Neben dem Bling-Bling der Kardashian-Schwestern, im Schatten der 40-Meter-Jacht der Familie Geiss und der Roten-Teppich-Roben von Heidi Klum, also hinter all diesem Reichtum der zur Schau gestellten Üppigkeit, existiert ein Paralleluniversum des Luxus. Schöner wohnen, nach Art der Wikinger. Bedeutet: Eine Edelhütte im Norden. Ein mit Segeltuch bespanntes Sofa vor dem offenen Kamin, dazu eine Steinvase mit wohldrapierten Stängeln Schilf und in der Mitte des Raumes ein grauer Felsbrocken zur Deko. Das ist das Wohngefühl, das Paul seinen Kunden bietet – er ist Inneneinrichter und die Hauptfigur im neuen Roman von Christian Kracht. Dass Kracht den Stil der Zeit zerpflückt, ist nicht neu. Das pflegt er seit „Faserland“, 1995, als er die Champagner-Depression der Sylt-Urlauber analysierte. Jetzt schreibt der Schweizer wieder eine Stilkritik der Gegenwart – die plötzlich in die Fantasiewelt einer Sage überschwappt. In ein Märchen aus Stein.
Der Roman „Air“ spielt mit dem skandinavischen Minimalimus
Die erste Ebene des Romans „Air“ lässt sich noch leicht erklären. Paul lebt seinen Traum. Er wohnt an der Küste Schottlands und sorgt dafür, dass sich Menschen überall zuhause fühlen können – wenn sie es sich leisten können. Er ist Dekorateur für Häuser, die zum Verkauf stehen. Er richtet ein Blockhaus in Schweden ein, dann ein Cottage auf den Shetlandinseln, „kurz darauf folgte ein aus Brettern gezimmertes
Foragingrestaurant auf den Faröern mit nur einem einzigen Tisch für sechs Personen, nur einer akzeptierten Reservierung pro Abend und nur einem Gericht auf der Karte, das aus zusammengesammelten Moosen bestand und aus windgefaultem, übel riechendem Kabeljau“. So schmeckt diese Welt, in der man mit nichts und noch weniger den letzten, wahren Luxus markiert. Paul täuscht mit jedem Einrichtungselement eine gelebte Geschichte vor, eine Illusion von schon bewohntem Raum.
Und dann erreicht ihn ein Brief von „Kuki“, einem „Schöner Wohnen“-Magazin für Bohemiens. Der Auftrag, den die Magazin-Redakteure an ihn richten, klingt märchenhaft: Er soll sie in Norwegen besuchen, um dort das perfekte Weiß zu entwickeln. Paul zögert nicht und erfährt erst vor Ort, frisch gelandet, was zu tun ist: Die Räume eines riesigen Rechenzentrums sollen im perfekten Weiß gestrichen werden – ein Ort, an dem Daten aus abertausenden Smartphones zusammenlaufen. Bilder, Videos, halbe Lebensgeschichten. Tabula rasa also, nur blankes Weiß an der Wand um die Datenströme. Doch dann geraten Zeit und Raum außer Kontrolle.
Zeit und Raum geraten in Krachts Roman „Air“ durcheinander
In der Welt der Gegenwart schlägt ein Blackout ein. Stromausfall im Rechenzentrum, die Lichter gehen aus und Paul verschwindet spurlos. In einer ganz anderen Welt steigt dafür eine Rauchwolke am Himmel auf und Paul erscheint plötzlich in dieser neuen Sphäre. Die Antwort auf das „Warum?“ spart sich Kracht komplett. Warum mehr verraten? Die weite Steinwüste, die sich als Landschaft in dieser neuen Fantasiewelt ausbreitet, lässt viel hübschen Raum für die Interpretation. Für das große Rätsel. Und ist das Fantasy oder schon Science Fiction? Eine von vielen Frage, die Kracht offen lässt.
Diese Fantasiewelt ist in zwei Klimazonen gespalten. In der einen grünt der Wald, hier gibt es Holzhütten, heilende Farne und Gemüsesorten, die Kracht frei erfindet. Hier landet Paul und wird prompt angeschossen. Ildr, ein im Wald alleingelassenes, kluges Mädchen, will einen Hirsch erlegen, erwischt aber den fremden Mann mit dem Pfeil. Sie pflegt ihn gesund, eine Freundschaft keimt langsam und mit wenigen Worten zwischen den beiden auf. Aber es droht Gefahr, der Herzog des Landes jagt nach dem neuen Unbekannten. Auch Ildr fragt sich: Was weiß Paul? Was erzählt er da von drei Dimensionen? Von menschengebauten Flugapparaten? Was ist das für ein Sehglas auf seiner Nase?
Minimalistische Eleganz, maximales Mysterium: „Air“ von Christian Kracht
Ildr und Paul fliehen in Richtung Südmeer. Die Bäume werden kahler und seltener, Waldboden weicht Stein, bald blanken Felsplatten. Die Helden frieren und hungern in einer Landschaft, die in der anderen Welt noch als Vorlage für einen Designertraum taugte. Erst eine fremde Frau kann sie retten und führt sie in die Welt der Felsenhöhlen. Hier lebt eine Kommune von Menschen, die im Mangel an Natur alles miteinander teilen – und den Herzog fürchten. Unerwartet taucht jetzt auch der Chefredakteur von Kuki wieder auf in der Geschichte. Wie die Ritter der Tafelrunde reiten sie in die Schlacht, Paul und der Redakteur geben ein Bild ab wie der Ritter Lancelot und der Zauberer Merlin. Exakt wie auf dem alten Ölschinken, der in der anderen Welt noch in Pauls Designer-Hütte hing.
Christian Kracht erzählt diese verrückte Geschichte in so kieselglatten Sätzen, das der Roman ohne Mühe über 215 Seiten fließt. Und mit diesem Trick führt er die Leser auf eine Fährte, die im Rätsel endet. Das gehört zur Marke des Autors: Ein neuer Kracht schlägt ein im Buchmarkt und die Deutungen schießen ins Kraut, Krachtjünger drehen jeden Satz dreimal um, um ihn zu verstehen. Kritisiert er den Kommunismus – in seiner Beschreibung der Kommune in der kargen Steinlandschaft? Oder ist der Roman eine Fortsetzung der alten Artussage, verpackt in einen Designerkatalog? Und warum zitiert Kracht auch Astrid Lindgren – „Die Brüder Löwenherz“, eine Erzählung um Leben und Tod? Minimalistische Eleganz, maximales Mysterium.
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