ForDigitHealth-Studie der Unis in Bamberg, Erlangen-Nürnberg, Würzburg und der Ludwig-Maximilians-Universität München vier Jahre lang geforscht, wie Menschen mit digitalem Stress in der Freizeit umgehen. „Das Arbeitsleben und das Privatleben entgrenzen sich immer weiter zueinander“, sagt Wimmer. Ursache sei: die Digitalisierung, die mobilen Medien, das mobile Arbeiten. 

    Der Medien- und Kommunikationswissenschaftler Jeffrey Wimmer ist Professor an der Universität Augsburg.
    Der Medien- und Kommunikationswissenschaftler Jeffrey Wimmer ist Professor an der Universität Augsburg. Foto: Jeffrey Wimmer

    Allerdings beiße sich da der Hund auch in den Schwanz: Die digitalen Medien sind Stressor und Hilfsmittel gegen Stress zugleich. Alte Probleme zu lösen, schafft wieder neue. Sein Team und er haben herausgefunden´: Beim digitalen Stress kommt es stark auf die Haltung an, zum Leben und wie wir Leben gestalten. „Das wirkt sich auch darauf aus, wie wir mit digitalen Medien umgehen“, sagt Wimmer. Der eine ist von Falschnachrichten im Netz gestresst, die andere lässt das kalt und hat dafür Angst, etwas zu verpassen, wenn sie das Smartphone aus der Hand legt.

    Dementsprechend unterschiedlich sind auch die technischen Lösungen für die Probleme. Gegen Stress durch zu viele Lügen und Desinformation können etwa Faktencheck-Angebote helfen, gegen zu viel Weltgeschehen Zeitbeschränkungsapps, Wimmer und Co haben zahlreiche Stressreduzierungsapps getestet. Was bei der Studie zudem deutlich wurde: Digitaler Stress ist nicht nur eine individuelle Sache, er hat auch Auswirkungen auf die Menschen im Umfeld. 

    Anti-Stress-Selbstversuch – Bewegung:

    Etwas Zeit nehmen, losspazieren. Frische Luft, Wind um die Nase, nichts müssen, sich einfach nur durch den Raum bewegen. Joggend oder spazierend, egal. Bewegung gilt als körpereigenes Wundermittel gegen Stress und Erschöpfung. Im Wald oder am Fluss ist das alles noch schöner, weil gleich auch noch die Augen und Ohren entspannen, weniger Reize auf sie einprasseln. Und jetzt, wo wir Gestressten mal unter uns sind (wer bis hierhin gelesen hat, muss gestresst sein, wer hält bei dem Thema sonst so lange durch), verrate ich ihnen: Baum umarmt. Sehr gegrinst. Schönes Gefühl.

    In der Natur tankt übrigens auch Hurrelmann Kraft. Zum Schluss noch einmal eine gute Nachricht aus Berlin: Der Gesellschaftsforscher schätzt, dass es in den nächsten sechs Monaten einen Kipppunkt in den Köpfen geben wird, in die Richtung: „Das war eine schreckliche Phase, aber in Wirklichkeit geht es uns ja gut und wir haben doch wirklich eine wahnsinnige Menge von sehr unangenehmen Krisen bewältigt.“ Vielleicht ist dieser optimistische Satz hier sogar schon ein winziger Impuls für eine gesellschaftliche Heldenreise, ein winziger kleiner Anfang vom Ende des Dauerstress-Hochplateaus, wer weiß?

    MEHR. PAUSEN. ICH–ZEIT. NEIN-SAGEN. GENUG-SAGEN. STOP-SAGEN. POSITIV DENKEN. LACHEN. LOBEN. LANGEWEILE. KOPF AUFRÄUMEN. HANDY AUS. RUHE. UND JA, TEXT FERTIG, STRESS BEWÄLTIGT, FEIERABEND, WIRKLICH … 

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