Plötzlich ist sie da, die Seuche. Übergesprungen aus dem Labor eines Infektiologen. Ausgerechnet Rudolf Iwanowitsch Mayer, der schon so weit war mit der Entwicklung eines Impfstoffs, sollte ihr erstes Opfer werden. Aber zunächst hat ihn das Volkskommissariat für Gesundheit nach Moskau zum Rapport bestellt. Und das Unheil nimmt seinen Lauf. Ljudmila Ulitzkaja erzählt nicht aus der Gegenwart, sondern sie dreht in dem Filmszenario „Eine Seuche in der Stadt“ die Uhr um 90 Jahre zurück in die Zeit, als Stalin in der Sowjetunion sein Terrorregime etabliert hatte.
Ljudmilla Ulitzkaja bezieht sich auf ein tatsächliches Ereignis aus dem Jahr 1939
Die große, russische Schriftstellerin bezieht sich auf ein tatsächliches Ereignis aus dem Jahr 1939. Sie erzählt in vielen kleinen Szenen, wie sich das Drama allmählich aufbaut – schleichend unter nichts ahnenden Menschen. Angefangen bei Anna Kilim, der heimlichen Geliebten von Mayer, über den schiefgesichtigen Gänsezüchter im Zugabteil und den Barbier im Hotel Moskwa, der dem bereits heftig hustenden Infektiologen bei der Rasur eine Schnittwunde verpasst, bis zu Oberst Pawljuk, der als strammer Apparatschik das Volkskommissariat beaufsichtigt.
Kurze Blitzlichter leuchten in den sowjetischen Alltag
Es sind zum Teil nur kurze Blitzlichter, die in den sowjetischen Alltag der vielen einbezogenen Personen leuchten. Etwa die Bemerkung der überzeugten Kommunistin Ida Grigorjewna, dass die intellektuellen Freunde ihres alten Vaters leider ideologisch „entartet“ waren und deshalb bei den Prozessen „ausgemerzt“ werden mussten. Oder Jelena Jakowlewna, eine übrig gebliebene, ehemalige Aristokratin. Oder die vergnügungssüchtige Tonja Sorin mit ihrem falschen Zopf.
So bunt die Moskauer Gesellschaft auch ist, die drohende Seuche wird sie alle gleichmachen. Ulitzkaja erlaubt sich allerdings den Spaß, dass ausgerechnet der „Sehr Mächtige Mann mit georgischem Akzent“ ziemlich begriffsstutzig ist. Mit Saboteuren weiß er kurzen Prozess zu machen. Aber mit Pesterregern? In der Unterredung mit dem nervösen Gesundheitskommissar lautet sein Beschluss: „Gut! Wir helfen. Bei den Listen und auch bei der Liquidierung.“ Seine Leute wissen schon, wie man verdächtige Personen einsammelt und isoliert …
Zehn Jahre ohne Recht auf Briefwechsel - der Code für Todesstrafe
Die „schwarzen Raben“ schwärmen aus. An vielen Wohnungstüren schrillt zu nächtlicher Stunde die Glocke. In der Stalinzeit wusste man, was das zu bedeuten hat: sofort mitkommen, ohne irgendwelche Erklärungen. Das weitere Schicksal? Ungewiss. Vielleicht „zehn Jahre ohne Recht auf Briefwechsel“? Das Codewort für die Todesstrafe.
Längst haben Angst und Opportunismus die Köpfe vergiftet. Jederzeit kann es auch dich treffen. Der NKWD wütet in der Bevölkerung mindestens so geräuschlos und unberechenbar wie die Pest. Erklärungen werden nicht gegeben. Im Gegenteil: Vorfälle werden offiziell vertuscht und beschwiegen. Stumpf gewöhnen sich die Leute daran, dass aus ihrer Mitte ab und an jemand verschwindet. Am Ende dröhnt die Marschmusik mit voller Kraft. Und Bezirksarzt Kossel beruhigt seine Frau: „Dina, es war die Pest. Nur die Pest!“ Geschenkt, dass der Arzt Alexej Iwanowitsch Shurkin im Augenblick des glimpflichen Ausgangs der Seuche abgeholt wird …
Ljudmila Ulitzkaja spart nicht mit Sarkasmus in ihrem Szenario. Ausgerechnet der gefürchtete stalinistische Geheimdienst verhindert die Ausbreitung der Pest mit seinen effizienten Maßnahmen, Menschen aus dem Verkehr zu ziehen. Bereits 1978 schrieb sie dieses Filmskript als eine Parabel, dass menschengemachte Terror-Epidemien allemal das schlimmere Unglück als eine Seuche sind. Die Corona-Pandemie verleiht dem Text brisante Aktualität. Wie stark wird die Seuche unser Miteinander verändern? Die Frage ist offen.
Ljudmila Ulitzkaja: Eine Seuche in der Stadt. A.d. Russ. von Ganna-Maria Braungardt. Hanser, 112 Seiten, 16 Euro. Hier geht es zur Leseprobe.
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